Wen kann ich noch überzeugen?

Den folgenden Beitrag habe ich für den Ohrfunk geschrieben, drum wird auch oft von Hörern gesprochen.

Jede Woche schreibe ich einen Kommentar. Gerade im letzten Jahr habe ich mich bemüht, unseren Zuhörerinnen und Zuhörern die gefahr aufzuzeigen, die auch unserem Land, vielleicht sogar gerade unserem Land, von rechts droht. Immer wieder habe ich auf die Undenkbarkeiten hingewiesen: Faschisten sitzen in Landesparlamenten und schließlich im Bundestag, braune Horden ziehen durch die Innenstädte, durchsetzen die Polizei und die Justiz. Braune Schläger klatschen Linke und demolieren jüdische Restaurants. Und der Verfassungsschutz warnt vor der linken Gefahr. Sie debattieren, ob das Jagen von Ausländern in Chemnitz eine Hetzjagd oder nur eine verfolgung war und so weiter. In dieser Woche müsste ich nun darüber berichten, dass sich klar heraus stellt, dass der Verfassungsschutz gegenüber der AfD Geheimnisverrat begangen hat, dass der Präsident dieser Behörde sich an rechter Propaganda beteiligt, indem er ein Geschehen, bei dem es Opfer und für das es Zeugen gibt, als Fake und erfunden hinstellt. Das alles müsste ich tun, und ich müsste dagegen wieder und wieder scharfe Worte finden. Doch ich empfinde es gerade als absolut sinnlos. Wer nicht hören will, wird nicht hören, und die, die hören, sind bereits aufgeklärt. Warum sollte ich in eine Blase rufen, die ohnehin bereits im Gleichklang mit meiner Meinung schwingt?

Am letzten Freitag war ich auf einer Demonstration. 7500 Marburger, ein zehntel der Stadt, gingen gegen rechtsextremismus auf die Straße, es waren drei mal so viele Leute, wie ich erwartet habe, bei den optimistischsten Schätzungen. Ich habe wirklich gehofft, es könnte auch von dieser Demo ein Zeichen, ein Signal ausgehen. ich dachte, viele Menschen seien aufgewacht und hätten begriffen, dass sie sich engagieren müssten, natürlich gewaltfrei. Es war ein wunderbares Gefühl, mit so vielen Menschen für die Rettung unseres demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaates einzustehen, für einen Staat, der uns so viel gegeben hat, bei all seinen Fehlern, dass er jetzt unsere Hilfe mehr als verdient hat. Das dachte ich am Freitag und den ganzen Samstag über. Und dann misshandeln zwei Afghanen einen Deutschen in Köthen, der daraufhin einen Herzinfarkt erleidet, an dem er stirbt. Wieder marschieren die Nazis auf und brüllen: “Nationaler Sozialismus jetzt!” Im Morgenbriefing des bekannten ehemaligen Handelsblattjournalisten Gabor Steingart sagte am Montag der ehemalige SPD-Kanzleramtsminister Bodo Hombach, die SPD müsse, um sich zu retten, auf die Rechten in der Gesellschaft hören und dem Zug in diese Richtung nachlaufen, linke Gutmenschenträume helfen laut Hombach da nicht mehr weiter. Das ist eine unglaubliche Kapitulation. Ich habe daraufhin auf Twitter gefragt, warum man dann einen Staat mit einer Erinnerungskultur, Freiheit und Demokratie erst aufgebaut habe, wenn man jetzt doch wieder nach rechts schwenken soll, weil 20 % der Bevölkerung es wollen? Sollte die SPD jetzt auch den nationalen Sozialismus herbeibrüllen, oder wie hat sich Herr Hombach das vorgestellt? Ich habe keine Antwort auf meine Fragen bekommen.

Seit mehr als einem Jahr schwanke ich zwischen dem trotzigen Gefühl, nicht aufgeben zu wollen, und der Verzweiflung, der Erkenntnis, das ohnehin alles zu spät ist. Eine AfD-Kreistagsfraktion kann offen sagen, dass die Presseleute nach der Revolution aus den Redaktionen und Studios auf die Straße gezerrt werden, eine AfD-Gruppe kann auf Einladung von Alice Weidel in der KZ-Gedenkstätte Dachau den Holocaust so lange leugnen, bis die Führung abgebrochen werden muss.

Das alles ist bekannt, ich erzähle Ihnen ja nichts neues. Ich fasse nur noch mal zusammen, was manche von Ihnen vielleicht im Nachrichtenbrei vergessen haben. Aber was bringt es? Wen kann ich überzeugen? Wen kann ich dazu bringen, wirklich aufzustehen und mit dafür zu sorgen, dass sich nicht wiederholt, was sich nie wiederholen darf?

Wieviele von Ihnen schalten Dienstags ab, wenn wieder der Bertrams mit seiner Moralpredigt kommt, die man ohnehin nicht mehr hören mag? Man weiß es ja inzwischen? Verdenken könnte ich es Ihnen nicht. Meine Kreativität hat Grenzen, meine Stimme ist nur eine von vielen, viele Menschen wollen nicht sehen, was ich zu sehen glaube und verdrängen aus Angst. Das hab ich auch getan. Oder sie halten sich für abgeklärt und denken: Gott wirds schon im Schlafe schenken. Aber ich bin sicher, dass er das nicht wird, und deshalb rede und schreibe ich immer noch. Es ist alles, was ich tun kann, außer zur Demo gegen Fremdenhass zu gehen.

Es ist das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ich schlafe schlecht, ich träume schwer, die Angst vor der Zukunft als behinderter Mensch unter einer radikalen AfD-Regierung ist real, wenn Behinderung schon wieder öffentlich als undeutsch und vor allem durch Inzucht und Migranten hervorgerufen bezeichnet wird.

Vielleicht habe ich nur meine Augen zu weit geöffnet. Vielleicht sollte ich über leichte Themen berichten? Wie wäre es mit Promis? Da war doch dieser .. Daniel Küblböck? Ich lese Hetze und unsägliche Witze über ihn, soll ich da etwa mit einstimmen? Ist uns denn allen komplett die Menschlichkeit verloren gegangen? Was ist mit so simplen Gefühlen wie Mitgefühl und Solidarität?

Ich denke ernsthaft darüber nach, mich vorläufig von den sozialen Netzwerken zu verabschieden. Bei Twitter wird mein Abschied heute fast erzwungen, weil unsere Twitter-Programme nicht mehr funktionieren, sie sind noch weiter eingeschränkt worden als vor ein paar Wochen. Alles Bitten gegenüber den Twitter-Oberen half nichts, auch nicht durch die internationale Blindenszene. Warum nicht die Gelegenheit beim Schopf fassen und mal weggehen von den sozialen Netzwerken, die oft überhaupt nicht sozial sind?

Und was berichte ich dann in meinen Kommentaren? Was, wenn dem Ohrfunk die Hörer und meinem Blog die Leser weglaufen, weil ich die gesellschaftlichen Realitäten einfach nicht akzeptieren kann und will? Ich fürchte, dass ich die Antwort darauf schuldig bleiben muss. Ich kann nur berichten und kommentieren, was ich sehe. Ich mache keine Auftragsarbeit, ich schreibe aus meinem Gefühl und meinem Herzen heraus. Und so sehr ich dem personalisierten Journalismus, der den Journalisten selbst in den Vordergrund stellt, eine absage erteile, so kann ich doch nicht anders, als meinem Gewissen und meinen Gefühlen gehorchen und folgen. Sie werden auch künftig von mir Beiträge über die aktuelle Entwicklung im Kampf gegen rechts hören, und es wird auch künftig ein bestimmendes und dominantes Thema sein, weil es für mich eben ein extrem wichtiges Thema ist, das mit der Grundlage meiner Existenz zu tun hat, aber auch mit der Grundlage für eine freie Berichterstattung in diesem Sender. Und es ist für mich eine Frage der ethischen Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit.

Trotzdem stelle ich mir Tag für Tag wieder die bange Frage: Wen kann ich noch überzeugen?

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