Welcome to Hotel Madrid!

Von Demo4punkt0 @demo4punkt0

Zeitungsmeldung vom 5. Dezember 2011 (»El País«):

— Polizeiliche Räumung des Hotels »Madrid« und des Theaters »Albéniz«. –– Die Polizei hat die Besetzer des Hotels »Madrid« und des Theaters »Albéniz« geräumt. Die Operation begann um 7.00 Uhr morgens, daran beteiligt waren etwa 20 Mannschaftswagen der Polizei und 200 Beamte der Spezialeinheiten zur Niederschlagung von Aufständen (»antidisturbios«), welche die Zugänge beider Gebäude, die auch durch einen Tunnel miteinander verbunden sind, versiegelt haben. Trotz dieser unterirdischen Verbindung gehören die Hausbesetzer unterschiedlichen Gruppierungen an. Die Besetzung des Hotels »Madrid« geschah durch Teilnehmer der Bewegung 15-M, während die Besetzer des angrenzenden Hotels »Albéniz« jede Verbindung zu den Empörten leugneten.
Die Polizei vertrieb 93 Personen aus dem Hotel und 10 weitere aus den an das Theater angrenzenden Gebäuden. Sie alle erhalten eine Anzeige wegen unrechtmäßiger Inbesitznahme von Immobilien. Die Räumung ging ohne besondere Vorkommnisse vonstatten, 29 Personen, die keine Ausweispapiere bei sich führten, wurden zur Identifizierung zum Erkennungsdienst überführt. Der Polizeieinsatz war durch ein Madrider Gericht angeordnet worden; in beiden Gebäuden stellte die Polizei nach ihren eigenen Angaben mehrere Stichwaffen sicher, außerdem wurden in den oberen Stockwerken des Theaters mehrere Hanfpflanzen aufgefunden. —

Was hatte es mit den Hausbesetzern im Hotel Madrid auf sich, warum hatten Empörte, die sich der Bewegung 15-M zurechnen, ein Hotel besetzt gehalten?

Unmittelbar nach der Großdemonstration vom 15. Oktober entschloss sich eine Gruppe Indignados, das sehr zentral, in unmittelbarer Nähe des Platzes Puerta del Sol, gelegene Gebäude des ehemaligen Hotel Madrid zu besetzen, um dort eine Art zentraler Anlaufstelle einzurichten. Bei dem Hotel Madrid handelt es sich um ein fünfstöckiges Gebäude, das seit einigen Jahren leer stand und sich in einem entsprechenden Zustand befand. Trotzdem war ein Großteil der Zimmer noch mit Möbeln ausgestattet und die Stromversorgung war funktionstüchtig. Wasser gab es hingegen nicht. Eigentümer des Gebäudes ist eine spanische Immobiliengruppe, die zahlreiche weitere Objekte in spanischen Städten aber auch im Ausland besitzt. Nach der Inbesitznahme der Immobilie lief die bereits erprobte Maschinerie der Selbstorganisation der Indignados an: Innerhalb weniger Tage hatten sich Arbeitsgruppen zusammengefunden, die die Stockwerke und Räume des Hotels in Aufgabengebiete unterteilten. Die Reinigung des Gebäudes begann, Schlösser wurden ausgetauscht und Zugänge gesichert. Thematische Asambleas wurden abgehalten, es gab eine Asamblea General aller »Hotelbewohner« und  Blogs, Facebook-Seiten und ein Twitter-Accounts wurden eingerichtet.

Wenige Tage nach der Inbesitznahme fand eine Asamblea mit ca. 400 Teilnehmern auf einem nahe gelegenen Platz statt. Hauptthema der Debatte war der künftige Verwendungszweck des Hotels. Die Vorschläge zur Nutzung variierten dabei zwischen der Einrichtung einer Art Übergangswohnheim für zwangsgeräumte Bürger, der Schaffung selbstverwalteten Wohnraums für die Allgemeinheit oder der Bereitstellung von Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose. Auch der Vorschlag, die Sitzungen der Arbeitsguppen von Acampada Sol und die verschiedenen Stadtteil-Asambleas fortan im Hotel abzuhalten, erhielt einigen Zuspruch. Weitere Ideen waren die Einrichtung von Ausbildungswerkstätten für Arbeitslose oder einer Essensausgabe für bedürftige Bürger. Letztendlich bestand der einzige echte Konsens, der zu diesem Zeitpunkt erreicht werden konnte, jedoch darin, das Gebäude und die Räumlichkeiten so gut als möglich in Stand zu setzen, von Schutt und Müll zu befreien und die hygienischen Zustände zu verbessern.

Nach einigen Tagen und weiteren Asambleas wurde vereinbart, dass das Haus zwar für alle Bedürftigen offen stehen, aber hauptsächlich als Anlaufstelle für Opfer der Hypothekenkrise dienen sollte. Der Bedarf dafür ist riesig: allein in Madrid gab es im ersten Halbjahr 2011 5.225 Zwangsräumungen – ein Anstieg von fast 35% gegenüber dem Vorjahreszeitraum! Viele Opfer dieser Räumungen kommen nicht bei Familienangehörigen, Freunden oder Nachbarn unter und landen samt ihren Familien auf der Straße. Dank einer Besonderheit des spanischen Hypothekenrechts sind sie bei Zahlungsausfall nicht nur ihre Wohnungen los, sondern sitzen auch weiterhin auf den Hypothekenschulden. Gleichzeitig gehen Schätzungen davon aus, dass im ganzen Land ca. eine Million neu gebauter Wohnungen und ganze Industrieparks leer stehen, zum Teil bereits seit Jahren. Aufgrund der geplatzten Immobilienblase und der anhaltenden Wirtschaftskrise werden diese derzeit weder verkauft noch vermietet, da dies den Markt mit Immobilien fluten und die Immobilienpreise abstürzen lassen würde. Insgesamt ein unhaltbarer Zustand, der Tausende Bürger auf Jahre hinaus in Elend und Verarmung stürzt. In ihrem Protest gegen diesen Zustand und zur Rechtfertigung der Besetzung leerstehender Gebäude berufen sich die Empörten auf Artikel 47 der spanischen Verfassung, der allen Bürgern ein »Recht auf eine würdige und angemessene Wohnung« gibt – ein Grundrecht, dass das deutsche Grundgesetz nicht kennt.

Leerstehende neue Wohnanlage in Spanien.
Bildquelle: Noticias Bancarias, 6. Juli 2011

Im Hotel Madrid richteten die Indignados nun eine Rezeption ein, um Neuankömmlingen Informationen zu geben und und ihnen ein Zimmer zuzuteilen. Die Stockwerke wurden in unterschiedliche Bereiche unterteilt: die unteren Stockwerke dienten für Versammlungen, die oberen wurden als Wohnraum für Zwangsgeräumte (teilweise auch ältere Leute), Obdachlose und einige der Indignados selbst zur Verfügung gestellt. Es gab Pläne, eine vorhandene große Dachterrasse zu begrünen und in einen urbanen Gemüsegarten zu verwandeln. Die wichtigste Abteilung des Hauses war jedoch das so genannte »Wohnungsamt« (oficina de vivienda), eine Einrichtung der Bürgerinitiative Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH – Plattform der Hypothekenbetroffenen), die allen Bürgern juristischen Rat und Hilfestellungen in Sachen Miet- und Hypothekenrecht anbot und die Verwaltung des Wohnraums im Hotel übernahm. Bei dieser Plattform handelt es sich um eine der über 200 Bürgerinitiativen, Interessenvertretungen und sonstigen Organisationen, die im Mai dem Ruf auf die Straße von Democracia Real Ya! gefolgt waren und aus denen die Bewegung 15-M hervorging.

Trotz der schwierigen hygienischen Bedingungen – Wasser für sanitäre Einrichtungen musste mit Eimern von der Straße geholt werden – war der Wohnraum im Hotel innerhalb kürzester Zeit vergeben, deshalb wurde ein weiteres Wohngebäude in der Stadt besetzt, nach wenigen Tagen aber freiwillig (aufgrund von Verhandlungen mit dem Eigentümer) wieder geräumt. Das Modell machte Schule: im November kam es unter anderem in Sevilla, Barcelona und León zur Besetzung größerer Gebäude, in denen Wohnraum für Opfer der Zwangsräumungen geschaffen werden sollte. Dabei wurde stets deutlich gemacht, dass die Unterkunft im Hotel Madrid und den anderen besetzten Gebäuden für die Bedürftigen als auch für die Empörten selbst immer nur vorübergehender Natur sein sollte. Die Einrichtung eines neuen dauerhaften Protestcamps, als auch das dauerhafte, über eine Notsituation hinausgehende Wohnen wurden ausdrücklich von der Asamblea ausgeschlossen.

Eingang zum »befreiten« Hotel Madrid im November 2011.
Bildquelle und weitere Bilder auch aus dem Inneren des Hotels: Blog HotelMadrid15O

Anfang Dezember 2011 hielten sich nun regelmäßig über 100 Menschen im Hotel Madrid auf, zuzüglich der Tagesgäste und der dort arbeitenden Indignados von 15-M und der Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH). Neben der Nutzung als Wohnraum gab es auch die angesprochenen Informationsmöglichkeiten, Raum für Stadtteil-Asambleas sowie kulturelle Veranstaltungen, wie Filmvorführungen. Für den Fall einer Räumung war verabredet worden, das Gebäude friedlich und ohne Widerstand zu verlassen. In den frühen Morgenstunden des 5. Dezembers war es nun soweit, die Polizei stand mit 20 Mannschaftswagen und 200 Beamten vor der Tür und drang ins Haus ein. Den Berichten zufolge gingen die Beamten dabei nicht zimperlich vor und trieben die Menschen teilweise im Schlafanzug aus dem Haus. Einigen wurde verwehrt, ihre Habseligkeiten mitzunehmen. Unter den Geräumten befanden sich auch fünf Großfamilien samt Kindern und Großeltern. Alle Anwesenden erhielten eine Anzeige wegen unrechtmäßiger Inbesitznahme einer Immobilie, 29 Personen wurden zur Feststellung ihrer Personalien auf die Polizeiwache gebracht, zehn wurden vorübergehend festgenommen wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz (ley de extranjería), da sie sich anscheinend ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in Spanien aufhielten.

Unmittelbar im Anschluss an die Räumung wurden sämtliche Zugänge des Hotels zugemauert. Die Empörten kündigten für den selben Abend eine Demonstration an, zu der ca. 2000 Teilnehmer erschienen. Anschließend zogen Menschengruppen durch die Stadt und besetzten ein weiteres Gebäude in der Straße Calle Tres Peces, das sie für leerstehend hielten. Nach kurzer Zeit stellte sich jedoch heraus, dass dieses Gebäude lediglich renoviert wurde. Nach Gesprächen mit dem Eigentümer zogen die Besetzer freiwillig wieder ab und der Eigentümer sah von einer Anzeige ab.

Die Suche nach neuen Häusern wird so lange weitergehen, wie Menschen mit Gewalt aus ihren Wohnungen geräumt werden und gleichzeitig ein unglaublicher Überfluss an leerstehendem Wohnraum besteht.

Während der Räumung

Versiegelung des Gebäudes am 5.12.2011

Bildquelle: FotogrAcción

Ein besonders extremes Beispiel für das Vorgehen der Behörden gegen Bürger, die ihre Wohnungen aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten verlassen müssen, findet sich in den Ereignissen des 15. Dezember 2011. Im andalusischen Granada wurde eine 61-jährige Frau um 8.00 Uhr morgens von 50 bewaffneten Polizisten in voller Kampfmontur aus ihrer Wohnung vertrieben, die sie friedlich verließ. Bereits elf Stunden vor dieser angekündigten Räumung war die die Polizei um 21.00 Uhr des Vorabends angerückt, hatte die Straße mit Mannschaftswagen abgeriegelt und Stellung vor dem Haus der Frau bezogen. Mit dieser drastischen Maßnahme sollte verhindert werden, dass die Plataforma Stop Desahucios (»Stoppt Zwangsräumungen«) der Bewegung 15-M den Beamten zuvorkommen und die Räumung verhindern konnte. Derartige nach Flashmob-Art organisierte Verhinderungen von Zwangsräumungen durch eine Überzahl von Menschen in den zu räumenden Wohnungen finden derzeit täglich in ganz Spanien statt.

(Quelle dieses Bildes und des Berichts: público.es, 15.12.2011)