Woran glauben eigentlich Menschen, die keine Religion haben? Wie beantworten sie für sich die wichtigsten Sinnfragen im Leben? Fast ein Drittel aller Deutschen gehört keiner Religionsgemeinschaft mehr an – doch wie entscheiden diese Menschen dann für sich ethische Fragen, wie zum Beispiel die Frage nach dem Leben nach dem Tod oder dem Sinn des Lebens? Die Philosophin Rita Kuczynski ist dieser Frage in ihrem Buch “Was glaubst du eigentlich“, erschienen im Ch. Links Verlag, nachgegangen und hat 80 Menschen zu ihren Vorstellungen von richtig und falsch, von gut und böse, von Lebenssinn und Spiritualität befragt. Herausgekommen ist ein beeindruckendes Buch, das zeigt, dass es eine lebendige Spiritualität jenseits der etablierten Religionen gibt.
von Mira Sigel
Bereits im Vorwort spricht die Autorin einen bisher vielfach unbeachteten Fakt an: Die Konfessionslosen werden bei der moralischen Konsensbildung häufig ausgeschlossen, so als hätten sie kein Mitspracherecht, weil sie eben nicht glauben. Die organisierten Atheisten, die gegen diese Umstand entschieden ankämpfen, stellen dabei nur eine kleine Minderheit unter den Konfessionslosen dar und bilden daher nur eine winzige Lobby. Dabei ist Glauben eine menschliche Universalie, wie die Autorin festhält:
Die Fähigkeit, glauben zu können, ist ein Grundvermögen der Menschen. Sie ist eine anthropologische Grundfähigkeit, so wie das Denken. Alle Menschen denken und alle Menschen glauben. Ohne diese Fähigkeiten wären die Menschen nicht überlebensfähig.
Jeder Mensch glaubt an etwas
Andere Menschen sind nicht aus einer bewussten Entscheidung konfessionslos, sondern weil sie es für sich nie abschließend reflektiert haben. Für das Buch wurden je 40 Menschen aus den alten und den neuen Bundesländern interviewt. Die Interviewfragen unterschieden sich aufgrund der historischen Besonderheiten in den beiden Teilen Deutschlands, so wurden zum Beispiel Menschen aus den neuen Bundesländern gefragt, ob sie schon einmal erlebt hätten, dass Menschen aufgrund ihres Glaubens diskriminiert würden.
Es gibt ihn, den Glauben, den Glauben ohne Gott. Jeder Mensch glaubt. Es ist eine Vorverurteilung, wer nicht an Gott glaube, habe überhaupt keinen Glauben. Wahr ist: Nicht jeder Mensch glaubt an Gott. Und: Diese Tendenz ist seit etwa 300 Jahren steigend. Die einen glauben an die Menschenrechte, die anderen an ihre Mutter, wieder an die Evolution oder an die Liebe, nochmal andere glauben an Karl Marx oder an die Kraft der Edelsteine.
Die Sozialisation beeinflusst den Glauben
Deutlich werden bei den Fragen die unterschiedliche Antworten von Menschen, die in Ost- und Westdeutschland sozialisiert wurden. Menschen aus Ostdeutschland hatten in den Interviewssehr viel weniger Konflikte mit der Kirche und ihrer Glaubensdoktrin als Menschen aus Westdeutschland.
Die Antworten der Interviewten hängen zum Teil eng mit ihrer Lebenswirklichkeit zusammen. So schreibt Nikolas, Biologe:
Ich glaube an die Vernunft und an den Verstand, in den Grenzen, die uns die Natur gesetzt hat […]
Oder eine 40jährige Mutter:
Ich glaube an nichts Großes mehr. Ich glaube an meine Kinder.
Sinnfragen ohne Glauben?
Auch die Frage nach dem Sinn des Lebens wird von Menschen ohne Religion in den meisten Antworten so beantwortet, dass erst ihr eigenes Handeln ihm einen Sinn verleiht oder dass sie schlicht daran interessiert sind, ein möglichst gutes Leben zu haben. Andere verfolgen ein bestimmtes politisches Ziel oder wollen anderen helfen. Einige geben sogar an, sie wüssten schlicht nicht, welchen Sinn ihr Leben habe, aber es sei ihnen auch nicht weiter wichtig.
Auch bei den Werten zeigt sich Überraschendes. Die Menschen ohne Religion teilen die Werte religiöser Menschen, was das menschliche Zusammenleben angeht, ohne diese auf das Dogma einer Konfession zurückzuführen. Die Autorin spürt in ihren Interviews auch auf, dass Menschen ohne Konfession sogar diskriminiert werden, zum Beispiel in bestimmten Gegenden Süddeutschlands und das zu einer regelrechten Wut auf die Kirche führt. Bestimmte Begriffe wie “heilig” gehören normalerweise nicht zum Wortschatz konfessionsloser Menschen. Auch kritische Äußerungen zu den Feiertagen sind von den Interviewten zu hören, da sie gezwungen werden, an ihnen teilzunehmen, also nicht einkaufen können usw. Spirituelle Erlebnisse erfahren die Konfessionslosen auf Konzerten, in der Natur oder im Theater, wo sie mit vielen Menschen zusammenkommen und ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl oder Verbundenheit mit der Natur erleben. Trost finden sie bei Freunden, Familien oder sogar in der Musik und der Literatur.
Sterben ohne Hoffnung auf Erlösung
Das letzte Kapitel des Buches widmet sich dem wohl schwersten Thema: Dem Sterben, dem Sterben ohne Gott. Wie stirbt man, ohne die Gewissheit an ein Leben ohne Tod, an einen Gott, der einen liebevoll erwartet, mit dem mitunter erschreckenden Gedanken, dass dahinter nur das Nichts wartet? Die Autorin spricht von der “Entzauberung des Todes”. Er ist ein naturwissenschaftlich nachvollziehbarer Prozess. Der Friedhof ist nicht mehr der zentrale Ort für die letzte Ruhe. Viele lassen sich verbrennen und die Asche anonym verstreuen. Sterbewälder ohne feste Grabsteine sind groß in Mode. Auch mit der Eventualität, dass es nach Tod nicht mehr weiter geht, haben sich die meisten Konfessionslosen arrangiert. So lautet eine der Antworten:
Nein, für mich geht da nichts weiter. Man lebt nur in der Erinnerung der Menschen weiter, denen man nahestand. Da schwebt keine Seele irgendwo rum.
Die Autorin zeigt, wie sehr das Denken der Aufklärung dazu geführt hat, dass die Menschen sich überhaupt für die Freiheit von der Religion enscheiden können, wie viele der Gedanken von Kant und Co. Einfluss gefunden haben in ihr Weltbild. Deutlich wird auch in den Interviews, dass es selbst unter jenen, die sagen, sie glauben nicht, Zweifler gibt, ob es nicht doch da draußen noch etwas gibt, was über den reinen Verstand hinaus geht. Man weiß ja nie.
Das Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu, zu verstehen, wie sich Spiritualität und Weltsicht jenseits der etablierten Religionen und ihrer Dogmen entwickelt hat und dass Glauben als menschliche Universalie sich beständig weiterentwickelt – ein Bereich, der bisher viel zu wenig Beachtung erfahren hat. Rita Kuczynski hat einen wichtigen Grundstein dafür gelegt.
Mira Sigel
[Übernahme von Die Freiheitsliebe]