Weil wir älter wurden. Eins.

Von Guidorohm

von Markus Michalek

Merle trägt ein Kind aus. Seit Wochen wächst ihr Bauch und jeder kann es sehen. Wir alle sehen es – nur Merle ist die Einzige, die behauptet, sie hätte sich nicht großartig verändert. Sie lässt sich keine Vorschriften machen, wie sie nun leben müsste, sagt, sie will keine Veränderung. Beharrt darauf, Cola zu trinken oder Chips zu essen, will in der Öffentlichen nicht auf den gekennzeichneten Sitzen Platz nehmen und verbittet sich seit neuestem, dass man ihr die Tür aufhält. Das sind alles keine großartigen Veränderungen, sagt sie, das sind lediglich Anpassungen. Weitere, kleine, schleichende Veränderungen aber, die hatte es außerdem geben müssen – das gibt auch Merle offen zu. Alkohol, Zigaretten, Coffein. Die heilige Dreifaltigkeit ihrer jungen Jahre, die hat sie aufgegeben. Und Merle sieht seither gesünder aus.

Weil wir älter wurden.

Ich war es nicht, der ihr dieses Kind in den Bauch gemacht hat. Aber wer es sonst war, das wissen wir nicht. Merle schweigt. Sie lächelt, sortiert ihre Musiksammlung – Platten – um die Auswahl für die nächste Woche zusammenzustellen. Ihr Kind wird Musik machen. Mein Kind wird Musik machen, sagt sie, es wird Musik machen, so wie es mein Traum war, Musik zu machen. Das will ich jetzt an mein Kind weitergeben. Dabei wäre sie nicht schlecht gewesen, aber für ganz oben, für das große Business hat es eben nicht gereicht. Und wir alle sind froh, dass es nicht gereicht hat. Dass Merle uns erhalten geblieben ist, so wie wir sie kennen und mögen. Wir sind froh, dass ihre Verzweiflung nicht ins Uferlose gewuchert ist, dass sie nicht ins Schlingern kam. Dass sie nie an einer Castingsendung teilgenommen hat; obwohl sie einmal erwähnte, sie würde es tun. Wenn das die letzte Möglichkeit wäre, sie würde es tun.

In Merles kleiner Wohnung steht ein Piano, ein altes, klassisches Ding. Wir bilden uns ein, dass sie es vielleicht von einem Schiff haben mag, oder aus einer Bar, wir wissen es nicht genau. Wir spinnen unsere Geschichten dazu und Merle schweigt. Sie lässt uns auf den Tasten klimpern, setzt sich selbst ab und an davor und spielt. Sie spielt ziemlich gut. Ihr Kind wird eines Tages neben ihr stehen und auf die Tasten drücken, während Merle spielt.

Das Piano würde sich überall gut machen, dieser schwarze Kasten mit den Kerzenständern links und rechts an den Außenseiten. Die Tasten sind gilbig. Die Farbe blättert ab. Aber der Klang ist besser, als es das Äußere des Kastens vermuten ließe. Immer wieder besserte Merle eine der gilbigen abblätternden Stellen mit schwarzem Lack aus; sie trug ihn einfach auf; aber zuvor noch ein wenig Schleifarbeit, dann erst den Lack. Aber jetzt ist Lackgeruch schlecht für das Kind.

Weil wir alle älter wurden.

Neben ihrem Piano ein Kontrabaß; und neben dem Kontrabaß zwei Gitarren. Merle, die Musikerin, die Musikstudentin, die Fußgängerzonenspielerin, die in drei Bands spielende Musikerin. Merle, die nun ein Kind zur Welt bringen wird. Merle, die nie an einer Castingshow teilgenommen hat, aber von allen Labels, die in Frage gekommen wären, eine Absage erhielt. Wir wissen immer noch nicht, wie wir ihre Musik nun benennen sollen. Es ist eben Musik. Es ist schön. Ich will nicht benannt werden, sagte Merle und stieg aus den Bands aus. Danach eröffnete sie uns, dass sie schwanger wäre.

Merle, die ihr Haar gern gezopft trägt. Merle, die sich ein Che-Konterfei oberhalb ihres linken Hüftknochen in Richtung Bauch tätowieren hat lassen, vor Jahren schon, noch bevor die erste Band kam. Che, dessen Gesicht zuerst ausbleichte und nun in die Breite gehen wird, sich ausdehnen wird, fetter wird. Merle, die ihr T-Shirt hochgeschoben hat und ihren Bauch streichelt, der immer größer wird und ihre Finger, die sich dabei in den Ernestos Strähnen verfangen, mit ihnen spielen, sie liebkosen. Merle, die ihm die Backe streichelt und ein weiteres Stück Schokoladenkuchen in sich hineinstopft, das fünfte heute. Ich habe eben Hunger und mein Kind muss essen, sagt sie. Ernesto muss essen, sagt sie und lacht.

Ich habe dieses Kind nicht in ihren Bauch gemacht. Aber es gab einen Abend, da hätte es passieren können. Da hatte Merle ihren Kontrabaß zurück an die Wand gestellt, ihr Spiel war aus. Dann löste sie ihren Zopf. Wir schwiegen und der Moment ging vorüber.
Weil wir alle älter wurden.

Weißt du denn nicht, wer der Vater ist, fragen alle, aber Merle schüttelt ihren Kopf. Wir wissen nicht, wer ihr das Kind in den Bauch gemacht hat. Mein Kind wird Musik machen, sagt sie. Im Fernsehen läuft eine Castingshow. Merle sitzt auf der Couch, wir haben ihr Platz gemacht, den besten Platz für sie freigelassen, gehen in den Werbepausen zum Rauchen auf den Balkon und achten darauf, dass die Tür fest geschlossen ist. Kein bisschen vom Nikotin soll auch nur in die Nähe des Kindes kommen, haben wir einstimmig beschlossen.

Die Kandidaten sind schlecht. Peinlich. Und bewundernswert für ihren vergessenen Stolz. Ein dicker Junge aus der Vorstadt, der in seinen zu groß geratenen Klamotten noch dicker wirkt, fliegt raus. Niemand glaubt ihm, dass sein Leben ein Haufen Scheisse ist, dass er jeden Tag kämpfen muss, um seinen Platz zu behaupten. Er wirft sein Baseballcap auf den Boden, hebt den Mittelfinger in die Kamera und beschimpft uns. Wir wären Nigger, die er alle fertig machen würde, schwule Wichser aus der Gosse und ohne Rückgrat oder Charakter. Da ist kein Reim in seiner Sprache, sagt Merle.

Der dickliche Junge und seine Gang. Schon sind Securities auf der Bühne und wollen ihn beruhigen, aber er flippt jetzt erst richtig aus. Wir würden sehen. Wir würden es sowas von sehen. Wir würden nicht wissen, was Genie ist und was Pleite. Er schreit mittlerweile. Ich zeig dir, was geht, wo du ohne Ahnung bist, weil du ein Spack bist, dabei deutet er auf die Moderatorin, sie hält sich fassungslos an ihrem Mikro fest. Die Fassungslosigkeit ist doch sowieso nicht echt, sagt Merle, die freut sich über die Quoten und die Schlagzeile in der Bild: „Dickes Ghetto-Kid flippt bei Stars on Stage aus!“ Wir lachen. Merle lacht. Ernesto lacht mit.

Die Goldkette um den Hals des dicken Jungen schlackert. Er gestikuliert immer wütender. Bewegt laufend seine Arme vor und zurück und hält die beiden Mittelfinger in die Kamera. Die Finger sind tätowiert, aber es ist nicht genau zu erkennen, was er da tätowiert hat. Seine Unterarme sind tätowiert. Am Halsansatz zeigt sich eine Tätowierung. Das hat sicher eine Menge gekostet, sagt Merle. Einer der Ordner versucht den Jungen jetzt von der Bühne zu drängen, aber der wehrt sich und beginnt um sich zu schlagen, ein paar Sekunden lang schauen wir dem Gerangel zu, dann wechselt das Bild. Jetzt wird eine Doppelhaushälfte gezeigt, und davor ein gepflegter Garten, irgendwo in der Republik. Ein kleinerer Ort, ein unwichtiger Name. Wir haben den Namen seiner Heimatstadt vergessen. Nicht aber die Bilder, wir kennen sie noch gut, vom ersten Mal, als wir sein Vorstellungsvideo gesehen hatten.

Da der Zeitraffer durchs Haus in sein Zimmer und da war die Vorstadt vorbei gewesen. Da ging es unvermittelt ums Überleben, da hingen die Bilder toter US-Rapper an der Wand, da stand der Rechner und das Keyboard und das Mikrofon und zwei Plattenspieler, Marke AEG, das Logo war nicht geschwärzt worden. Seine Mutter saß in der nächsten Einstellung im Garten auf einem Stuhl aus Rattanholz und erklärte uns, wie sehr ihr Sohn den Rap mögen würde, wie sehr sie ihm wünschte, dass aus ihm ein großer Rapper würde, wenn nur dieses Gangstertum nicht wäre, aber was solle man machen, das gehöre doch zusammen, sagte ihr Sohn immer. Ein guter Junge, das sei er wirklich. Und die nächste Einstellung zeigte ihn vor einer Mauer mit Graffitis und anderen in seinem Alter, Scherben am Boden und Kippen in der Hand. Im Hintergrund, hinter der Mauer, ein Industriegebiet, das kann doch nicht dieselbe Stadt sein, sagte Merle, vorhin war da alles flach, als man das Haus sah, da waren keine Hügel und keine Schornsteine, nirgends, nur flaches Land, bis zum Horizont, hatte Merle gesagt und darauf beharrt, dass man das Haus ja zuerst schräg von oben gesehen hätte, dass dabei der Horizont sichtbar gewesen wäre, dass es einen Schwenk um dreihundertsechzig Grad gegeben hätte und da wären keine Hügel und keine Schornsteine gewesen, so.

Weil wir alle wild diskutieren, welche Auswirkungen das alles nun auf die Schlagzeile morgen hätte, haben wir wieder nicht mitbekommen, ob Merle nun Recht hat oder nicht, ob nicht nur der Junge ein Fake ist, sondern auch das Video und schließlich einigen wir uns darauf, dass es doch egal ist, wer was faked, solange es unterhält.

Die Freunde des dicklichen Jungen aus der Vorstadt trugen keine Tätowierungen, aber die Oberarme vor der Brust verschränkt, und Muskelshirts. Breitbeinig standen sie da.

Also diese Jungs da waren echt, die hätten auf der Bühne stehen sollen, die wären weitergekommen, vielleicht, sagt Merle und streichelte ihren Bauch. Wir sind froh, dass sie nicht in einem solchen Video zu sehen ist. Dass Ernesto, der sich oberhalb ihres linken Hüftknochens ein bequemes Plätzchen eingerichtet hat, auf diese Weise der Welt erspart bleibt.

Weil wir alle älter wurden.