Die größte Bedrohung der Menschheit geht nicht von Erdbeben und Tsunamis aus, auch nicht von skrupellosen Politikern, raffgierigen Managern oder finsteren Verschwörern, sondern von einer einzigartigen, weltumspannenden, alle Dimensionen sprengenden RIESENBLÖDHEIT! Wer’s nicht glaubt, ist schon infiziert.
Die Dummheit – sie ist die große Konstante der menschlichen Geschichte, die einzige Weltmacht, die seit Jahrtausenden Bestand hat : Könige, Päpste und Präsidenten kamen und gingen, Gesellschaften entstanden und zerfielen, Wahlprogramme wurden geschrieben und vergessen – die Dummheit blieb. Revolutionen konnten ihr ebenso wenig anhaben wie Naturkatastrophen, Weltkriege oder Finanzkrisen. Zwar gab es immer wieder hoffnungsvolle Ansätze, das Zusammenleben der Menschen vernünftiger zu gestalten, doch solche Experimente waren selten von Dauer. Die mächtige Internationale der Doofen, der Engstirnigen, der ewig Gestrigen, der hoffnungslos Zurückgebliebenen kehrte schon bald wieder zurück ans Dirigierpult der Geschichte und gab den debilen Takt vor, nach dem die Verhältnisse zu tanzen haben.
John Adams, der zweite Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, beklagte bereits im 18. Jahrhundert : »Während alle anderen Wissenschaften vorangeschritten sind, tritt die Regierungskunst auf der Stelle ; sie wird heute kaum besser geübt als vor drei- oder viertausend Jahren.« Daran hat sich wenig geändert. Noch immer fallen die Leistungen in der Politik weit hinter dem zurück, was Menschen auf anderen Gebieten erreicht haben.
Doch warum ist das so? Könnte es sein, dass die Politik hinter den Wissenschaften und Künsten geistig zurückbleibt, weil sie den geistig Zurückgebliebenen besondere Entfaltungsmöglichkeiten bietet? Es dürfte nicht schwerfallen, Politiker zu finden, an deren Beispiel man eine solche These erhärten könnte. Dennoch zielt sie an der Realität vorbei : Denn die »Macht der Doofen« beruht nicht auf individuellen Minderbegabungen (die in der Politik – so fair sollte man sein – nicht häufiger auftreten als im Bevölkerungsdurchschnitt), sondern auf kollektiven Denkschwächen : Politisch wirksam ist Dummheit nur, wenn sie epidemische Ausmaße annimmt, wenn der Irrsinn so allgegenwärtig ist, dass er als solcher nicht mehr zu erkennen ist.
Das ist, Mensch sei’s geklagt, der Normalfall. Friedrich Nietzsche brachte es auf den Punkt : »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« Das Vertrackte an diesem »ganz normalen Wahnsinn« ist, dass man ihn in der Regel nur erkennt, wenn man aus einer zeitlichen oder räumlichen Distanz heraus urteilt. Denn wir alle sind Gefangene der kulturellen Matrix, in die wir hineinsozialisiert wurden. Und so erscheint uns unsere eigene, gegenwärtige Kultur im Allgemeinen recht vernünftig. Doch ist sie es wirklich? Sind wir wirklich so viel klüger als die Menschen der Vergangenheit, oder trägt unsere Dummheit bloß andere Gewänder? Werden künftige Generationen uns »gebildete Zivilisationsmenschen« vielleicht mit dem gleichen mitleidig-verstörten Blick mustern, mit dem wir Heutigen auf jene zurückschauen,
die einst überzeugt davon waren, dass sie die zornigen Wettergötter mithilfe von Menschenopfern gnädig stimmen müssten? Sind wir womöglich genauso verbohrt, genauso vorurteilsbeladen, genauso engstirnig wie sie? Wen opfern wir? Und
aus welchen Gründen?
Leider gibt es keine rote Pille, die man schlucken könnte, um aus der wahnhaften Matrix auszusteigen. Es bedarf schon einiger Denkanstrengungen, um auch nur einen kleinen Teil der zeitbedingten Mythen zu überwinden, die wir allesamt mit uns herumtragen. Dies allein dürfte bedauerlicherweise ausreichen, um einen Großteil der Menschen zeitlebens in der vorgefundenen Matrix festzuhalten. Denn wer setzt sich schon gerne Denkanstrengungen aus – außer vielleicht beim Lösen von Kreuzworträtseln?
Arthur Schopenhauer meinte, die tiefe Abneigung gegen geistige Anstrengung sei ein typischer Wesenszug unserer Spezies: »Die große Mehrzahl der Menschen ist so beschaffen, dass ihrer ganzen Natur nach es ihnen mit nichts Ernst sein kann als
mit Essen, Trinken und sich Begatten.« Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist das verständlich: Warum auch sollte der Mensch sein ressourcenintensives Denkorgan über Gebühr strapazieren, wenn sich solcher Ressourcenverbrauch augenscheinlich gar nicht lohnt? Schließlich zogen diejenigen, die es wagten, der kulturellen Matrix zu entfliehen, nur selten Vorteile aus dem übermäßigen Gebrauch der Vernunft.
Erschreckend viele Vordenker der Menschheit wurden zu Lebzeiten nicht geachtet, sondern geächtet, wurden verlacht, verfolgt, verhaftet, verbannt oder gar bei lebendigem Leibe verbrannt. Zwar hat sich seit dem mörderischen Treiben der Inquisition vieles geändert – der eherne Zusammenhang von Macht und Dummheit ist aber erhalten geblieben. Noch immer gilt: Die herrschende Dummheit ist stets auch die Dummheit der Herrschenden.
Deshalb gerät derjenige, der sich gegen die öffentliche Vernunft (sprich: den gerade geltenden Konsensus der Dummheit) auflehnt, unweigerlich in Konflikt mit den Hütern des Status quo. Wer aber will es sich schon verscherzen mit den hochdekorierten Repräsentanten des Staates, der Gesellschaft, der Religion? Zeigt die Erfahrung nicht, dass derjenige, der die Dummheiten entlarvt, am Ende selbst der Dumme ist? Muss man es nicht fast schon als ein Zeichen von »Klugheit« begreifen, dass sich die meisten Menschen lieber anpassen und alle fünf gerade sein lassen, auch wenn dabei die Logik Schaden nimmt?
Nicht ohne Grund heißt es: »( Nur ) Kinder und Narren sagen die Wahrheit.« Auch in Hans Christian Andersens klugem Märchen »Des Kaisers neue Kleider« ist es nicht zufällig
ein Kind, das sich traut, die Wahrheit auszusprechen, vor der sich alle anderen zunächst drücken. Dass der Kaiser nackt ist, dass die Repräsentanten der Macht einem einzigartigen, grotesken Schwindel aufsitzen, ist eine Einsicht, die viel zu groß, viel zu
erschreckend ist, als dass vernünftige Erwachsene zu ihr gelangen könnten. Freies Denken ist, wie es scheint, nur möglich, wenn man die Zwangsjacke der Konvention entweder noch nicht angelegt hat – wie das Kind in Andersens Geschichte – oder wenn man sie abgelegt hat und in den Augen der Welt zum Narren geworden ist.
Als Narr, der sich der Zwangsjacke entledigt, genießt man sprichwörtliche Freiheit – allerdings um den Preis, nicht mehr ernst genommen zu werden. Sei’s drum: Manchen Menschen steht die Narrenkappe besser als der Professorenhut.
Und so werde ich mir hier die Narrenfreiheit erlauben, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, auch wenn ich dadurch alle Chancen verspiele, in die Liga der ernst zu nehmenden Gentlemen aufgenommen zu werden. Dass mir dies schnuppe ist, hängt mit einem gewissen kindlichen Trotz zusammen, der sich selbst im fortgeschrittenen Alter nicht ausgewachsen hat: Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn die Leute behaupten, der Kaiser sei gekleidet, obwohl er offensichtlich nackt ist. Ich habe es satt, von Politikern, Religionsführern, Wirtschaftsweisen, Medienleuten – ja, selbst von Philosophen – Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag die ewig gleichen inhaltsleeren, nichtssagenden Phrasen zu hören. Und mir dreht sich der Magen um, wenn ich mit ansehen muss, wie diese angeblich so intelligente Spezies jeder noch so kruden Wahnidee nachläuft.
Dabei halte ich mich keineswegs für besonders intelligent, ich glaube auch nicht, auf alle Fragen, die in dieser Streitschrift angesprochen werden, die richtigen Antworten zu wissen. Doch ich bin Narr genug, so lange an meinen Positionen festzuhalten, bis mir bessere Argumente vorgelegt werden. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich deshalb davon aus, dass unsere sogenannte Hochkultur nicht nur die technologischen Potenziale der Menschheit in ungeahnte Höhen schraubt, sondern auch die menschliche Dummheit. Und genau das macht die gegenwärtige Weltlage so ungemein gefährlich: Wenn Spitzentechnologie und Spitzenidiotie aufeinandertreffen, sind die Folgen in der Regel katastrophal !
Man braucht kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass wir uns die »Macht der Doofen« auf Dauer nicht leisten können. Im Grunde genügt es, die Welt mit den unvoreingenommenen Augen eines Kindes zu betrachten. In Andersens Märchen brachte ein einzelnes Kind, das in die »dummen Spiele der Erwachsenen« nicht eingeweiht war, den gesamten Hofstaat des Irrsinns zu Fall. Ich wünschte, seinem Beispiel würden mehr und mehr Menschen folgen. Immerhin hat uns die Evolution mit einem erstaunlich komplexen und wandlungsfähigen Denkapparat ausgestattet. Wir sollten beginnen, ihn auf intelligentere Weise zu nutzen …
[aus dem Vorwort der Taschenbuchausgabe von Michael Schmidt-Salomons "Jenseits von Gut und Böse" - zitiert nach Piper-Verlag, online]