Wenn die DDR eine andere geworden wäre…

DDR_Fahne
Was haben Soldatenräte, Grundsicherung, Entmilitarisierung oder die Übernahme von Fabriken durch Arbeiter mit dem Mauerfall zu tun? Für Herbert Mißlitz eine ganze Menge. „Doch die Linke im Westen hat damals nicht erkannt, welche historische Chance sie hatte“, sagt der Historiker, Osteuropa-Wissenschaftler und ehemalige Mitarbeiter in der DDR-Volkskammer. Während eines kleinen Zeitfensters – von Anfang 1989 bis März 1990 – sei die Umsetzung eines tatsächlich demokratischen Sozialismus in der DDR möglich gewesen. „Diese Chance ist aber durch mangelnde gesamtpolitische Verantwortung verspielt worden“, meint der gelernte Stukkateur. Bis auf wenige Ausnahmen seien keine West-Linken in den Osten gereist, um ihre Genossen zu unterstützen. Mißlitz, gebürtiger Ost-Berliner, gehört zu  den Akteuren im damaligen Aufbruch. Er verweigerte den Wehrdienst, organisierte unabhängige Bildungszirkel und schloss sich den „Gegenstimmen“ an. Beim Jour Fixe der Hamburger Gewerkschaftslinken legte er seine Version der Wende dar.

Von Kerstin Völling

Er ist ein Schnellsprecher. Er kann in 90 Minuten ganze Bücher erzählen. Das macht es nicht immer leicht, ihm zu folgen. Zumal er gern ergänzt. Etwa durch Einschübe. Die müssen sich dann auch nicht zwangsläufig auf der gleichen Zeitschiene befinden. Egal. Die Leidenschaft bricht nun mal durch. Die Leidenschaft eines Aktivisten. „Wir glaubten, die DDR sei reformierbar, die BRD aber nicht“, erklärt Herbert Mißlitz. Und wer ihn jetzt in die „Ewig-Gestrigen“-Ecke stellt, ist zu vorschnell. „1987 sprachen sich alle, wirklich ALLE oppositionellen Gruppen in der DDR für den Sozialismus aus.“ Da hat er recht. Denn wenn er „1987“ sagt, meint er den ersten „Kirchentag von unten“. Der entstand in Berlin, und zwar durch die Besetzung der Pfingstgemeinde-Kirche am Kotikowplatz. „Wir haben uns dort getroffen, weil auch die christlichen Gruppen mittlerweile die Nase voll davon hatten, dass ihre Kirchenleitung vor der SED immer wieder in die Knie ging.“ Zuvor war die Evangelische Kirche so etwas wie ein Zufluchtsort für Staatskritiker geworden. „Die SED-Führung akzeptierte einen gewissen Freiraum, soweit es sich um innerkirchliche Diskussionen handelte“, erklärt Mißlitz. Unabhängige Blätter wie der „Friedrichsfelder Feuermelder“ entstanden.Was sprachlich und thematisch nicht so ganz genau in den Rahmen passte, wurde passend gemacht: „Christen wie Marianne Birthler etwa waren zwar auch obrigkeitstreu. Birthler aber teilte uns mit, wie wir etwas formulieren mussten, damit es nicht der Zensur zum Opfer fiel.“ Direkten Kontakt habe seine Gruppe zu Rolf Reißig gehabt.

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Herbert Mißlitz in Hamburg, November 2014.

1987 aber war nun die traditionelle Friedenswerkstatt abgesagt worden. Das brachte das Fass zum Überlaufen. „Allerdings hatten wir nicht mit soviel Andrang in der Pfingstgemeinde gerechnet. Bei 6000 Besuchern platzte das kleine Gebäude aus allen Nähten. Da haben wir dann noch zusätzlich die Galiläa-Gemeinde in der Rigaer Straße besetzt.“ Die Besetzungen seien von den Pastoren mehr oder weniger geduldet worden. Drei Tage lang habe es in den Gotteshäusern deshalb eine pulsierende Mischung aus Politik, Kultur und Musik – auch Punkmusik – gegeben. „Das war der Startschuss für das Netzwerk, aus dem später dann die Bürgerrechtsgruppen entstanden“, sagt Mißlitz. Ziel sei damals gewesen, eine Form der politischen Analyse ohne ideologisches Korsett zu finden. „Und da gab es ganz verschiedene Ansätze. Trotzkisten, Spartakisten, Ökologiegruppen mischten sich. Aber auch christliche Sozialisten waren dabei, die in der DDR stark vertreten waren.“ Manche von denen hätten gar behauptet, Martin Luther sei ein Sozialist gewesen.

Der nächste Meilenstein für die Ost-Opposition folgte mit der Berliner Anti-IWF-Aktionswoche im September 1988. Mißlitz: „Da gab es auch Geschichtskreise und Arbeitsgruppen, in denen wir mit SED-Genossen über Glasnost und Perestroika offen diskutiert haben.“ Einige hätten die These vertreten: „Glastnost ja, Perestroika nein.“ Es habe gar Treffen mit Leuten aus dem Umfeld des Politbüros gegeben. „Merkwürdigerweise schätzten die schon damals das sozialistische Potential in der DDR geringer ein als wir.“ Am Ende der Woche habe es erstmalig eine konzertierte Aktion mit einer gemeinsamen Erklärung von Ost- und Westgruppen gegeben. „Die Mauer wurde immer löchriger“, beschreibt Mißlitz. Aus dem Großteil der unterzeichnenden Ost-Gruppen sei dann später die Vereinigte Linke entstanden, die auch zu den Volkskammerwahlen angetreten sei. Kontakte zu Westgruppen wie etwa den Autonomen und der Antifa festigten sich. „Wir hatten schon konkrete Perspektiven entwickelt, wie etwa eine Grundsicherung oder ein Rätesystem innerhalb Volksarmee“, sagt Mißlitz. Er selbst war Ende der 70er Jahre in Untersuchungshaft genommen worden, weil er mit der Begründung, die Volksarmee sei mit ihrer hierarchischen Struktur keine Arme des Volkes, den Wehrdienst verweigert hatte. Das mag in der Retrospektive zunächst abenteuerlich klingen. Doch ein Bericht des NDR zeigt, wie weit die Umsetzung der Rätestrukturen in der Volksarmee zur Wendezeit schon fortgeschritten war. „Kurz nach dem Mauerfall herrschte eine Art Anarchie in der DDR. In Leuna sind wir in die Betriebe gegangen und haben die Arbeiter aufgefordert, die Unternehmen zu übernehmen.“ Eine ernüchternde Erfahrung. „ Die Leunawerke befanden sich in einem erbärmlichen Zustand. Wasser trat durch die Wände ein, und die Arbeiter mussten beispielsweise Quecksilberrückstände mit bloßen Händen wegkarren.“ Einer der Arbeiter habe zu ihm gesagt: „Bringt das erst einmal in Ordnung. Dann können wir auch über die Übernahme des Betriebes reden.“

Dennoch ist Mißlitz auch heute noch der Überzeugung, dass für die Linke mehr drin gewesen wäre. Denn während alle anderen Gruppierungen oder Parteien Unterstützung aus dem Westen erhielten, sei von der radikalen Linken gar nichts gekommen. Mißlitz: „Das war sehr enttäuschend. Wir hatten immer gedacht, dass die westliche Linke sehr weit entwickelt war.“ Das Gegenteil sei jedoch der Fall gewesen. Die Vereinigte Linke konnte letztendlich nur einen Sitz in der neu gewählten Volkskammer der DDR ergattern. „Dann begann der Ausverkauf“, sagt Mißlitz. Die Soldatenräte seien vom frisch gewählten Minister für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, untersagt worden. „West-Agenten boten allen, die sich noch für die Rechte der DDR-Bürger einsetzten, Pöstchen und Jobs an. Das sprengte auch den letzten Widerstand.“ Ihm selbst sei ein Job im Bundesrechnungshof angeboten worden. Mißlitz lehnte ab und schlug sich erst einmal mit einer ABM-Stelle durch. Heute ist er Leiter eines Osteuropaservices.

Zur Lektüre empfiehlt Mißlitz das Buch „Parteien und politische Bewegungen im letzten Jahr der DDR“ von Berndt Musiolek und Carola Wuttke (Basis-Druck).



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