Wenn das System Schule nicht zum Kind passt.

Seit den Herbstferien nehmen wir die Nachmittagsbetreuung in eigene Hände,

denn nach den Sommerferien fing es an. Obwohl, es hatte sich schon in der zweiten Klasse angedeutet.

Das Kind kam nach Hause – ohne Hausaufgaben. Wir standen vor der Herausforderung, mit dem Kind, das müde und gefrustet war und kaum noch Zeit zum Spielen hatte, die Hausaufgaben nachzuholen, während die Zwillinge gefrustet waren, weil niemand Zeit für sie hatte.

Gleichzeitig erreichte uns eine Mail der Klassenlehrerin.

Das Kind habe im Unterricht total abgeschaltet. Wir sollten uns möglichst schnell zusammen setzen. Das taten wir.

Ich sprach auch mit der OGS-Betreuerin (OGS: Offene Ganztagsschule). Dasselbe Bild. Nur dass das Kind sich und andere ablenke, einfach indem es durch den Klassenraum starre.

In Absprache mit der OGS-Leitung nahm ich das Kind zwei Wochen aus der Betreuung. Die OGS-Betreuerin fand das gar nicht gut: “Andere Kinder können sich doch auch konzentrieren.”

Das half mir nicht weiter. Mein Kind konnte es offensichtlich nicht.

Spurensuche

Ich spielte Detektiv. Was war es, was das Kind so frustrierte, dass es schon bei dem Wort “Hausaufgaben” abschaltete?

Spur 1: Die Kinder lernen nach Gehör schreiben. Jetzt kommt das richtige Schreiben. Das Kind, welches große Angst hat, Fehler zu machen, muss zwangsläufig Fehler machen.

Einige Gespräche halfen. Der Papa kämpft mit der Rechtschreibung, bis zum Abitur hat er regelmäßig Punktabzug bekommen wegen Rechtschreibung, sogar in Chemie-Klausuren! Der Freund mache auch viele Fehler. Und letztendlich: Trau dich zu schreiben, die Rechtschreibung ist sekundär. Ich beschloss, die Rechtschreibung mit keinem Wort mehr zu erwähnen.

Spur 2: Das Kind mag keine großen Gruppen.

In Klasse 2 ging es in den Förderunterricht. Dort waren fünf oder sechs Kinder und es traute sich zu sprechen. Vor den anderen. Es entwickelte Ideen und verstand die Inhalte.

Schon im Kindergarten hat es kein einziges Mal bei einem Kreisspiel in der Mitte gestanden. Jetzt in Klasse 3 wird es auch ohne Melden einfach drangekommen – und es versagt ihm regelmäßig die Stimme. Besonders der Englischunterricht ist jetzt angstbehaftet. Unter Angst kann der Mensch nicht lernen, nicht kreativ sein – und traut sich nicht, Fehler zu machen.

Spur 3: Das Kind hat große Angst, Fehler zu machen. Ich habe niemals geschimpft, wenn ihm etwas umgefallen war oder sonstwas für ein Missgeschick passiert ist. Ich erinnere mich aber an Heulen und Schreien, als ihm einmal (als Kindergartenkind) ein Becher Milch umgefallen war. Ich glaube an Charakter, und er ist ein Perfektionist. Lange Zeit malte er nicht – weil er nicht so gut malte wie ich.

Spur 4: Das Kind ist schnell reizüberflutet. Vielleicht braucht es mehr Ruhezeiten, Ruhe in wörtlichem Sinne – ohne Lärm. Das ist in der Schule naturgemäß nicht oder nur selten gegeben. Die Pausen sind laut, das gemeinsame Mittag essen ist laut. Zu Hause beobachten wir, dass das Kind sich zurückzieht und alleine spielen will. “Sag meinen Brüdern nicht, wo ich bin!”

Es braucht Ruhe, um kreativ zu sein. Zuhause beobachtet es sehr genau. Hier die Beschreibung einer kleinen Eichel, die es gefunden hat:

“Mama, guck mal, diese kleine Eichel. Die ist ganz unterschiedlich gefärbt. An dieser Stelle ist das blau! Das sieht aus, als ob es ausgelaufene Tinte ist. Und hier ist es ein bisschen lila! Schön sieht das aus!”

Spur 5: Das Kind hat nie Langeweile. Es hat einfach immer Ideen, was man machen kann. Im krassen Gegensatz zu seinem Verhalten in einer Gruppe steht sein, sagen wir mal, Freizeitverhalten. Wenn der große Bruder zuhause ist, haben auch die Zwillinge nie Langeweile. Wenn er nicht da ist, maulen sie manchmal herum. Jüngere Kinder stehen auf ihn. Einmal wandelte er ein recht großes Sandkastenareal um in eine Riesen-Sandburgen-Stadt – und sechs jüngere Kinder haben nach seinen Anweisungen gehandelt. Ein Erzieher gab mir dereinst die Rückmeldung,  er habe noch nie ein Kind so kreativ spielen gesehen.

Und tatsächlich: Er braucht nur einen Stock oder einen Gummi-Skorpion und ist buchstäblich stundenlang in seiner imaginären Welt.

Vielleicht liegt es daran, dass seine Mutter Künstler ist. “Mama”, sagte er einst zu mir, “ich brauche nur ein Wort und schon fällt mir eine ganze Geschichte ein!”

Das glaube ich sofort – mir geht es ganz genau so.

Gleichzeitig macht es sich intensiv Gedanken über die Welt:

“Mama, gibt es eigentlich Mörder, die frei herumlaufen? Warum gibt es die? Warum kann man die nicht einfach verhaften? Was ist der häufigste Grund dafür, dass Menschen zu Mördern werden?”

“Mama? Wenn ihr mich angenommen hättet, hättet ihr mir das schon gesagt, oder? Warum geben Frauen ihre Babys weg? Wer bestimmt, wer das Baby kriegt? Welche Fragen stellt das Jugendamt?”

“Mama, wieso gibt es eigentlich mehrere Meere?”

Bei einer mir einfach erscheinenden Frage, kann er schier verzweifeln.

“WAs war das beste an unserem Urlaub?” fragte ich.

Schweigen, angespanntes Gesicht, Tränen.

“Da muss doch was gewesen?” insistierte ich.

“Mama”, sagte er, “ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich kann mich nicht an alles erinnern. Wie soll ich da wissen, was das beste war?”

Spur 6: Das Kind ist ungewöhnlich sensibel. Im Alter von etwa 4 Jahren traf es ihn wie ein Blitzschlag, die Erkenntnis, was der Tod bedeutet. Die Zwillinge hatten dieses Erlebnis auch, aber längst nicht so intensiv. Ich weiß noch, dass es ein Sonntag war. “Mama, musst du sterben? Muss Oma sterben? Papa? Opa? Ich? Wann musst du sterben?”

Er lag in meinen Armen und weinte und weinte. Am nächsten Tag im Kindergarten war er apathisch. Etwa vier Wochen lang nässte er täglich ein.

Spur 7: Vielleicht ist es, weil er tiefgreifend und komplex denkt, vielleicht, weil er im Grunde ein ängstliches Kind ist, das sich selbst – leider Gottes – für dumm hält: Er braucht Zeit.

“Mama, wenn ich mich gerade melden will, hat ein andere das schon gesagt!”

“Ich habe mich nicht getraut, das laut zu sagen. Dann war es so leise, dass es keiner gehört hat. Und dann war Erik schneller.”

“Mama, ich habe die Aufgabe nicht verstanden und als ich sie verstanden habe, war es schon vorbei.”

Die Klassenlehrerin ist klasse. Sie nahm sich meine Anregungen zu Herzen, und es scheint besser geworden zu sein. Zumindest habe ich seitdem nichts mehr von ihr gehört.

Dafür aber von der Mathelehrerin.

Das Kind habe total abgeschaltet, spiele unter dem Tisch, schaue in die Ferne. Was denn los wäre?

Das Kind erzählte mir, es habe im Matheunterricht einmal etwas falsches gesagt und die Lehrerin habe gelacht.

Ich kann mir das so nicht vorstellen, aber ich weiß, dass schon das Gefühl von Ausgelachtsein ausreicht, um es für Wochen verstummen zu lassen.

Morgen haben wir ein Gespräch mit der Lehrerin. Und ich habe keine Lust mehr zu erklären, wie mein Kind tickt. Denn beim letzten Mal habe ich mir anhören müssen, ich würde mein Kind “zu sehr beschützen”.

Die OGS-Betreuerin war immer noch nicht hilfreich.

Nach zwei Wochen OGS-Pause gab es ein weiteres Gespräch. Die Leitung, die Betreuerin, wir Eltern.

“So kann es nicht weitergehen”, sagte ich, “er kommt nach Hause und wir müssen dann mit einem müden, ausgepowerten Kind, das kaum Zeit zur Erholung hat, Hausaufgaben machen.”

“Die anderen können das doch auch”, sagte die OGS-Betreuerin.

Ich fragte nach, ob ich das Kind zweimal pro Woche früher abholen könne, da es offensichtlich mehr persönliche Unterstützung brauche.

Das ginge nicht. Der Vertrag sehe eine Betreuung bis 15 Uhr vor.

Ich warf ein, dass andere Kinder auch zweimal pro Woche früher abgeholte werden – weil sie zum Tennistraining gingen.

“Frau Solanum”, sagte die Betreuerin, “Sie wollen doch wohl nicht das eine Kind gegen Ihr Kind aufrechnen!”

“Was heißt denn aufrechnen?” fragte ich zurück, “Unterstützung bei den Hausaufgaben ist doch wohl wichtiger als Tennistraining?”

Wir verblieben im Gespräch mit dem Wunsch, die Hausaufgabenbetreuung der OGS noch einige Wochen auszuprobieren – wenn es dann nicht funktioniere, würden wir ihn abmelden.

Nach eineinhalb Wochen hatte das Kind noch immer keine Hausaufgaben gemacht.

“Warum nicht??” fragte ich leicht angesäuert.

“Die Betreuerin setzt mich in den Nebenraum und dort muss ich Mandalas malen”, sagte das Kind.

Das war in der Schule. Ich suchte die Betreuerin. Sie war alleine in dem Raum, und ich war sauer.

“Wieso malt mein Kind Mandalas statt Hausaufgaben zu machen?” fragte ich wütend.

“Das hatten wir doch so besprochen, Frau Solanum”, antwortete die Betreuerin.

“Nein, das hatten wir nicht”, sagte ich.

Gott sei Dank war der Mann bei diesem Gespräch dabei gewesen. Sonst hätte ich an meinen Sinnen gezweifelt.

Ich solle einen weiteren Termin mit der OGS-Leitung vereinbaren, um das von mir gewollte Szenario zu verändern.

Ich war fassungslos.

“Warum soll ich einen weiteren Termin machen, wenn ich vor Ihnen stehe und Ihnen sage, dass ich das so nie gewollt habe. Wir wollen, dass er lernt, hier Hausaufgaben zu machen, und wenn das nicht klappt …”

“Wenden Sie sich bitte an die OGS-Leitung”, sagte die Betreuerin. Dann drehte sie sich um und verließ den Raum.

Und nun?

Zwischen Tür und Angel hat mir die Mathelehrerin die Waldorfschule empfohlen. Die Waldorfschule ist rappelvoll.

Und weiter?

Ich weiß es nicht. Wir müssen irgendwie einen Weg finden zwischen Unterstützung geben, selbstständig werden lassen und Selbstbewusstsein schenken.

Ziele für die Zukunft:

Selbstbewusstsein schenken. Doch wie?

Übungsfelder einräumen, in denen er sich sicher fühlt. Schwimmen liegt ihm, und er geht zu den Pfadfindern und ist stolz darauf, dass er dort lernt, wie man verantwortungsvoll mit einem Messer umgeht.

Möglichst selbstständig Hausaufgaben machen lassen. Das klappt mit einigen Rückschlägen schon ganz gut.

Viel Zeit einräumen für all seine kreativen Ideen und ihm helfen dabei, die vielen Impulse sortieren zu lernen.

Ihm vermitteln, dass Lernen etwas Schönes ist, auch wenn es sich jetzt nicht so anfühlen mag.


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