Ich lebte in einer Struktur, die absolutistisch katholisch sozialisiert war. Nicht praktizierend katholisch, betend, gottesdienstlich versiert - nein, nur sozialisiert. Und auch nur in dieser Sozialisation war jener Katholizismus absolutistisch - seine irdische oder auch himmlische Macht hatte er schon lange verloren. Der Katholizismus, konfessioneller Hegemon in Bayern, wirkt bis heute in alle Lebensbereiche hinein. Nicht mal besonders penetrant - doch er hat über Jahrhunderte die Denk-, Fühl- und Umgangsweise der Menschen miteinander beeinflusst und geformt. Ich kam aus einer Struktur, die den Islam in dieses Geflecht einbaute, weil er kein wesentlicher Fremdkörper war, sondern gewiss ganz gut ins "katholische Konzept" passte. Nicht alles davon - aber vieles. Was Politiker aus der CSU an aufgestauten Aggressionen gegen den Islam ablassen, deckt sich mit der Lebenswirklichkeit im katholisch Sozialisierten eher selten. Jedenfalls passt das Islamische besser in katholisch sozialisierte Strukturen als in protestantisch beschulte. Das merke ich jetzt, da ich in einer eher protestantisch formierten Gegend lebe, besonders stark.
Es soll hier keine Verherrlichung stattfinden. Weder das Katholische noch das Islamische ist ausgesprochen paradiesisch; nichts von beiden in Reinkultur empfinde ich für besonders attraktiv. Man muß schon viel Phantasie aus seiner Kindheit übrig behalten haben, um die jeweiligen aufgeheiligten Schriften für bare Münze nehmen zu können. Jedoch hat beides Strukturen hervorgebracht, die so tödlich wie lebensbejahend waren, so kriegerisch wie pazifistisch, so fürsorglich wie gefühlskalt. "Die Christenheit, die Christenheit. Sie hat gute Krankenschwestern hervorgebracht und ebenso tüchtige Mörder", schrieb Dürrenmatt in Der Verdacht - er hat vergessen hinzuzufügen, dass das für das Islamische gleichfalls gilt, jedoch für das Protestantische, das ja auch Christenheit ist, teilweise nicht so stark. Der hatte statt Nächstenliebe calvinistische Prädestination zu bieten - man merkt das teilweise bis heute; aus dieser Tradition entspringt manche protestantisch dressierte Region. Stammlande des neoliberalen Lebensentwurfes, nannte ich das unlängst - die Lehre von der Auserwähltheit als Heilsagenda für alle, als Massenartikel: das ist die neoliberale Folgeerscheinung Calvins und seiner Parteigänger.
In gewissem Sinne wohnt auch jenen Moslems, die nicht nach Allahs Geboten leben, die aber doch islamisch sozialisiert sind, die Umma inne. Dieser gemeinschaftliche Gedanke, der Rücksichtnahme und Fürsorge begründet, der familiäre und freundschaftliche Bande stärkt und die Hilfe an Schwachen für ein göttliches Gebot hält, findet sich bruchstückhaft durchaus in katholisch beschulten Gegenden auch. Manchmal mit religiösen Tand nebenher, manchmal auch ohne. Im Protestantischen scheint dieser Halt durch die Prädestinationslehre gänzlich verhunzt - und natürlich, bevor Einwand kommt: auch im Katholischen hat die programmatische Egomanie unserer Zeit schon lange Anhänger gefunden.
Gleichwohl gehen einer Gegend, die doch seit Jahrhunderten protestantisch ist, Attribute ab, die man vielleicht andernorts noch kennt. Es fehlt eine gewisse Demut, was als Freiheit eines Christenmenschen definiert wird und die schließt manchen Egoismus und manche Ich-Bezogenheit mit ein - das ist nicht grundsätzlich schlecht, denn sich selbst leiden zu können, sich selbst Gutes zu wünschen, ist Grundlage dafür, auch andere zu schätzen, ihnen Gutes zu wollen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, rührt als biblisches Bonmot aus dieser Einsicht. Nur ist dieses Hier stehe ich, ich kann nicht anders! in extremo dann das Gegenteil dessen. Der Katholik kniet sich hin vor seinen Gott - der Protestant tut das nicht, er ist mit seinem Gott auf Augenhöhe; er persifliert somit ungewollt Meister Eckhart und dessen Aufzäunung von hinten, dass nämlich Gott nichts wäre ohne ihn - was feuerbachianisch und atheologisch betrachtet auch richtig ist. Nicht falsch verstehen, ich verlange keinen Kotau vor einen Gott, den es vermutlich gar nicht gibt. Nur habe ich da manchmal den Eindruck, dass diese mangelnde Ehrfurcht das Protestantische dazu verleitet, sich selbst als die Göttlichkeit auf Erden zu betrachten. Es ist nämlich durchaus ein Unterschied, wie der Katholizismus mit der modernen Welt umgeht und wie es die Evangelischen Kirche in Deutschland tut. Lehnt das Katholische drastische Eingriffe in die Schöpfung ab, weil sie den Menschen in eine Rolle des Lebensschöpfers und -nehmers bugsieren - man denke hier an irgendwelche Genphantasmagorien, die es erlauben würden, zwischen lebenswerten und lebensunwerten Leben zu scheiden, bevor dieses Leben überhaupt begonnen hat -, so tut das Protestantische pikierter, launischer, sagt Einerseits, sagt Andererseits. Mit Bauchschmerzen ist man dann nicht dafür, aber auch nicht dagegen. Denn man solle auch Bedenken, der Herr habe dem Menschen diese Gabe ermöglicht, vielleicht hat er sich dabei was gedacht - aber bitte, liebe Schäfchen, tut das mit Maßhaltung, mit Respekt und übertreibt es nicht. Aber dafür sind wir trotzdem nicht! Eine Theologie der Eigenverantwortung, die keine moralischen Grenzwerte anerkennt. Ähnlich verhält es sich mit den sozialen Fragen unserer Zeit. Auch da kein eindeutiges Bekenntnis, sondern ein Sichannähern an neoliberale Positionen - die sicherlich auch im Katholizismus Einzug finden, dort aber gelinder, mit Widerspenstigkeit in petto. Dieses "sich mit Bauchschmerzen winden" erklären auch die Grünen stets; die sind moralisch nie dafür, realpolitisch sagen sie dann aber trotzdem Ja und zeigen auf ihren schmerzenden Bauch, der ihrer Zustimmung geschuldet ist. Mag sein, dass das auch an der parteilichen Zusammensetzung liegt, daran, dass mehr Mitglieder aus protestantischem denn aus katholischem Hause stammen.
Natürlich ist das protestantisch Sozialisierte kein Joachim Gauck, der sich gerade als Synonym für das Unkritische bewirkt - und es ist nicht Wolfgang Huber, der wie ein Gerhard Schröder der EKD fungierte - und auch kein Peter Hahne, der seine von Großmama inspirierte Das-gehört-sich-nicht!-Theologie bei Springer verbeitet. Aber es hat dennoch etwas von dieser Art von "Theologie" übernommen - vor einem Gott geht man gottesdienstlich nicht auf ein Kniebrett; vor der weltlichen Macht allerdings schon. Ich merke das dieser Tage ganz häufig. Als ich zuletzt schrieb, dass ich in den Stammlanden des Neoliberalismus gelandet bin, da ließ ich mitklingen, dass es durchaus auch am protestantischen Fundament liegt, dass es sich hier so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Ich will aber auch gar nicht so tun, als sei ein protestantisch sozialisiertes Umfeld etwas gar Schreckliches - auch das hat Vorzüge; in so einer Gesellschaft gilt das individuelle Leben mehr, man funkt niemanden hinein, alles ist distanzierter. Manchmal braucht man das ja! Es gibt keine Umma, vor der man Rechenschaft ablegen müsste, Nächster ist man sich nur selbst - sonntags legt sich die Gemeinde lediglich Rechenschaft über die Kollekte ab, und dann ist auch schon gut, mehr muß nicht sein. Distanz ist manchmal praktisch, aber für einen gesunden Zusammenhalt selten förderlich. Es ist schon wahr, dass das Anderssein in Bayern, katholischer Flecken das es ist, nicht immer einfach ist - der Rahmen ist abgesteckt und darin sollte man sich bewegen, will man als Mensch glaubhaft bleiben. Das ist der Nachteil der Geschichte. Denn es entsteht dieses Mia-san-mia-Gefühl, dieses Herabschauen auf andere. Das wiederum gibt es hier in Hessen weniger, wenngleich man natürlich auch nicht zu anders sein soll - wie anders man sein darf, sah man ja, als Ypsilanti mit einer Gruppe "ganz besonders Anderer" koalieren wollte. Dieser Stoizismus birgt natürlich auch Nachteile, denn er ist es auch, der soviele Entwicklungen hinnimmt, nicht dagegen ankämpft. Thomas Mann schrieb über Luther, er sei die "riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens" gewesen, dessen "antipolitische Devotheit [...] für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt" habe. Man muß es halt hinnehmen, ist die schüchterne Redewendung.
Dass der Bundespräsident seinen Amtsvorgänger revidierte, dass er den Islam für nicht zu Deutschland und dem Abendland zugehörig empfahl, ist natürlich kein Wunder. Als protestantischer Theologe wohnt ihm die natürliche Distanz zu einer Gruppe, die weniger distanziert zwischen ihren Mitgliedern wirkt, inne. Für ihn ist der Islam so fremd, weil ihm Gruppenkohäsion fremd ist. Er ist der Präsident des deutschen Neoliberalismus, weil er aus einer Tradition kommt, die ihm diese Rolle auf den Leib schneiderte. Das heißt wiederum nicht, dass dieses Amt nicht auf jemand erfüllen könnte, der katholisch sozialisiert wurde - und es heißt auch nicht, dass jeder protestantisch erzogene Mensch grundsätzlich neoliberal ist. Aber bei auserwählten Menschen mit Sendungsbewusstsein erleichtert es die Aufgabe doch ungemein.
Ich gebe zu, eigentlich betreibe ich Themenverfehlung. Wieviel aus meiner neuen Heimat steckt in diesem Text? Hätte er nicht einfach ganz lapidar Das Katholische und das Protestantische heißen können? Er erzählt ja nicht explizit aus der Gegend, in der ich nun lebe. Nicht direkt, da stimme ich schon zu - aber das Hiersein hat nochmal nachgezeichnet, was ich schon vormals ahnte, was ich darüber las und nie so richtig glauben konnte. Hier laufen so viele Entwicklungen auf Landesebene schief. Das Bildungswesen ist marode; die Gesundheitspolitik mit ihrer Freude daran, Krankenhäuser zu privatisieren, nimmt hier überhand; Bürgerinteressen wie die um die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen, kümmern nicht; die unbegrenzten Ladenöffnungszeiten setzen den Angestellten im Handel drastisch zu; dazu der Filz zwischen Landesverband der Union und Wirtschaft; eine relativ unkritische Medienlandschaft - das Programm des HR als eines der wenigen Dritten Programme, das überhaupt keine kritischen Magazine oder Reportagen fabriziert. So viele Schlachtfelder - und noch viel mehr. Das neoliberale Lebensgefühl hat die hessische Gesellschaft ergriffen - das protestantische Fundament nutzte dieser Entwicklung. Wobei: Die hessische Gesellschaft gibt es übrigens gar nicht, sie wird gekünstelt inszeniert - demnächst mehr hierzu.
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Es soll hier keine Verherrlichung stattfinden. Weder das Katholische noch das Islamische ist ausgesprochen paradiesisch; nichts von beiden in Reinkultur empfinde ich für besonders attraktiv. Man muß schon viel Phantasie aus seiner Kindheit übrig behalten haben, um die jeweiligen aufgeheiligten Schriften für bare Münze nehmen zu können. Jedoch hat beides Strukturen hervorgebracht, die so tödlich wie lebensbejahend waren, so kriegerisch wie pazifistisch, so fürsorglich wie gefühlskalt. "Die Christenheit, die Christenheit. Sie hat gute Krankenschwestern hervorgebracht und ebenso tüchtige Mörder", schrieb Dürrenmatt in Der Verdacht - er hat vergessen hinzuzufügen, dass das für das Islamische gleichfalls gilt, jedoch für das Protestantische, das ja auch Christenheit ist, teilweise nicht so stark. Der hatte statt Nächstenliebe calvinistische Prädestination zu bieten - man merkt das teilweise bis heute; aus dieser Tradition entspringt manche protestantisch dressierte Region. Stammlande des neoliberalen Lebensentwurfes, nannte ich das unlängst - die Lehre von der Auserwähltheit als Heilsagenda für alle, als Massenartikel: das ist die neoliberale Folgeerscheinung Calvins und seiner Parteigänger.
In gewissem Sinne wohnt auch jenen Moslems, die nicht nach Allahs Geboten leben, die aber doch islamisch sozialisiert sind, die Umma inne. Dieser gemeinschaftliche Gedanke, der Rücksichtnahme und Fürsorge begründet, der familiäre und freundschaftliche Bande stärkt und die Hilfe an Schwachen für ein göttliches Gebot hält, findet sich bruchstückhaft durchaus in katholisch beschulten Gegenden auch. Manchmal mit religiösen Tand nebenher, manchmal auch ohne. Im Protestantischen scheint dieser Halt durch die Prädestinationslehre gänzlich verhunzt - und natürlich, bevor Einwand kommt: auch im Katholischen hat die programmatische Egomanie unserer Zeit schon lange Anhänger gefunden.
Gleichwohl gehen einer Gegend, die doch seit Jahrhunderten protestantisch ist, Attribute ab, die man vielleicht andernorts noch kennt. Es fehlt eine gewisse Demut, was als Freiheit eines Christenmenschen definiert wird und die schließt manchen Egoismus und manche Ich-Bezogenheit mit ein - das ist nicht grundsätzlich schlecht, denn sich selbst leiden zu können, sich selbst Gutes zu wünschen, ist Grundlage dafür, auch andere zu schätzen, ihnen Gutes zu wollen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, rührt als biblisches Bonmot aus dieser Einsicht. Nur ist dieses Hier stehe ich, ich kann nicht anders! in extremo dann das Gegenteil dessen. Der Katholik kniet sich hin vor seinen Gott - der Protestant tut das nicht, er ist mit seinem Gott auf Augenhöhe; er persifliert somit ungewollt Meister Eckhart und dessen Aufzäunung von hinten, dass nämlich Gott nichts wäre ohne ihn - was feuerbachianisch und atheologisch betrachtet auch richtig ist. Nicht falsch verstehen, ich verlange keinen Kotau vor einen Gott, den es vermutlich gar nicht gibt. Nur habe ich da manchmal den Eindruck, dass diese mangelnde Ehrfurcht das Protestantische dazu verleitet, sich selbst als die Göttlichkeit auf Erden zu betrachten. Es ist nämlich durchaus ein Unterschied, wie der Katholizismus mit der modernen Welt umgeht und wie es die Evangelischen Kirche in Deutschland tut. Lehnt das Katholische drastische Eingriffe in die Schöpfung ab, weil sie den Menschen in eine Rolle des Lebensschöpfers und -nehmers bugsieren - man denke hier an irgendwelche Genphantasmagorien, die es erlauben würden, zwischen lebenswerten und lebensunwerten Leben zu scheiden, bevor dieses Leben überhaupt begonnen hat -, so tut das Protestantische pikierter, launischer, sagt Einerseits, sagt Andererseits. Mit Bauchschmerzen ist man dann nicht dafür, aber auch nicht dagegen. Denn man solle auch Bedenken, der Herr habe dem Menschen diese Gabe ermöglicht, vielleicht hat er sich dabei was gedacht - aber bitte, liebe Schäfchen, tut das mit Maßhaltung, mit Respekt und übertreibt es nicht. Aber dafür sind wir trotzdem nicht! Eine Theologie der Eigenverantwortung, die keine moralischen Grenzwerte anerkennt. Ähnlich verhält es sich mit den sozialen Fragen unserer Zeit. Auch da kein eindeutiges Bekenntnis, sondern ein Sichannähern an neoliberale Positionen - die sicherlich auch im Katholizismus Einzug finden, dort aber gelinder, mit Widerspenstigkeit in petto. Dieses "sich mit Bauchschmerzen winden" erklären auch die Grünen stets; die sind moralisch nie dafür, realpolitisch sagen sie dann aber trotzdem Ja und zeigen auf ihren schmerzenden Bauch, der ihrer Zustimmung geschuldet ist. Mag sein, dass das auch an der parteilichen Zusammensetzung liegt, daran, dass mehr Mitglieder aus protestantischem denn aus katholischem Hause stammen.
Natürlich ist das protestantisch Sozialisierte kein Joachim Gauck, der sich gerade als Synonym für das Unkritische bewirkt - und es ist nicht Wolfgang Huber, der wie ein Gerhard Schröder der EKD fungierte - und auch kein Peter Hahne, der seine von Großmama inspirierte Das-gehört-sich-nicht!-Theologie bei Springer verbeitet. Aber es hat dennoch etwas von dieser Art von "Theologie" übernommen - vor einem Gott geht man gottesdienstlich nicht auf ein Kniebrett; vor der weltlichen Macht allerdings schon. Ich merke das dieser Tage ganz häufig. Als ich zuletzt schrieb, dass ich in den Stammlanden des Neoliberalismus gelandet bin, da ließ ich mitklingen, dass es durchaus auch am protestantischen Fundament liegt, dass es sich hier so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Ich will aber auch gar nicht so tun, als sei ein protestantisch sozialisiertes Umfeld etwas gar Schreckliches - auch das hat Vorzüge; in so einer Gesellschaft gilt das individuelle Leben mehr, man funkt niemanden hinein, alles ist distanzierter. Manchmal braucht man das ja! Es gibt keine Umma, vor der man Rechenschaft ablegen müsste, Nächster ist man sich nur selbst - sonntags legt sich die Gemeinde lediglich Rechenschaft über die Kollekte ab, und dann ist auch schon gut, mehr muß nicht sein. Distanz ist manchmal praktisch, aber für einen gesunden Zusammenhalt selten förderlich. Es ist schon wahr, dass das Anderssein in Bayern, katholischer Flecken das es ist, nicht immer einfach ist - der Rahmen ist abgesteckt und darin sollte man sich bewegen, will man als Mensch glaubhaft bleiben. Das ist der Nachteil der Geschichte. Denn es entsteht dieses Mia-san-mia-Gefühl, dieses Herabschauen auf andere. Das wiederum gibt es hier in Hessen weniger, wenngleich man natürlich auch nicht zu anders sein soll - wie anders man sein darf, sah man ja, als Ypsilanti mit einer Gruppe "ganz besonders Anderer" koalieren wollte. Dieser Stoizismus birgt natürlich auch Nachteile, denn er ist es auch, der soviele Entwicklungen hinnimmt, nicht dagegen ankämpft. Thomas Mann schrieb über Luther, er sei die "riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens" gewesen, dessen "antipolitische Devotheit [...] für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt" habe. Man muß es halt hinnehmen, ist die schüchterne Redewendung.
Dass der Bundespräsident seinen Amtsvorgänger revidierte, dass er den Islam für nicht zu Deutschland und dem Abendland zugehörig empfahl, ist natürlich kein Wunder. Als protestantischer Theologe wohnt ihm die natürliche Distanz zu einer Gruppe, die weniger distanziert zwischen ihren Mitgliedern wirkt, inne. Für ihn ist der Islam so fremd, weil ihm Gruppenkohäsion fremd ist. Er ist der Präsident des deutschen Neoliberalismus, weil er aus einer Tradition kommt, die ihm diese Rolle auf den Leib schneiderte. Das heißt wiederum nicht, dass dieses Amt nicht auf jemand erfüllen könnte, der katholisch sozialisiert wurde - und es heißt auch nicht, dass jeder protestantisch erzogene Mensch grundsätzlich neoliberal ist. Aber bei auserwählten Menschen mit Sendungsbewusstsein erleichtert es die Aufgabe doch ungemein.
Ich gebe zu, eigentlich betreibe ich Themenverfehlung. Wieviel aus meiner neuen Heimat steckt in diesem Text? Hätte er nicht einfach ganz lapidar Das Katholische und das Protestantische heißen können? Er erzählt ja nicht explizit aus der Gegend, in der ich nun lebe. Nicht direkt, da stimme ich schon zu - aber das Hiersein hat nochmal nachgezeichnet, was ich schon vormals ahnte, was ich darüber las und nie so richtig glauben konnte. Hier laufen so viele Entwicklungen auf Landesebene schief. Das Bildungswesen ist marode; die Gesundheitspolitik mit ihrer Freude daran, Krankenhäuser zu privatisieren, nimmt hier überhand; Bürgerinteressen wie die um die neue Landebahn am Frankfurter Flughafen, kümmern nicht; die unbegrenzten Ladenöffnungszeiten setzen den Angestellten im Handel drastisch zu; dazu der Filz zwischen Landesverband der Union und Wirtschaft; eine relativ unkritische Medienlandschaft - das Programm des HR als eines der wenigen Dritten Programme, das überhaupt keine kritischen Magazine oder Reportagen fabriziert. So viele Schlachtfelder - und noch viel mehr. Das neoliberale Lebensgefühl hat die hessische Gesellschaft ergriffen - das protestantische Fundament nutzte dieser Entwicklung. Wobei: Die hessische Gesellschaft gibt es übrigens gar nicht, sie wird gekünstelt inszeniert - demnächst mehr hierzu.
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