Jenůfa an der Opéra national du Rhin (c) document recu
In Straßburg ist ein Triumvirat dafür verantwortlich, dass Jenůfa, eine der bekanntesten Opern von Leoš Janáček gespielt wird. Die Geschichte jenes Mädchens, das seine Schwangerschaft verstecken muss, weil das Kind unehelich ist und das durch großes Leid geht, um am Ende ein happy-end zu erleben. Marc Clémeur, Direktor der Opéra national du Rhin, holte sich die bereits an seinem vorigen Tätigkeitsort Antwerpen zur Aufführung gebrachte Inszenierung in die elsässische Hauptstadt. Mit Robert Carsen (Regie) und Ian Burton (Dramaturgie) stehen Marc Clémeur dabei zwei Herren zur Seite, die schon für die erste Inszenierung in der Opéra national du Rhin unter Clémeurs Federführung verantwortlich zeichneten. Auch mit Richard III, von Giorgio Battistelli, wurde eine Arbeit vorgelegt, die einerseits durch ihre feinfühlige psychologische Textinterpretation, als auch ein gelungenes Bühnenbild überzeugte und zuvor schon in Antwerpen reüssierte.
Die Oper des tschechischen Komponisten basiert auf einem Roman von Gabriela Preissová aus dem Jahre 1891. Ihr war damals vorgeworfen worden, das Drama zu nahe an Tolstois Werk „Die Macht der Finsternis“ angelehnt zu haben. Doch neben den psychologischen Charakterdarstellungen, die tatsächlich ähnliche Muster wie bei Tolstoi aufweisen, brachte sie auch den Konflikt der unterschiedlichen Nationalitäten ins Spiel. Ein Thema, das im Österreichischen K&K-Reich unter den Nägeln brannte. Der Titel des Werkes „Aus dem mährischen, ländlichen Leben“, macht deutlich, wo Preissová ihr Stück angesiedelt hatte. Auch Janáček selbst war ein glühender Verfechter des tschechischen Nationalstaates, was er durch einige weiterer Werke, wie z.B. seiner Sinfonietta, zum Ausdruck brachte.
In Straßburg hingegen verzichtete Carsen ganz bewusst und zurecht auf diese einengenden Beschreibungen und wählte für seine Jenůfa einen unbestimmten, nicht weiter beschriebenen Ort, wenngleich er die ländliche Umgebung andeutete. In seiner Version könnte das Stück jedoch genauso gut irgendwo in Europa als auch in Amerika angesiedelt sein, was klar zum Ausdruck bringt, dass er nicht vorhat, sich einem nationalen Thema anzunähern, sondern sich vielmehr auf die menschlichen Dramen zu konzentrieren, die darin vorkommen. In allen drei Akten bedeckt dunkle, braune Erde die Bühne, in einer Schräge leicht angehoben, artifiziell wie es das Theater einerseits verlangt, natürlicher als natürlich, wie es eigentlich nur auf dem freien Land erlebbar wird. Ob trockener, staubiger Erdboden oder, wie im letzten Bild, leicht angefeuchteter, er steigt, zumindest in den vorderen Reihen, dem Publikum immer leicht in die Nase. Keineswegs unangenehm – vielmehr fühlt man sich dadurch – wie auch die Protagonisten des Stückes – im wahrsten Sinne des Wortes „erdverbunden“. Gleich zu Beginn zeigt Carsen überdeutlich, wie sehr er die einzelnen Charaktere unter das Seziermesser gelegt hat. Seine Großmutter, Menai Davies, ist eine Großmutter eines Typs, der vom Aussterben bedroht erscheint. Korpulent, leicht gebeugt, mit dicken Stützstrümpfen in runden, bequemen Schuhen und mit einer Haushaltsschürze ausgestattet, die das darunterliegende, bequeme Arbeitskleid vor Flecken schützen soll. Eine Großmutter, wie ich sie selbst noch erleben durfte, fern ab von jeglichem zeitgeistigen Schönheitswahn, der heutigen älteren Frauen Kasteiung und eine fortwährende sportliche Aktivität abverlangt, die noch keine Generation alt ist. Beinahe könnte man Carsen Mut zur geriatrischen Hässlichkeit bescheinigen, läge in dieser Figur nicht so eine große Portion Liebenswürdigkeit, die Davies auch in ihrem Spiel tapfer durch alle Querelen beibehält.
Auch die anderen Charaktere glänzen nicht durch prächtige Gewänder oder kunstvolle Frisuren. Einfach, ja fast ärmlich bekleidet, wie es in den 30er und 40er Jahren im ländlichen Raum üblich war, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als durch ihre Persönlichkeit zu bestechen. Laca, Jenufas nicht blutsverwandter Cousin, schnitzt zu Beginn zornig mit einem stumpfen Messer an einer Weidenrute und man hat Angst, er würde über den Bühnengraben springen und sein Messer an unschuldigen Menschen benützen, wie er es ja kurz darauf bei seiner von ihm angebeteten, aber für ihn scheinbar unerreichbaren Jenůfa macht. Er, der sich im Laufe der Handlung vom Saulus zum Paulus wandelt und auch Jenůfas Herz gewinnt, steht exemplarisch für Carsens Figuren, die er wie durch ein Brennglas zeichnet. Ihre Ängste, ihr Zorn, ihr Stolz und ihre Hilflosigkeit sind eingebettet in ein Umfeld, das ihnen soziale Restriktionen auferlegt, an denen sie entweder reifen, oder denen sie schlussendlich nicht gewachsen sind. Kein sentimentaler Kitsch kommt auch nur in einer einzigen Sekunde auf, keine liebliche Verklärung eines “ach so schönen Landlebens”. Vielmehr folgt Carsen exakt Preissovás Intention, die Brutalität der realen Gestalten samt ihren Nöten, Abgründen aber auch Hoffnungen aufzuzeigen.
Die Küsterin, Jenůfas Stiefmutter, die ihr in der Oper selbst den Hauptrang streitig macht, wird durch Nadine Secunde nicht nur schauspielerisch extrem brillant wiedergegeben, sondern sie steht mit ihrem kraftvollen und zugleich warmen Sopran musikalisch auch an der Spitze des Ensembles. Ihre Gestik und Mimik, die sie vor allem auch während des Gesanges meisterlich einsetzt, sind so überzeugend, dass man versteht, dass sie Jenůfas uneheliches Kind von Steva aus Verzweiflung umbringt, obwohl sie Jenůfa über alles liebt. Einer ihrer Hauptbeweggründe, die Schande des unehelichen Kindes nicht über ihre Tochter, zugleich aber auch nicht über sich hereinbrechen zu lassen, wird besonders in jener Szene deutlich, in welcher der Bürgermeister mit seiner Frau bei ihr zuhause eintrifft, um bei der Hochzeit Jenůfas und Lacas dabei zu sein. Die Herablassung der Bürgermeisterin, die peinliche Beschau der Brautausstattung machen deutlich, dass das gesellschaftliche Korsett, in dem diese Gemeinschaft lebt, so eng geschnitten ist, dass es den Menschen die Luft und den Verstand raubt.
Was in dieser Inszenierung darüber hinaus auch besonders deutlich wird, ist, dass die Religion, an die sich die Frauen so klammern, sowohl als Übel als auch als Erlösung zum Einsatz kommt. Ganz so, wie es die jeweilige Befindlichkeit verlangt. Der Fluch Gottes und seine unergründlichen Wege, die die Küsterin für sich selbst als Ausrede für den Säuglingsmord konstruiert, wiegt schwer. Die Anrufung der Jungfrau Maria, bei der Jenůfa ihre berührendste Arie singt, in der sie um Hilfe für ihr Kind bittet, funktioniert hingegen als Seelenerleichterung. Der heraufziehende Gottesverlust des 20. Jahrhunderts wird gerade in dieser Inszenierung mehr als plausibel gemacht. Zu hart steht das reale Leben, hervorgerufen durch bewusste, grausame, menschliche Akte im Vordergrund, als dass dafür religiöse Entschuldigungen und Erlösungen akzeptiert werden können. Wenngleich die beiden Hauptprotagonistinnen in keiner Art und Weise in ihrem Glauben wankend wirken.
Jenůfa, gesungen von Eva Jenis, bleibt von Beginn bis zum Schluss das unschuldige Mädchen, das jederzeit bereit ist jenen zu vergeben, die ihr Böses angetan haben. Sie akzeptiert die Liebe als Entschuldigung für einen Kindsmord genauso wie für die Entstellung ihres Gesichtes durch Laca, der ihr die Wange in rasender Eifersucht aufschnitt. Rein und klar zeigt sich auch Jenis Sopran, im schönen Gegensatz zu ihrer Stiefmutter. Ein Kennzeichen einer besonders glücklichen Hand bei der Rollenbesetzung, die Marc Clémeur in dieser Saison schon mehrfach unter Beweis stellte. Wenngleich man in den ersten Minuten große Ohren machen musste, um die Sänger und Sängerinnen gut zu hören, denn die quer über die Bühne aufgestellten Türblätter hielten einen nicht unerheblichen Teil des Schalles davon ab, in den Publikumsraum zu strömen. Erst als diese Bühnenbildversatzstücke abmontiert worden waren, wurde die Akustik erheblich besser. Gerade diese Requisiten symbolisieren jedoch eindringlich die Enge und Bedrängung, der sich Jenůfa, aber auch alle anderen Beteiligten ausgesetzt sehen. Mal fungieren sie als räumliche Abgrenzung, mal als bedrohliche Instrumente, die sich gegen die vermeintliche Kindsmörderin, als der Jenůfa dargestellt wird, richten. Erst als diese Laca ihr Herz gänzlich öffnet und auch er bereit ist, gegen jede Konvention mit ihr zusammenzubleiben, verschwinden diese Begrenzungen und lassen das Liebespaar auf der freien Bühne durchatmen.
Steva, das psychologische Leichtgewicht des Librettos, das durch seine verantwortungslose Handlungsweise so viel Unglück über Jenůfa bringt, ist neben der Küsterin der große Verlierer in diesem Spiel. Fabrice Dalis bleibt in dieser Rolle bis zum Schluss ein auf seinen Vorteil bedachter junger Lebemann, der seinen eindrucksvollsten Auftritt absolviert, als er für seinen Fehltritt mit Jenufa ihrer Stiefmutter Geld anbietet. Er hat keine anderen Mechanismen, keine anderen menschlichen Möglichkeiten, um sich seines Fehlverhaltens zu entledigen. Sein untadeliger Tenor hat eine weichere Färbung als jener von Peter Straka, der damit schärfer und prägnanter seinen Halbbruder verkörpert, der durch Leid wächst und nicht kleiner wird.
Das Glück, das so zahlreich wie Tropfen eines Regens sein soll, das die Dorfmädchen vor der Hochzeit Lacas und Jenůfas besingen und das sie dann doch so abrupt verlässt, diese Glück ergießt sich schlussendlich doch über die beiden. Es kommt in Form eines in einer 2er Reihe wohl geordneten Wolkengusses, der reinigt, heilt und der trockenen Erde am Boden neues Leben verspricht.
Eine symbolträchtige Inszenierung, voll von klugen Verweisen und Verschränkungen, deren musikalische Umsetzung durch das OPS, das Orchestre philharmonique de Strasbourg, unter der Leitung von Friedemann Layer, mit der Regie absolut kongruent geht. Trocken, hart und aufwühlend agierte der Klangkörper, der die erste Fassung Janáčeks aus dem Jahre 1904 spielte. Ohne beschwichtigende Pausen zwischen den unterschiedlich gefärbten Übergängen, einzig im Finale warme Glücksgefühle verströmend, zeigte Layer, was Werktreue bedeuten kann. Selbst das Geigensolo, das Jenůfas Gebet begleitet, wirkte nicht verkitscht, sondern nur klar und rein. Eine kluge, wohl durchdachte Umsetzung des Notenmaterials, das Janáček so nahe am Wort postierte, dass man streckenweise den Text gar nicht bräuchte, um dem Geschehen folgen zu können.
Abschließend ist noch das überaus gut gemachte Programmheft zu erwähnen, das nicht nur eine Überfülle an unterschiedlichen Beiträgen anbietet. Vor allem die eindringlichen Photos, die nicht das Bühnenbild wiedergeben, lassen der Phantasie freien Lauf und verstärken jene emotionalen Momente, die in der Oper so berühren.