Wem gehört die Arktis? Konkret, 8/2013 Imperialismus 2.0:...

Wem gehört die Arktis?
Konkret, 8/2013
Imperialismus 2.0: Der Klimawandel hat ein Wettrennen um die Erschließung der letzten Terra Nova ausgelöst.

Die gesamte Polarregion steht vor einem gewaltigen klimatischen Umbruch. Ein Blick in die Klimageschichte der Arktis, den die Sedimentbohrungen in dem isolierten nordsibirischen Kratersee Elgygytgyn möglich machen, gewährte jüngst der Wissenschaft einen bedrückenden Ausblick auf die Zukunft. Vor rund zwei bis drei Millionen Jahren war die gesamte Arktis eisfrei; an den Ufern des Polarmeers wuchsen üppige Wälder. In den Sedimentablagerungen des Kratersees, der vor 3,6 Millionen Jahren entstand, wurden entsprechende fossile Pollen gefunden. Zudem lagen die Küstenlinien im hohen Norden sehr viel weiter südlich, da der globale Meeresspiegel um bis zu 40 Meter über dem heutigen Niveau lag. Die Durchschnittstemperaturen in dieser Klimaperiode waren rund acht Grad Celsius höher als heutzutage.
Alarmierend an dem Befund ist, daß die globale atmosphärische Kohlendioxidkonzentration (CO2) vor drei Millionen Jahren mit 400 ppm (parts per million) in etwa dem Wert entsprach, der vor kurzem aufgrund des ständig wachsenden Ausstoßes von Klimagasen erstmals nach offiziellen Angaben überschritten wurde. Die Wissenschaft habe – mal wieder – die »Sensibilität unterschätzt«, mit der das Klimasystem auf die Veränderungen der CO2-Konzentration reagiere, erklärte Julie Brigham-Grette von der University of Massachusetts Amherst, die mit der Analyse der arktischen Bohrkerne befaßt war, gegenüber dem britischen »Guardian«. Sollte es nicht noch bis dato unentdeckte Rückkopplungssysteme geben, die dieses drastische Szenario zumindest abmildern würden, seien die derzeitigen Klimamodelle nicht korrekt.
Wie reagieren nun die wichtigsten Arktis-Anrainer und Großmächte auf die bereits einsetzenden klimatischen Umwälzungen im hohen Norden, die laut Scott Elias von der Royal Holloway University of London einem »beängstigenden Klimaexperiment« gleichkommen und schon in »Jahren oder Dekaden« ihre volle Wirkung global entfalten werden? Sie streiten sich um die besten Startplätze beim nun anstehenden Rattenrennen um Einflußsphären und Rohstoffvorkommen in der rasch auftauenden Arktis – um noch mehr fossile Energieträger zu fördern und so den Klimawandel noch weiter zu beschleunigen.
Dabei sorgen sich viele der konkurrierenden Global Player vor allem um ihren Anteil am arktischen Kuchen. Gunnar Wiegand etwa, der deutsche Delegierte der EU-Kommission beim jüngsten Treffen des Arktischen Rates im schwedischen Kiruna, blickte laut »Süddeutscher Zeitung« (»SZ«) nach den Mitte Mai abgehaltenen Unterredungen regelrecht »sauertöpfisch« drein. Nicht etwa, weil die Polarregion auf eine Klimakatastrophe gigantischen Ausmaßes zusteuert, sondern, weil der EU der volle Beobachterstatus in diesem Gremium durch die acht Arktis-Anrainer (Kanada, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Rußland, Schweden und USA) verwehrt wurde. Er hätte sich ein »klareres Ergebnis« gewünscht als die Verschiebung der diesbezüglichen Entscheidung, erklärte Wiegand. China, Japan, Indien und Südkorea wurde der angestrebte volle Beobachterstatus gewährt, nur die »Europäer seien weder richtig drin noch richtig draußen«, jammerte die »SZ«.
Der 1996 gegründete Arktische Rat – zu dessen offizieller Zielsetzung ironischerweise auch der Klimaschutz im hohen Norden gehört – bildet inzwischen eines der wichtigsten Gremien, in denen die Rahmenbedingungen und Grundlagen der künftigen wirtschaftlichen Erschließung der Arktis geregelt werden. Man wolle die – bald eisfreie – Arktis zu einer »Zone von Frieden und Stabilität« entwickeln, hieß es in der Abschlußdeklaration der Tagungsteilnehmer in Kiruna. Mit solchen Floskeln versuchen die Arktis-Anrainer die seit Jahren zunehmenden Spannungen und Interessengegensätze zu übertünchen. Der Arktische Rat bemühe sich, den in den vergangenen Jahren entstandenen Eindruck »zu mildern«, wonach es aufgrund der »sich neu öffnenden Verkehrswege im Meer und der lokalen Rohstoffe ernste Konflikte« in der Arktis geben würde, bemerkte die österreichische »Presse«. Der private Nachrichtendienst Stratfor stellte in einer Analyse eine vermittelnde Rolle des Rates als »zentrale Instanz für Entscheidungsfindung in bezug auf die Arktis« allerdings in Frage, da die »Prioritäten der Staaten in der Arktis konkreter« würden und folglich die »Differenzen« schwerer durch »Debatten« zu lösen sein werden.
Denn im Schutz der offiziellen Deklarationen der Mitgliedsstaaten des Rates zu Klimaund Umweltschutz oder den Rechten der Inuit hat der Konflikt um diese letzte Terra Nova des kapitalistischen Weltsystems längst begonnen. Folglich soll der Arktische Rat vor allem den institutionellen Rahmen bieten, in dem die ungelösten Grenzfragen in der Polarregion gelöst werden. Wem gehört die auftauende Arktis?
Derzeit sind insbesondere Rußland, Kanada und Dänemark bemüht, ihre Ansprüche über die exklusiven Wirtschaftszonen von 200 Seemeilen, die jedem Arktis-Anrainer zustehen, hinaus zu begründen. Das strittige Gebiet in der Polarregion, das nördlich dieser exklusiven Wirtschaftszonen liegt, umfaßt mehr als eine Million Quadratkilometer. Dieser Territorialstreit solle innerhalb des Arktischen Rates unter Rückgriff auf die UN-Seerechtskonvention entschieden werden, so die »Presse«.
Rußland etwa will laut der Nachrichtenagentur Ria Novosti noch in diesem Jahr einen »nachgebesserten« Antrag zur Neufestlegung seiner akritischen Grenzen bei den UN einreichen, der einen Großteil zweier potentiell rohstoffreicher Unterwassergebirge, des Lomonossow-Rückens und des Mendelejew-Rückens, zur exklusiv russischen Wirtschaftszone rechnet.
Dabei argumentiert der Kreml, daß diese Unterwasserregionen eine Fortsetzung der russischen Landmasse seien. Laut der UN-Seerechtskonvention könne ein Küstenstaat exklusive Erschließungsrechte in einem Seegebiet beanspruchen, wenn er nachweist, daß das Kontinentalschelf in der beanspruchten Region »die meerseitige Fortsetzung des Festlandes« darstelle, erläuterte Ria Novosti.
Die spektakuläre russische Polarexpedition, bei der 2007 ein U-Boot die russische Fahne auf dem arktischen Meeresgrund plazierte, um ihn symbolisch in Besitz zu nehmen, war nicht nur ein propagandistischer Coup und der Startschuß für die heiße Phase des arktischen Rattenrennens – mit den damals entnommenen Gesteinsproben will Rußland nachweisen, daß der Meeresgrund am Lomonossow-Rücken dieselbe geologische Zusammensetzung aufweist wie an der sibirischen Polarmeerküste. Etwa 1,2 Millionen Quadratkilometer Arktis-Fläche will sich Rußland so sichern.
Ähnliche, mitunter konkurrierende Ansprüche stellen die anderen Anrainer der Arktis, weswegen es in der Region inzwischen mehr als ein halbes Dutzend schwelender Territorialstreitigkeiten gibt.  Kanada und die Vereinigten Staaten konkurrieren etwa um eine Region in der Beaufortsee und um die sogenannte Nordwest-Passage. Dänemark und Kanada bestreiten die russischen Ansprüche auf den Lomonossow-Rücken, die sie mit konkurrierenden Anträgen bei den UN entkräften wollen.
Dabei werden die Gebietsansprüche längst nicht nur mit Expeditionen und Propagandaaktionen erhoben. Auch die Militarisierung der Arktis ist inzwischen in vollem Gange. Das größte militärische Schaulaufen im hohen Nor-den veranstaltet – wie auch anders – die westliche Wertegemeinschaft, die bei den regelmäßig abgehaltenen Militärmanövern »Cold Response« in Nordnorwegen den Ernstfall in diesem Kalten Krieg proben läßt. Die rund 16.000 Militärangehörigen aus 15 westlichen Ländern übten zuletzt im März 2012 den Einsatz gegen »Extremisten«, die es im Zuge etwaiger »separatistischer Konflikte« im Bereich der Arktis zu bekämpfen gelte. Dabei nimmt der Umfang dieser Militärübungen ständig zu: 2010 waren nur 10.000 Soldaten an »Cold Response« beteiligt. Das nächste, im Rahmen des Nato-Programms »Partnerschaft für den Frieden« abgehaltene, Großmanöver in Nordnorwegen wird 2014 stattfinden.
Kanada, dessen Regierung sich mit dem Kreml immer wieder wegen konfligierender territorialer Ansprüche rhetorische Scharmützel liefert, veranstaltete zuletzt im vergangenen Februar ein Militärmanöver in der Arktis. Die ehrgeizigen militärischen Planungen, die unter anderem dort einen Aufbau von Militärbasen vorsehen, sind allerdings wegen allerlei Haushaltskürzungen, die jüngst von der konservativen Regierung Harper beschlossen wurden, in Verzug geraten. Die US-Regierung wiederum hat Anfang Mai ihre »Nationale Strategie für die arktische Region« (»National Strategy for the Arctic Region«) vorgestellt, deren Kern – trotz aller Lippenbekenntnisse zum Umweltschutz – das in der Präambel umrissene Bemühen ist, das Maximum »aus den auftauchenden wirtschaftlichen Chancen in der Region« herauszuholen. Hierbei sollen die »Sicherheitsinteressen« Washingtons durch eine verstärkte militärische und kommerzielle Durchdringung der Arktis realisiert werden: »auf, unter und über dem Wasser sowie im Luftraum der Arktis«.
Rußland ist seinerseits längst dabei, eigens für den Einsatz in der Arktis konzipierte Streitkräfte aufzustellen. Bis 2015 soll die erste von zwei arktischen Brigaden der russischen Armee einsatzbereit sein, die in Murmansk oder Archangelsk stationiert werden soll, erklärte die russische Armeeführung Mitte 2012. Zuvor hatte der damalige russische Präsident Dimitri Medwedew die Arktis als »eine für uns kritisch wichtige Region« bezeichnet. Tatsächlich verfügt Rußland über die beste Ausgangslage bei dem Poker um die arktische Hegemonie, da der Kreml dabei auf die weiterhin vorhandene –  wenn auch mitunter marode – sowjetische Infrastruktur zurückgreifen kann: Ein Großteil der arktistauglichen Eisbrecher befindet sich in russischem Besitz, der russische hohe Norden weist auch die mit Abstand größte Bevölkerungszahl aller arktischen Anrainer auf. Zur Zementierung dieses strategischen Vorsprungs kündigte die russische Führung im April 2012 an, ein massives Investitionsprogramm im Umfang von umgerechnet 33 Milliarden Euro bis 2020 in der russischen Arktis zu realisieren, das auf die »Entwicklung der sozialen Infrastruktur« und den Ausbau von Transportkorridoren zwecks »Erschließung neuer Vorkommen von Energieträgern« abziele, meldete Ria Novosti.
Der unter dem rapide schmelzenden Eispanzer der Arktis lagernde Ressourcenreichtum, um dessen Erschließung die Anrainer konkurrieren, scheint laut Schätzungen des U.S. Geological Survey von 2008 tatsächlich gigantisch zu sein. Rund 13 Prozent der weltweit unentdeckten Ölvorkommen und gar 30 Prozent aller unerschlossenen Gasreserven sollen in dieser Region lagern. Zudem hat die arktische Seeroute bereits in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. 2012 haben 46 Schiffe bereits rund 1,3 Millionen Tonnen entlang  der russischen Nordküste transportiert, während es im Jahr zuvor nur 820.000 Tonnen waren. Rußland habe bereits eine Behörde zur Schiffahrtsüberwachung entlang dieser Route gegründet, berichtete Stratfor. Insbesondere die EU und China dürften an diesem Seeweg künftig Interesse zeigen, da hierdurch »Flaschenhälse« wie der Suezkanal umschifft werden könnten.
Trotz der enormen Kosten und ungeheuren technischen Hürden gibt es bereits erste Anstrengungen zur Erschließung der arktischen Ressourcen. Mitte Mai haben der russische Konzern Rosneft und der norwegische Ölmulti Statoil mit der gemeinsamen Erschließung eines Ölfelds in der Barentssee begonnen. Zudem sollen bei diesem russisch-norwegischen Joint Venture – an dem Statoil 33 Prozent hält – noch drei weitere Ölfelder in Rußlands Osten, im Meer von Ochotsk, erschlossen werden. Mittels Investitionen von rund 1,9 Milliarden Euro wollen beide Konzerne die Weltwirtschaft mit zwei weiteren Milliarden Tonnen Öl beglücken, die nach ihrer Verbrennung durch die globale kapitalistische Verwertungsmaschine den Klimawandel weiter beschleunigen werden.
Die unkalkulierbaren Risiken, die mit der Ölförderung in der Arktis verbunden sind, zeigte die Serie von Pannen und Beinahe-Katastrophen, mit der sich der wahrlich katastrophenerfahrene Ölmulti Royal Dutch Shell bei seiner ersten großen Arktisexpedition blamierte. Bei seinen Versuchen, vor der Nordküste Alaskas Ölbohrungen durchzuführen, wurden zwei Schiffe so stark beschädigt, daß sie zwecks Instandsetzung die nächsten Hafen anlaufen mußten. Nachdem eine Bohrplattform des Ölmultis vor der Küste einer alaskischen Insel gestrandet war, entzog die Obama-Administration im vergangenen März Shell die Erlaubnis für weitere Probebohrungen, solange das Unternehmen nicht einen neuen »integrierten Plan« vorlege, wie Innenminister Ken Salazar formulierte. Shell zeigte sich uneinsichtig: Der Konzern sehe sich »weiterhin seinem Programm zum Aufbau einer arktischen Ölförderung verpflichtet«, drohte ein Unternehmenssprecher. Das wird noch heiter werden.


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