Nach dem Tod seiner Eltern kehrt Maximilian Graf Dörnberg aus Amerika zurück, um sein Erbe anzutreten, das jedoch hauptsächlich aus Arbeit besteht. Max krempelt die Ärmel auf, selbst wenn er sich manchmal fragt, für wen …
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Maximilian Graf Dörneberg wischte seine Hände an den Arbeitshosen ab und zog seine Stiefel aus, um auf Strümpfen die von Emma gebohnerte Diele zu durchqueren. Emma, die alte Köchin und Haushälterin, die schon bei seinen Eltern gearbeitet hatte, war längst in ihr kleines Haus im Dorf zurückgekehrt. Auf dem Tisch stand sein Nachtmahl bereit, und während er mit Appetit ass und ein Glas Landwein dazu trank, meditierte er wieder darüber, dass sein Erbe hauptsächlich aus nicht enden wollender Arbeit bestand. Tagsüber was er der Direktor der kleinen Porzellanmanufaktur, die sein Grossvater gegründet und sein Vater mehr schlecht als recht weitergeführt hatte, nach Feierabend fungierte er als Maurer, als Stallknecht für seinen Rappen Hektor, als Gärtner für den weitläufigen Park – wenn er nicht die Axt schwingen musste, weil Emma Scheite für den grossen Kamin im Wohnzimmer brauchte …
Nach dem Tod seiner Eltern vor zwei Jahren hatte sich herausgestellt, dass fast kein Barvermögen mehr vorhanden war. Was die Manufaktur abwarf, reichte zum Leben, aber nicht, um das Schloss und den Park instand zu halten. Dafür besass Max nur seine Arme, die zum Glück kräftig waren, mit denen er aber nur das Schlimmste verhindern konnte. Und das alles für wen? Er hatte keine Nachkommen. Die Frau, die er liebte, hatte einen anderen geheiratet. Er wunderte sich, dass er nicht alles längst verkauft hatte und nach Amerika zurückgegangen war. Zumindest, dachte er mit grimmigem Humor, als er endlich im Bett lag und die schmerzenden Glieder streckte, brauchte er kein Schlafmittel, um gut zu schlafen …
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Am nächsten Morgen meldete seine Sekretärin: “Herr Graf, Frau Kretschmer ist da.”
“Bitte, lassen Sie sie eintreten.”
Die Mappe mit den Entwürfen, die die junge Keramik-Modelleurin ihm vor zwei Wochen spontan zugeschickt hatte, lag aufgeschlagen vor ihm. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, eine Modelleurin zu engagieren, denn das Porzellan der Dörneberg-Manufaktur wurde nach alten, traditionnellen Mustern hergestellt, aber diese Entwürfe hatten ihn derart beeindruckt, dass er die junge Frau gebeten hatte, sich vorzustellen.
Olivia Kretschmer, 23 Jahre jung, grüne Augen, kupferrote Mähne, schlank, mit Rundungen an den richtigen Stellen und endlos langen Beinen, betrat sein Büro. Max, der zu ihrer Begrüssung aufgestanden war, starrte sie fassungslos an: “Angelika”, sagte er kaum hörbar.
Olivia hatte es gehört und lächelte ihm zu: “Ich weiss, ich sehe meiner Mutter sehr ähnlich.”
“Ihre Mutter ist Angelika Schöller?” fragte er ungläubig.
Sie nickte. “Schöller ist ihr Mädchenname. Es war ihre Idee, dass ich Ihnen meine Entwürfe schicken sollte. Sie meinte, dass die Dörneberg-Manufaktur etwas frischen Wind gebrauchen könnte.” Olivia sah den hochgewachsenen Mann mit dem aristokratisch geschnittenen Gesicht und den zwingenden blauen Augen aufmerksam an. Sie hatte sich den Grafen nicht so breitschultrig, so … erdnah vorgestellt. Aber so, wie er war, gefiel er ihr. Er gefiel ihr sehr.
Max hatte sich gefasst: “Nehmen Sie doch bitte Platz, Fräulein Kretschmer.” Er hoffte, dass sie nicht merkte, welch ein Chaos der Gefühle in ihm herrschte. Wie in einem Zeitraffafilm zogen die Bilder an ihm vorüber. Angelika, die Tochter des Werkmeisters, und er, der zukünftige Graf, kannten sich von Kind auf. Sie streiften zusammen durch die Wälder, ritten miteinander aus, lasen und lernten in der Bibliothek des Schlosses, in der es im Winter so kalt war, dass sie sich in Decken hüllen mussten.
Dort hatten sie ihren ersten, scheuen Kuss ausgetauscht. Aber wusste er zu der Zeit so genau, was er wollte? Das ganze Leben lag vor ihm. Nach dem Abitur studierte er Volkswirtschaft, Angelika machte ihrerseits eine Ausbildung im Hotelfach. Als Max promoviert hatte, gaben seine Eltern ein Fest für ihn, zu dem auch Angelika kam. Sie hatten sich seit fast drei Jahren nicht gesehen, und ihre Schönheit raubte Max den Atem. Den ganzen Abend tanzte er nur mit ihr. Jetzt wusste er, dass er keine andere wollte als sie. Später gingen sie in den Park hinaus. Eine Nachtigall sang ihr süsses Lied, als er ihr seine Liebe gestand und sie bat, seine Frau zu werden. Angelika hatte ihn lange angesehen: “Max, dein Vater ist Graf, meiner Werkmeister.”
“Ist ein Graf weniger wert als ein Werkmeister?”
“Andersherum, du Quatschkopf!” Sie lachte, aber ihre schönen Augen füllten sich mit Tränen.
Er küsste jede einzelne fort. Eng umschlungen sanken sie ins Gras. Nichts zählte mehr ausser ihnen und ihrer Liebe …
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Am nächsten Morgen hielt Max bei ihrem Vater um ihre Hand an. Werkmeister Schöller nahm sich Zeit für die Antwort. Endlich sagte er: “Die Absicht, meine Tochter zu heiraten, ehrt Sie, Herr von Dörneberg, aber das ist unmöglich.”
“Wieso unmöglich? Und warum siezen Sie mich auf einmal, Herr Schöller? Früher haben Sie Max und ‘du’ gesagt.”
“Früher war früher, und jetzt ist jetzt. Und Sie können meine Tochter nicht heiraten, weil sie heute früh abgereist ist.”
“Abgereist? Wohin?”
“Sie hat mich gebeten, es Ihnen auf keinen Fall zu verraten, Herr von Dörneberg.”
“Aber warum?” Max glaubte, den Verstand zu verlieren.
Der Werkmeister sah ihn fast mitleidig an: “Max, das Schloss und das Dorf, das sind nun einmal zwei verschiedene Welten.”
“Welch ein Unsinn”, war Max aufgefahren, “so etwas gilt doch heute nicht mehr!”
“Mehr, als Sie glauben. Schlagen Sie sich Angelika aus dem Kopf. Sie werden einmal eine Frau aus Ihren Kreisen heiraten.”
Max konnte seine Wut, seinen Schmerz kaum zügeln. Er hatte getobt, gedroht, aber Angelikas Vater war standhaft geblieben. Max begriff schliesslich, dass er die Würde des Werkmeisters verletzte. Er hatte sich verabschiedet und war hinausgestürmt.
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Lange Monate hatte er gehofft, ein Lebenszeichen von Angelika zu erhalten. Vergeblich. Dann hörte er, dass sie geheiratet hatte. Er ging nach Amerika, weit fort vom Ort seiner persönlichen Tragödie. Er hatte dort reiche Erbinnen kennengelernt, die bereit waren, es sich viel kosten zu lassen, ihr Briefpapier mit einer Grafenkrone schmücken zu können. Keine von ihnen gewann sein Herz. Und jetzt sass Angelikas bezaubernde Tochter vor ihm …
“Ihre Entwürfe gefallen mir”, sagte Max nun. “Und ich denke, wie Ihre Mutter, dass Sie ein grosser Gewinn für die Manufaktur sein werden.”
“Heisst das, … dass Sie mich einstellen?” Sie errötete vor Freude.
“Wenn ich Sie bezahlen kann. Nennen Sie mir doch bitte Ihre Forderung.”
Sie nannte eine Summe, die ihr hoch vorkam, selbst wenn sie ihr gerechtfertigt schien.
“Das werden wir uns gerade eben noch leisten können”, schmunzelte er, “zumal ich Ihre Einstellung als eine ausgezeichnete Investition betrachte.”
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Olivia wurde bald zur Seele der Manufaktur. Wenn sie nicht über ihren Skizzen sass oder ihre Gipsformen herstellte, war sie überall im Werk anzutreffen, wo sie sich für die Arbeit der anderen interessierte. Sie beeindruckte alle mit ihrem Fachwissen, bezauberte sie mit ihrer Schönheit, ihrem Temperament, ihrer natürlichen Herzlichkeit. Nach dem überwältigenden Erfolg ihrer ersten Modelle auf der Fachmesse wurde die ganze Manufaktur von einer Welle kollektiver Begeisterung getragen.
Olivia hatte ein kleines Haus im Dorf gemietet und machte oft lange Spaziergänge im Wald. Manchmal begegnete Max ihr auf seinen Ausritten. Dann stieg er ab, um sie höflich zu begrüssen. Er fühlte sich auf geheimnisvolle Weise zu der jungen Frau hingezogen, ohne dass er wusste, ob es an etwas anderem lag als an ihrer frappierenden Ähnlichkeit mit Angelika.
Die Auftragbücher waren jetzt voll. Max hatte die Gehälter aufgebessert und neue Einstellungen tätigen können, was im Dorf grosse Freude auslöste. Sechs Monate nach Olivias Eintritt in die Firma bat Max sie in sein Büro, beglückwünschte sie zu ihrem Erfolg und bot ihr eine Gewinnbeteiligung an.
Olivia bedankte sich mit einem Lächeln, dann biss sie sich auf die Lippen: “Ich hab ein Problem. Mein Verlobter ist Ingenieur für Verfahrenstechnik. Er hat ein Jahr bei einem Onkel in Australien gearbeitet und möchte nun gern nach Deutschland zurückkommen, damit wir heiraten können, aber er hat bis jetzt trotz seines ausgezeichneten Diploms und seiner Auslanderfahrung keine Stelle gefunden. Dagegen kam ein verlockendes Angebot aus Japan. In Japan gäbe es auch Arbeit für mich …”
“Kommt nicht in Frage!”, raufte Max sich komisch die Haare. “Wir können es uns nicht leisten, Sie zu verlieren, Olivia, ausserdem können wir einen Verfahrenstechniker gut gebrauchen. Er soll sofort seine Unterlagen schicken!”
“Danke”, strahlte Olivia und sah aus, als würde sie ihm am liebsten um den Hals fallen.
Max räusperte seine Rührung fort. Oder war es Enttäuschung? “Sie werden also bald heiraten?”
“Ja, Niels ist eine Jugendliebe. Wie meine Mutter und Sie. Meine Mutter hat es mir erzählt. Sie müssen wissen, dass mein Vater vor drei Jahren gestorben ist. An einem Herzinfarkt. Viel zu früh, er war noch so jung …”
Max sass ganz still da. Erst langsam drang in sein Bewusstsein vor, dass Angelika Witwe und somit frei war. Aber gleich darauf schämte er sich. Vielleicht hatte sie ihren Mann sehr geliebt, mehr als ihn, Max, und trauerte noch um ihn?
Leise fuhr Olivia fort: “Mutti ist im Augenblick bei mir zu Besuch.”
Alles Blut strömte zu seinem Herzen: “Bitte, machen Sie mir doch beide die Ehre und die Freude, morgen Abend im Schloss meine Gäste zu sein.”
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Vor dem Kamin, in dem des kühlen Abends wegen ein Feuer brannte, stand der mit altem Familiensilber und kostbarem Dörneberg-Porzellan gedeckte Tisch. Als es an die schwere Holztür klopfte und Max öffnete, weil Emma in der Küche beschäftigt war, stand Angelika jedoch allein davor. Beide konnten den Blick nicht voneinander lösen. In Angelikas flammendes Haar mischte sich wie ein Hauch von Silber, aber ihre grünen Augen blickten immer noch heiter und klar. Und sehr, sehr bewegt.
“Wie schön du bist”, sagte er andächtig.
“Du siehst auch fabelhaft aus, Max.” In seinem alten Smoking wirkte er beeindruckend vornehm.
“Olivia lässt sich entschuldigen, sie wollte, dass wir diesen Abend allein verbringen”, fuhr sie fort.
“Sie ist sehr einfühlsam”, lächelte er und reichte ihr zeremoniös den Arm, um sie zum Tisch zu führen. “Wenn Emma die Vorspeise aufgetragen hat, geht sie nach Hause, und wir kümmern uns um den Rest, ist dir das recht?”
“Das ist doch selbstverständlich, ich erinnere mich noch so gut an Emma!”
Er füllte zwei Kelche mit Champagner und hob sein Glas: “Auf deine wunderbare Tochter.”
“Auf unsere wunderbare Tochter”, berichtigte sie ihn sanft.
Max sass da wie vom Donner gerührt, und sie fuhr leise fort: “Erinnerst du dich an das Fest, an die Nachtigall im Garten, an alles, was folgte? Wenn du dir Olivias Geburtstdatum aufmerksamer angesehen hättest, hättest du es selbst erraten können.”
“Du willst sagen …”. Dann brach es aus ihm heraus: “Warum bist du damals verschwunden?”
Sie sah ihn unendlich zärtlich an: “Ich möchte, dass du weisst, dass es die schönste Nacht meines Lebens war, die Erfüllung all dessen, was ich seit Jahren herbeigesehnt hatte. In dem Augenblick wollte ich nicht nachdenken, nicht vorsichtig sein. Ich war auch gar nicht dazu imstande. Aber am nächsten Morgen kam mein Verstand zurück. Natürlich wusste ich da noch nicht, dass ich schwanger war, Max. Ach, wie hätte das denn gut gehen können mit uns beiden? Deine Eltern hätten eine Verbindung zwischen uns nicht gutgeheissen, und meinen Vater hätte sie auch unglücklich gemacht. Er war der Werkmeister deines Vaters. Als dein Schwiegervater hätte er sich unwohl gefühlt. Aber wie hätte ich dir das erklären sollen? Du warst ein solcher Hitzkopf, wolltest immer mit dem Kopf durch die Wand. Mir blieb nur die Flucht. Verzeih mir, bitte. Es hat weher getan als alles, was ich je erlebt habe, aber es gab keine andere Lösung. Ich fand eine Stelle in einem Hotel im Schwarzwald. Der Koch, Paul Kretschmer, verliebte sich in mich. Er heiratete mich, obwohl ich schwanger war, und ich habe es nie bereut, ‘ja’ gesagt zu haben. Ich hätte mir keinen besseren Mann und Olivia keinen besseren Vater wünschen können. Als er starb, habe ich aufrichtig um ihn getrauert.”
Max strich über ihre Hand: “Ich bin ihm Dank schuldig.” Nach einer Pause fragte er: “Weiss Olivia, dass ich ihr biologischer Vater bin?”
“Wir werden es ihr morgen zusammen sagen, wenn du möchtest.”
“Das Essen ist fertig”, rief Emma und trug gleich darauf ein meisterhaft gelungenes Soufflée auf. “Fräulein Olivia ist nicht gekommen?” fragte sie enttäuscht.
“Emma, Olivia ist meine und Angelikas Tochter, stell dir vor”, sagte Max.
“Ja mei …” , Emma schlug die Hände über dem Kopf zusammen und strahlte über das ganze Gesicht: “Und jetzt sitzen Sie beide hier zusammen. Nach all den Jahren, die so traurig waren. Aber ich will nicht schwatzen, und ich sage auch nichts weiter.”
“Bald können Sie es, Emma”, lächelte Angelika. “Im Augenblick weiss Olivia es selbst noch nicht.”
Die alte Frau band die Schürze ab. “Ich geh jetzt also. Alles andere steht in der Küche. Und – es wäre so schön, wenn Sie endlich miteinander glücklich werden könnten.”
Nach dem köstlichen Essen, nachdem sie beide die Küche aufgeräumt hatten, gingen sie Hand in Hand in den Park hinaus: “Hör”, flüsterte Angelika, “die Nachtigall. Unsere Nachtigall.” Sie wandte Max ihr schönes Gesicht zu, und wieder musste er ihre Tränen fortküssen, aber es waren Tränen des Glücks …
ENDE