Auch 73 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs leiden noch viele Menschen unter vielfältigen Traumata. Selbst bei den Kindern der Kriegskinder zeigen sich Symptome wie Einsamkeit, Unsicherheit, Angst und Entwurzelung.
Denn die beiden Weltkriege wirken bis heute nach – bei den Überlebenden, Versehrten, Traumatisierten und sogar in der Enkelgeneration den Kriegenkeln. Wenige Eltern oder Großeltern haben über ihr Schicksal gesprochen. Viele vom Krieg traumatisierte Erwachsene waren emotional verstummt, haben ihre eigenen schmerzlichen Empfindungen unterdrückt und ihren Kindern und Enkeln seelische Trümmer hinterlassen. Doch nur über die Erinnerung, das Erzählen und Verstehen ist es möglich, die Weitergabe dieser traumatischen Erinnerungen zu unterbrechen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele Menschen auch eine Therapie gebraucht. Doch damals mussten die Überlebenden Deutschland wieder aufbauen. Außerdem wusste man noch nicht, dass sich hinter Albträumen, schlimmen Erinnerungen und Ängsten eine Erkrankung verbergen könnte.
Erst nach dem Vietnamkrieg (1964-1975) änderte sich daran etwas. Als Soldaten die typischen Symptome einer „Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zeigten, die man schon von anderen Opfern von Krieg und Gewalt her kannte, widmete man den Kriegsveteranen mehr Aufmerksamkeit.
Doch zuvor wurden viele Betroffene in ihrem Umfeld als Versager bezeichnet und trauten sich auch später nicht mehr, ihre Probleme einem Arzt oder Psychotherapeuten anzuvertrauen. Viele wurden alkoholkrank oder flüchteten in die soziale Isolation.
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Ein Kriegstrauma zeigt sich oft erst bei den Kindern der Kriegskinder.
Ich bin 1948 geboren. Genau wie meine Altersgenossen, die in den Aufbaujahren der Bundesrepublik geboren wurden, kennen wir den 2. Weltkrieg nur aus den Erzählungen der Eltern. Wenn überhaupt. Denn meist redeten die Eltern nicht oder nicht gern über diese Zeit. Weil sie nicht erinnert werden wollten, Weil sie ihre Kinder nicht mit schrecklichen Erlebnissen belasten wollten. Weil sie selbst mal beschlossen hatten, all das Schreckliche ganz fest in sich einzuschließen.
Doch auch wenn in vielen Familien über das Erlebte kaum gesprochen wurde, ist es nicht verschwunden.
Erst seit einigen Jahren gibt es ein Bewusstsein dafür, dass sich die Traumata der Eltern und Großeltern in den Nachkriegsgenerationen fortsetzen können und verschiedenste Symptome produzieren können.
In meine Einzelcoachings oder die Persönlichkeitsseminare kommen immer wieder Menschen zwischen 40 und 60 Jahren mit den verschiedensten Problemen:
- Zweifel bezüglich der Existenzberechtigung
- Überstarker Leistungswille – oft bis zum (mehrfachen) Burnout
- Emotionale Blockaden und dadurch Partnerschaftsprobleme oder häufige Trennungen
- Geringes Selbstwertgefühl und gnadenlose Strenge mit sich selbst
- Streben nach Erfolg bei gleichzeitigen Sabotage, wenn dieser greifbar wäre
- Diffuse, unerklärliche Ängste
Die wenigsten Betroffenen führen ihre Beschwerden und Symptome auf Erfahrungen der Eltern im Krieg zurück. Auch weil oft über das Erlebte im Krieg von diesen selten gesprochen wurde. Viele Kriegsenkel, also die Kinder der Kriegskinder, haben den Krieg abgespeichert wie Faktenwissen aus dem Geschichtsbuch. Die dazu gehörigen Gefühle haben sie meist verdrängt, weil dies auch die Eltern so machten.
Wie sich vererbte Traumata zeigen können.
„Immer wenn ich kurz davor bin, ein wichtiges Ziel zu erreichen, vermassele ich es!“
Mit diesem Satz beginnt Albrecht Holst die Sitzung. 53 Jahre, Entwicklungsingenieur in einem Automobilunternehmen. „Seit Jahren arbeite ich darauf hin, Leiter der Abteilung zu werden. Ich habe auch nach Auskunft meiner Vorgesetzten das Zeug dazu. Aber wenn es dann zum entscheidenden Schritt kommt, passiert etwas in mir und ich sorge dafür, dass es schiefgeht.
Entweder verpasse ich eine wichtige Frist, um Unterlagen einzureichen oder mache bei einer Präsentation so blöde Fehler, dass man doch Abstand von mir nimmt.
Diese Pechsträhne zieht sich durch mein Leben. Als würde ich mich selbst sabotieren. Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, verstehe es aber nicht.“
Wenn ich solche Schilderungen von Klienten höre, überlege ich, welche unbewusste Botschaft in diesem Verhalten stecken könnte. Denkbar wären zum Beispiel:
- „Es klappt sowieso nicht. Wenn Du selbst versagst, bist Du nicht so enttäuscht.“
- „Du hast doch schon so viel erreicht. Warum willst Du immer noch mehr?“
- „Wir waren immer für Dich da. Du darfst nicht größer werden als wir.“
- „Ich konnte auch nicht werden, was ich wollte. Warum soll es bei Dir anders sein?“
Viele Berufskarrieren der Eltern und Großeltern wurden durch den Krieg zerstört. Ausbildung und Studium konnte nicht begonnen werden, wurde unterbrochen und nach dem Krieg musste man vielleicht schnell seinen Lebensunterhalt verdienen anstatt seinen Wunschberuf anzustreben.
Bezeichnend ist die enorme Leistungsbereitschaft für den Erfolg – mit der Angst, den Erfolg auch tatsächlich zu erreichen.
Als ich mit Herrn Holst seine Herkunftsgeschichte untersuchte, trafen wir auf eine ähnliche Entwicklung in der Berufsbiografie seines Vaters. Vor dem Krieg war er Kfz-Mechaniker in einer Autowerkstatt. Nach dem Krieg hatte ihm der Inhaber angeboten, die Meisterlehre zu machen, um die Werkstattleitung zu übernehmen. „Das ist nichts für mich“, hatte mein Vater damals gesagt, berichtete der Klient. „Ich habe die Gründe dafür nie verstanden.“
Als ich diesen letzten Satz für Herrn Holst noch einmal langsam wiederhole, erschrickt er. „Ich habe genau den gleichen Gedanken gehabt, wenn mal wieder was schiefging, auf das ich lange hingearbeitet hatte und es dann doch vermasselte: Das ist nichts für mich!“
Auf diese Weise konnte er diese Zusammenhänge zwischen seinem Verhalten und dem Schicksal seines Vaters besser verstehen und durch weitere Arbeit sich von dieser ungünstigen Loyalität lösen.
Was bringt es, an den alten Geschichten zu rühren?
Diese Frage höre ich immer wieder. Und es ist auch meist die Antwort, die erwachsene Kinder bekommen, wenn Sie Mutter oder Vater danach fragen wollen, was diese im Krieg erlebt haben.
Der wichtigste Grund ist, dass Sie dadurch vielleicht etwas bei sich selbst besser verstehen.
Zum Beispiel:
- Seltsame, übertriebene Ängste ohne eigene Erlebnisse:
– In Panik geraten, wenn sich der Partner oder Kinder um ein paar Minuten verspäten.
– Alle Türen dreimal abschließen und noch mal kontrollieren.
– Angst vor Einbrechern, Überfällen, Vergewaltigung.
– Häufiges Umziehen und Probleme, sich im Leben niederzulassen und einzurichten.
– Fehlende Zivilcourage oder mangelndes Eingreifen bei Missständen, stattdessen weggucken. - Seltsame Verhaltensweisen, die Sie stören, die Sie aber nicht abstellen können.
– Hamstern von Lebensmitteln oder verstärktes Surfen auf Seiten wie www.krisenvorsorge.com.
Ich erinnere mich noch, wie 1961 der Bundesernährungsminister zu Reserven durch Konserven mit dem Slogan „Denke dran, schaff Vorrat an“ aufrief. Was meine Mutter Jahrzehnte machte. Noch heute beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich Brot wegwerfen will, das alt und etwas hart ist. Denn das gab es bei uns zu Hause nicht.
– Alles aufessen müssen oder andere anhalten, dies zu tun.
– Gefühle bei sich und anderen nivellieren oder rationalisieren („Ist doch nicht schlimm!“ „Es gibt noch viel mehr Leid auf der Welt!“)
Der zweitwichtigste Grund: Damit Sie vererbte Kriegs-Traumata nicht an ihre Kinder und Enkel weitergeben.
„Über die Spiegelneuronen und über Resonanzerfahrungen spüren Kinder, was ihre Eltern oder Großeltern erleben. Dieses Fühlen, dieses Spüren, dieses Weitergeben erfolgt weitgehend unbewusst und ist so wenig zu kontrollieren wie ein ansteckendes Lachen oder Gähnen.
Dieser Prozess wird durch einen besonderen Umstand verstärkt: Wenn Kinder bei ihren Eltern ein Geheimnis spüren, dann strengen sie sich besonders an, dieses Geheimnis zu ergründen. Wenn ein Kind merkt, dass die Mutter oder der Vater einen Kummer hat, aber nicht darüber redet und das Kind den Grund des Kummers so nicht ergründen kann, dann entwickelt das Kind besonders starke Antennen für das Geheimnis, für den Kummer, für das Verstecken des Kummers, für die Leere, für das Schweigen.
Das bestätigen die Traumaforschungen und die praktischen Erfahrungen der therapeutischen Traumaarbeit. Man kann deshalb zugespitzt sagen: Wenn Sie eine Traumafolge an Ihre Kinder weitergeben wollen, dann verschweigen Sie diese. Sie erreichen dadurch, dass die Kinder besonders neugierig werden und besonders empfänglich für das, woran Sie leiden. Das wollen Sie natürlich nicht, aber Ihre Eltern und Großeltern, die diese Konsequenz höchstwahrscheinlich auch nicht wollten, haben so gelebt und so gehandelt.“
Quelle: Baer, Udo/Frick-Baer, Gabriele 2015: Kriegserbe in der Seele
Mein Fazit:
Für viele ist es ja schon schwer einzusehen, dass die Erfahrungen, die man als Kind in der Familie erlebte, einen großen Einfluss auf das heutige Leben haben sollen. Sie lehnen das als Psychologen-Schwachsinn ab. Oft braucht es erst eine Krise, in deren Nachgang man durch eine Reha, Psychotherapie oder ein Coaching darauf kommt, dass Kindheitserlebnisse frühe Prägungen verursachen. Im Guten wie im Schlechten.
Noch unvorstellbarer mag manchem vorkommen, dass sogar Erlebnisse der Eltern oder Großeltern ihre neuronalen Spuren im Gehirn hinterlassen und so zu unerklärlichen Ängsten oder unpassenden Einstellungen und Verhaltensweisen führen können.
Ich selbst habe durch lange Therapien und entsprechende Seminare den Einfluss dieser Faktoren in meinem Leben ein Stück klären.
Unten finden Sie einige empfehlenswerte Bücher, wenn Sie mehr darüber erfahren möchten.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Weitergabe von Traumata gemacht?
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Bild: © www.cartoon4you.de
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