Zusammenfassend schreibt sie u.a.: “Die Vorstellung einer Verbindung bestimmter Wertvorstellungen mit Religion(nen) hat eine lange Tradition. So verweist beispielsweise die Bezeichnung christliches Abendland auf die häufig nicht hinterfragte Annahme, die europäische Identität und ihre ‘Wertegemeinschaft’ sei mit der Religion des Christenstums verbunden. (…) Die verschiedenen Spielarten des zeitgenössischen Satanismus können als Teil der gesamtgesellschaftlichen multreligiösen und multikulturellen Realität gelten. Religiöse Identitäten, die bisher häufig durch Geburt in eine bestimmte Religion erlangt werden, werden immer häufiger durch individuelle Religionswahl und Religionsausübung beeinflußt.” (S. 241-244)
Fügmann konstatiert zwar auch eine seit den 1970er Jahren weltweit verstärkte “Renaissance des Religiösen”. Aber auch eine damit einher gehende Privatisierung des Religiösen: “Privatisierung des Religiösen bedeutet (…), dass sich religiös relevante Themen verstärkt an subjektiven, individuellen Bedürfnissen orientieren.” (S. 243/244) Eine Feststellung, die die Amtskirchen und amtskirchenfreundliche Politiker nicht gerne hören, denn das bedeutet ja nicht zuletzt doch ein “weg von den Kirchen”.
Ob nun der Satanismus eine Religion ist oder nicht, darauf gibt Fügmann eine Antwort, indem sie sich auf den Ethnologen Clifford Geertz bezieht, demzufolge Religion ein Symbolsystem innerhalb von Kultur sei. Obwohl viel dafür späche, will die Autorin Satanismus aber nicht als Religion definiert wissen.
Dagmar Fügmann zeichnet in ihrer Arbeit ein aussagekräftiges und wertneutrales Bild von der Entstehungsgeschichte, der Organisationsstruktur, Mitgliedschaftserwerb und internen Rangsystemen sowie von grundlegenden Lehrinhalten und Praktiken verschiedener satanischer Organisationen. Insbesondere von den dominierenden und weltweiten agierenden, der “Church of Satan” und des “Temple of Set” (beide in den USA entstanden), sowie zweier kleinerer deutscher Gruppen: “In Nomine Satanas” und “Current of Set”.
Ausführlichst geht sie auf die von Anton Szandor LaVey in der Walpurgisnacht 1966 gegründete “Church of Satan” ein. Bemerkenswerterweise führt siehier eine Aussage LaVeys an, warum er denn seine Religion Satanismus nenne und nicht beispielsweise Humanismus. Sinngemäß heißt es bei La Vey: Humanismus sei keine Religion. Das sei einfach nur eine Lebensweise ohne Zeremonien und Dogmen. Der Satanismus dagegen habe Zeremonien und Dogmen, denn diese seien für Menschen notwendig. Und nach La Vey seien Gott/Götter nur Erfindungen der Menschen, seine Konzeption sei dagegen, dass jeder Mensch sein eigener Gott sei.
Was Dagmar Fügmann an Lehrinhalten und Praktiken (Rituale, Zeremonien und Magie), so den “Neun Satanischen Aussagen”, den “Elf Regeln der Erde”, den “Neun Satanischen Sünden” oder den fünf Punkten des “Pentagonal Revisonism” zusammengetragen hat, möge jeder selbst nachlesen. Vieles davon könnte ein Humanist durchaus unterschreiben. Was den Satanismus aber ganz entschieden vom Humanismus abgrenzt, ist, dass “der Gedanke der Gleichheit (auch im Sinne von Gleichbehandlung) aller Menschen abgelehnt wird” (S.87).
Ähnlich ausführlich wird auch auf eine Abspaltung von der “Church of Satan”, den “Temple of Set” eingegangen. Dieser ist ins kalifornische Handelsregister z.B. als “Non-profit Church” eingetragen.
Hervorhebenswert am Kapitel über über die deutsche Gemeinschaft “In Nomine Satanas” ist eine detaillierte Beschreibung eines Rituals, an dem Fügmann offiziell teilnehmen durfte.
Am interessantesten und aufschlußreichsten sind für den Rezensenten jedoch die Kapitel 3 bis 5 dieser Dissertation/dieses Buches. Hier werden die Antworten auf Fragebögen an praktizierende Satanisten ausgewertet. Vor allem aber werden die Antworten ausführlich referiert; die zusammengestellten O-Töne sprechen eine deutliche Sprache. Auffällig ist dabei, daß alle Personen, die sich an der Umfrage beteiligt hatten, westdeutsch sozialisiert sind. Und daß alle einkommensmäßig und bildungsmäßig deutlich über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen würden.
Aus der Vielzahl der Antworten seien hier im O-Ton nur einige wiedergegeben:
“Das bewusst werden nicht in Herr-Sklave-Religion leben zu müssen (nur wenn du dich zu Lebzeiten in den Staub wirfst, wird dir auch ein Platz im Jenseits reserviert).” (S.160)
“Der Großteil der Bevölkerung ist eh eher atheistisch eingestellt oder nur noch auf dem Papier christlich.” (S.171)
bzw.
“…Geschichte zeigt aber, dass Religion überwiegend als Werkzeug benutzt wurde, um Menschen zu unterdrücken, auszubeuten und gefügig zu machen.” (S.176)
Auf die Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gebe heißt es u.a.: “Darum kümmere ich mich nach meinem Ableben.” oder “Das Leben findet VOR dem Tod statt.” (S.203)
Zusammengefaßt: Die Aussagen der aktiven Satanisten zu Wertvorstellungen stehen in einem diametralen Gegensatz zu den Behauptungen der Zollitsch, Huber und Schneider, die meist unwidersprochen in der veröffentlichen Meinung verbreiten dürfen, daß ausschließlich Christen-Menschen über Moral und Werte verfügen würden. Zwar richtet sich das in erster Linie gegen Nichtgläubige, letztlich aber eben auch gegen alle Andersgläubigen.
Kritisch geht Fügmann mit den “Experten” von Evangelischer Zentralstelle für Weltanschuungsfragen u.a. Kommissionen und Gremien ins Gericht: Diese würden dem Satanismus eine Entwertung, eine Umwertung aller allgemeingültigen und christlichen Werte vorwerfen, ohne aber jemals genauer darauf einzugehen, welches denn diese allgemeingültigen und christlichen Werte seien…
Hierzu schreibt Fügmann: “Eine Um- oder gar Entwertung der von mir hinterfragten Wertvorstellungen lässt sich zumindest bei den von mir interviewten Satanisten nicht pauschal, sondern nur in einigen Punkten (signifikant) feststellen.” (S.285) Unterschiede, die z.b. bedingt sind durch satanische Auffassungen vom Ideal einer de facto Ständegesellschaft (Meritokratie statt Demokratie).
Bemerkenswert ist nebenbei auch dies: Selbst die bescheidene, begrenzte Auswahl aus der Satanisten-Szene widerspiegelt das religionssozialistische Bild Deutschlands, einschließlich der deutlichen Unterschiede von West und Ost. Die Autorin stellt ihre Erhebungen in einen Vergleich mit den Daten der “World Values Survey” (WVS). Auch letztere Erhebung deckt viele der Aussagen der befragten Satanisten. (Beide stützen auch die Daten von fowid – der humanistischen Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland).
Auffällig ist, daß sowohl die Antworten von Satanisten (bei Fügmann) als auch von Ostdeutschen (WVS) zeigen, daß in deren Wertekatalog solche Werte wie Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung des Menschen, sexuelle Selbstbestimmung, Achtung vor dem geborenen Leben, Verantwortungsbereitschaft, Ehrlichkeit usw. einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen als in den Antworten einer noch überwiegend amtskirchlich geprägten Teilgesellschaft West!
Und wieviel Menschen umfaßt nun die satanische Szene heute in Deutschland? Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Fügmann gibt daher hier Schätzungen der von ihr Befragten wieder: Demzufolge sind es hierzulande wohl nur zwischen 200 bis 500 Menschen in den festgefügten Gemeinschaften; die Zahl der individuell tätigen Satanisten betrage zwischen 2.000 und 5.000 Menschen.
Die Arbeit wird abgerundet durch einen umfangreichen Anhang.
Alles in allem sollte das Buch der Religionswissenschaftlerin Dagmar Fügmann unbedingt in die Hände von möglichst vielen Religions- und Kirchenkritikern gelangen. Denn dieses vermittelt auch Atheisten, Freidenkern und Humanisten wertvolles Fakten- und Argumentationsmaterial.
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]
Dagmar Fügmann: Zeitgenössischer Satanismus in Deutschland – Weltbilder und Wertevorstellungen im Satanismus. Hardcover. 398 S. mit Abb. Tectum-Verlag Marburg 2009. 29,90 €, ISBN 978-3-8288-2101-9
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