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Ich war der falschen Ausfallstraße gefolgt. ›Von hier geht es in den Süden‹, sagte die Grenzpolizei. Weit und breit nur Busch. Puerto Madryn ähnelte in seiner Größe nunmehr einer Lego-Landschaft. Ich schaffte ein Auto anzuhalten. Zwischen Vater – am Steuer – und Mutter – auf dem Beifahrersitz – turnte ein kleines Mädchen herum. Und wenn sie für einen Moment stehen blieb, dann nur, um mich noch eindringlicher mit ihren dunklen Augen anzuschauen und Mate-Tee zu trinken. Das verwunderte mich, schließlich ist Mate-Tee in Wirkung und Geschmack äußerst belebend und selbst manchen Erwachsenen viel zu herb. Die kleine Familie fuhr mich bis zu einer Anschlusstrasse, von wo ich eine weitere Stunde bis zur nächsten Tankstelle stiefelte. Ich legte meine Sachen an den Straßenrand. Und wartete. Der Verkehr war spärlich. Hinter mir schien die Sonne. Vor mir verdunkelten sich die Wolken. Die Farben der Steppe bissen in den Augen. Das Grün vereinzelter Bäume wirkte vor dem Hintergrund des Himmels wie mit kräftigen Wachsmalern aufgetragen. Als die Hunde sich an mich gewöhnten, ich mich auf längeres Warten einstellte, hupte ein LKW von einem Reifenlager her. Ich schnappte meine Rucksäcke, ran rüber und öffnete die Tür. Ich fragte, ob er in Norden fahre, und er antworte, ob ich Mate-Tee möge, ich antwortete ›ja!‹ und schon fuhren wir los.
Zu Beginn solcher Fahrten bin ich häufig euphorisch, ich rede viel – trotz Sprachschwierigkeiten. Vielleicht erwarten die Trucker das auch, quasi als Dank, der von den langen eintönigen Fahrten ablenkt. Diesmal machte ich einen Hehl um mein Desinteresse an Fußball. Ich wollte dem Gespräch mehr Tiefe geben, neue Worte lernen. Es überraschte nicht, dass auch er einst wie fanatisch Fußball spielte – Rugby und Basketball, die in Argentinien auch ungemein populär seien, interessierten ihn nie sonderlich. Was in Argentinien Maradona ist, ist in Brasilien Pelé. Ich fragte nach Rivalitäten diesbezüglich – er aber antwortete schmunzelnd nur: ›Maradona! Natürlich Maradona! Aber ich bin auch Argentinier!‹. Dann reichte mir abermals Mate-Tee. ›Danke‹ sagte ich nicht. Denn ein ›Danke bedeutet in diesem Ritual, bei dem der Becher abwechselnd aufgegossen und dem anderen gereicht wird, dass man nicht mehr möchte. Und dann fragte er nach Bayern München und Schalke und ich antwortete, dass Bayern den Fußball kaputt macht. Und wäre ich in der Lage, dann hätte ich gesagt ›die haben mit Fußball soviel gemein, wie die CDU mit dem C, oder die SPD mit dem S‹.
Ich erinnere mich noch, wie ich mit Sebastian immer samstags zu 96-Heimspielen ging. 9.000 Zuschauer, 3. Liga, Nieselregen, 9° Celsius, kandierte Erdnüsse und die Irren, die, wenn 96 mal ein Tor schoss, die Fankurve in Bürgerkriegsgebiet verwandelten. Aber häufig blieb es bei einem 0:0 oder 0:1 – und man muss sagen, dank Sievers kam es nicht schlimmer. Und dann ging man nach Hause, ein bisschen traurig, dass 96 wieder da blieb, wo es war und bleiben sollte, und dachte nervös an den anstehenden Montag, von dem man sich im Falle eines Sieges hätte ablenken können … dachte also an die Doppelstunden Französisch, das ich verstehen sollte, obwohl ich die Deutsche Sprache noch nicht einmal verstand, geschweige denn sprach – denn ich machte meinen Mund zu jener Zeit nur zwecks Nahrungsaufnahme auf. Meine Deutschlehrer sprachen wie Kirchenpfarrer, die wissen, dass man ihnen längst nicht mehr zuhört, und sie sprachen über Bücher, die in einer Sprache verfasst waren, die uns Jugendlichen nichts sagte, und die Lyrik Heines und Büchners, wurde wissenschaftlich seziert – und was kann man Schlimmeres mit Lyrik anstellen? Und die Wissenschaft, ja, nichts fürchtete ich mehr als die Wissenschaft der Mathematik, denn unser Mathematiklehrer, das war ein Psychopath, der immer sein Schlüsselbund durch den Klassenraum warf, in der Hoffnung einen der hoffnungslosen Zahlen-Legastheniker zu erschlagen. Aber glücklicherweise war er – Brillenträger – ein schlechter Werfer, denn seine Wut übermannte sein Anvisieren. Und ich saß in einem für ihn ungünstigen Winkel, immer am äußersten Rand, wo ich und mein Atem sich bemühten, nicht mehr Aufsehen zu erregen, als eine Topfblume aus Plastik. Aber dieses Aufschlagen von rostfreiem Stahl auf lasiertem Holz, das ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, denn diese Klänge erinnerten mich an Triangeln und Klanghölzer, an all jene Instrumente, die diejenigen ›spielen‹ mussten, die nichts spielen konnten. Und ich weiß noch, wie ich mit Sören Bengt-Oelfke dazu verdonnert wurde, über das Wochenende den Quintenzirkel auswendig zu lernen, weil ich am Freitag in der 6. Stunde – so kurz vor Freiheit – da stand: Da stand, vor der großen grünen Tafel, wie ein Neandertaler vor einem Rechenschieber, Hektoliterweise Blut und Wasser schwitzend, mit dem Stück Kreide in der zitternden, kalten nassen Hand, mutterseelenallein vor der ganzen Klasse, und Fr. Birt, diese Feinfühligkeit in Person, verstand nicht, dass ich nicht verstand. Und es war als würde man einem Kind den Begriff ›Schmerz‹ zu erklären versuchen, einem Kind, dass noch nie schwer gestürzt oder traurigem Herzen war. Und beim Heiligen Franziskus … es wäre mir einfacher gefallen, Siska, die da hinten so mit ihren Freundinnen tuschelte, meine Liebe – geteert und gefedert – vor versammeltem Gymnasium zu gestehen, als diese Landkarte Böhmischer Dörfer aufzuzeichnen.
… ›aber heute darf ich nicht mehr!‹ Und Silvio fuhr über den rechten Unterarm, der nun das Steuer heilt, und zeigte auf die Venen. Aber auch das verwunderte nicht, denn er rauchte Kette und war übergewichtig – wie bislang jeder Trucker. Er aß gerne und er aß viel. Am liebsten Fleisch, Rotes. Das Fleisch heute sei aber nicht mehr so gut – weniger zart, weniger Fett. Denn früher, da hätten die Rinder frei in den Weiten Patagoniens sich ernährt. Heute halten immer mehr Mastbetriebe Einzug, und diese füttern die Rinder mit Getreide, dass die Tiere schneller schlachtreif werden lässt, sowie Antibiotika, damit die Rinder eben wegen diesen Bedingungen nicht vorzeitig verenden. Die Regierung subventioniert jene Betriebe und überdies sei es lukrativer, Getreide und Sojabohnen anzubauen und zu exportieren. Um Fleisch zu exportieren, dafür sind die Exportsteuern zu hoch und am liebsten isst der Argentinier sein Fleisch doch selbst.
Wir verließen Patagonien. Und die sich still ändernde Flora erinnerte mich an Daheim. Und ich dachte an ein neues Wort, das ich heute gelernt hatte: ›extrañar‹ – es heißt ›vermissen‹. Es klingt so ähnlich wie ›extranjero‹, ›Ausländer‹.
Am Straßenrand zogen kleinste Schreine vorbei, von allerlei roten flatternden Fähnchen umhangen. Silvio erklärte, dass es Huldigungen zu Ehren des Gauchito Gil seien. Er gilt in Argentinien als das, was Robin Hood auf den Britischen Inseln war: Er nahm den Reichen und gab den Armen, bis ein Henker der Obrigkeit dem Geächteten sein Leben nahm. Heute gilt auch er, neben der bereits erwähnten Difunta Correa, als Patron. Und Silvio glaubte, während er hupend an den Schreinen vorbeifuhr. Er war sogar Katholik, ›aber die jungen Leute von heute‹ … und er rubbelte mit dem Zeigefinger am Daumen und sagte ›die glauben nur noch an das‹. Und ich dachte nach, über diese Welt der Trucker, auf ihren ewigen Straßen, ihren nie enden wollenden Ruten, das Zähneputzen an Raststätten, an Mate-Tee und Zigaretten, an Tankstellen-Essen, an ihre Neugier und immergleichen Fragen, ihre Frauen und Kinder, die daheim warten mussten, müssen und müssten, ihre Freude, die sie mit Lichthupe und Winken auf der gegenüberliegenden Spur grüßten, oder mit denen sie über Funk sprachen, an ihre Musik und ihre Vorstellungen von der Welt …
Wie eine buckelnde Katze sich um ein Bein windet, hatte der Schatten sich langsam um den LKW gedreht. Wenn ich jetzt mit Silvio sprach, blendete die Sonne. Immer weiter floss der Schatten in die Landschaft hinein, bis er schließlich, an weit entfernten Wäldern und Hängen, Schildern und Bauernhäusern, brach und sich erhob. Silvio bot mir noch eine an. Wir passierten immer mehr Gemeinden, deren Name in weißen Stein gehauen und an der Ruta 3 errichtet worden war. Und je wärmer die Farben wurden, umso kälter wurde die Luft, bis der Tag schließlich verglomm. Und mit jedem Kilometer wurde es dunkler und die Kilometerschilder zeigten bereits das Frühmittelalter, und wenige Generationen nach dem Tod Mohammeds in Medina, erhellte Licht das Dunkel, und Bahia Blanca stand da, in großen Lettern aus Stein.