„Weil ich Jude bin“: In Nizza versorgt eine koschere Tafel Juden in Not

Meine Reportage in der “Jüdischen Allgemeinen”

von Robert B. Fishman

Nizza. Perle der Côte d’Azur nennt sie sich. Die Schöne, die mehrere Hunderttausend Touristen im Jahr anlockt. Paläste und teure Hotels säumen die Uferpromenade an der Baie des Anges, der Engelsbucht. Luxussanierte Stadtvillen aus drei Jahrhunderten schmücken die Boulevards in der Innenstadt. Jenseits der Bahnlinie beginnt das andere Nizza: Billige Hochhäuser aus den 60er und 70er Jahren, rußgraue Altbauten, Armut. Allein von den etwa 25.000 jüdischen Bewohnern Nizzas lebt fast jeder Zehnte von weniger als 750 Euro im Monat. Michel und Marga Grosz helfen: In einer Gasse hinter dem Bahnhof hat das Paar eine koschere Tafel eröffnet. Bedürftige bekommen hier ein komplettes Menü für zwei Euro und Hilfe in fast allen Lebenslagen.

Ein hagerer Mann hebt an einem der Tische die Hand und bittet um Ruhe. Michel Grosz erinnert mit wenigen Worten an einen kürzlich Verstorbenen. „Ihr kennt ihn alle.“  Die Menschen an den Tischen der koscheren Table Ouverte, der jüdischen Tafel, vertiefen sich ins Gebet: Kaddisch, Totengebet für einen Gast, der vielen hier zum Freund geworden ist.

Table OuverteNach dem Gedenken servieren Männer und Frauen in weißen Kitteln das Hauptgericht: Jeder bekommt seine Portion Couscous mit Merguez-Würstchen und Ratatouille-Gemüse gereicht. Jemand schenkt Wein und Wasser ein. An den freundlich gedeckten Tischen sitzen Menschen, die man anderswo in Nizza selten sieht. Mütter, die für ihre Kinder nicht genug zum Essen kaufen können oder Ältere wie der 71 jährige Micha: 1962 kam er „mit einem Koffer und 30 Francs in der Tasche“ aus Algerien. Arbeit fand er auf dem Bau, bei der Bahn und schließlich bei der Post. Trotzdem reicht seine Rente nicht für seine beiden behinderten Kinder und die blinde Frau. Ruhig und sachlich erzählt der vom Schicksal gebeugte Mann seine Geschichte. Er weiß nicht, was er ohne die Unterstützung der „Table Ouverte“ machen würde: „Ich danke diesen Menschen von ganzem Herzen für ihr Engagement.“

„Sie sind alle Menschen wie wir“, sagt Marga Grosz. Jeder erhält das gleiche Essen und die gleiche Zuwendung. „Wir wollten keine typische Armenküche“, ergänzt Gründer Michel Grosz. Weil sich der Armut meist die Falschen, die Armen, schämen, verkaufen die Grosz Essensmarken diskret in einer Ecke am Eingang. Jeder zahlt, was er kann: Zwei Euro die Armen, acht Euro Selbstkostenpreis, wer kann, gibt mehr. Dafür erhalten Mittellose ihre Essensmarke oft kostenlos. Am Tisch zeigen alle das gleiche Ticket – für Grosz eine Frage der Würde.

Michel begrüßt seine Gäste persönlich, geht immer mal wieder zu einem der Tische, um sich mit den Menschen zu unterhalten. Er kennt ihre Geschichten  – wie die von Rosi:  Mit ihren fünf Kindern lebt die 37jährige in einer Ein-Zimmer-Wohnung für 600 Euro. Ihr Mann hat sie verlassen, zahlt keinen Unterhalt. Wenn die Kinder in der Schule sind, geht Rosi putzen oder hilft alten Leuten für ein wenig Geld beim Einkaufen. Oft zahlen ihre Auftraggeber nur fünf Euro die Stunde – oder nichts. Einklagen kann sie ihren Lohn nicht: Schwarzarbeit. Jetzt soll sie noch eine Wasserrechnung von 800 Euro bezahlen. Der Vermieter repariere die Leitung nicht.

Für Notfälle hat Michel aus Spenden eine Kasse angelegt. Damit hilft er seinen Gästen, wenn sie die Miete, Strom oder Wasser nicht bezahlen können.

Auch für die Toten seiner Gemeinde sammlt Michel Grosz. Für rund 120.000 Euro hat er eine Grabstätte auf dem Nizzaer Ostfriedhof gekauft. Vor allem Gläubige quäle es, dass sie in einem anonymen Gemeinschaftsgrab bestattet würden, wenn ihre Familien ein jüdisches Begräbnis nicht bezahlen können.

Nizza ist teuer. Selbst in den günstigeren, vielerorts heruntergekommenen Vierteln im Norden kosten Mietwohnungen kaum weniger als in Paris, Tel Aviv oder München. Damit wenigstens die Kinder satt werden verzichtet Rosi oft aufs Essen. Sie sieht blass aus. Die Reparatur ihres kaputten Gebisses kann sie sich nicht leisten.

Michel Grosz hat einen Zahnarzt gefunden, der den Bedürftigen kostenlos die Zähne repariert. Drei Optiker fertigen ehrenamtlich Brillen. Ein Fleischer spendet Gutscheine für koscheres Fleisch.

„Hauptberuflicher Schnorrer“ nennt sich Michel lachend. Äußerlich unterscheidet er sich der 70jährige kaum von seinen Gästen: Kariertes Hemd unter einem schlichten dunkelblauen Pullover, einfache Hose. In der Stadt fällt er nur durch seine schwarze Kipa auf. Bedroht fühle er sich deswegen in Nizza nicht. Wenn überhaupt höre er von arabischen Jugendlichen mal dumme Kommentare. „Als ehemaliger israelischer Soldat kann ich mich wehren, falls mich wirklich mal jemand angreift.“

Seine Familie stammt aus Ungarn. 44 seiner Angehörigen haben die Shoa nicht überlebt. Seine Eltern sind rechtzeitig ins damalige Palästina geflohen. Dort kam er 1943 zur Welt. Aufgewachsen in Israel arbeitete er als junger Mann auf dem Bau in Deutschland, studierte später Betriebswirtschaft, wurde Manager und Unternehmensberater. Er hat gut verdient und zusammen mit seiner Frau Marga eine auskömmliche Rente.

Weil er „Jude ist“ widmet er sein Leben den Menschen, die „nicht so viel Glück hatten.“ Ein Jude müsse gute Taten, Mitzvot erbringen. Das Ziel sei, sein Olam Haba seine zukünftige Welt zu erreichen. Jeder Mensch besitze „ein N’Eschamá, eine Seele, mit einem eigenen Ziel, das man vielleicht in seinem vorherigen Leben nicht erreicht hat. Wenn jemand stirbt, bevor er ankommt, kehrt seine Seele in einem anderen Menschen zurück, um diese Aufgabe abzuschließen.“

Vor 14 Jahren hat Michel seine Bestimmung gefunden. Im Fernsehen sah er einen Bericht über eine achtzigjährige Dame, die in Nîmes eine Tafel gegründet hatte. „Die Frau hat mich mit ihren leuchtenden Augen und ihrer Energie beeindruckt. Ich habe sie sofort angerufen“, erinnert sich Michel. Er fuhr hin, blieb vier Tage und brachte das Konzept mit nach Nizza, wo er einen Saal der jüdischen Gemeinde für die koschere „Table Ouverte“ mietete. Im vergangenen Jahr haben sie dort 15.000 koschere Mahlzeiten verteilt. Die Hauptgerichte liefert die Küche des jüdischen Altersheims, Vor- und Nachspeisen bereiten ehrenamtliche Helfer zu. Michel ist mit dem Werk zufrieden. Jetzt fühle er sich  „schalem“, vollständig und im Schalom, im Frieden.

Der Glaube gibt ihm die Kraft für sein Engagement. Sein Hauptgesellschafter, sagt Michel lachend, „ist der große Boss da oben“ und zeigt mit dem Finger zur Decke. Der finde immer eine Lösung.

Zwischen zwölf und 20 Ehrenamtler erledigen bei der Tafel die gesamte Arbeit – von der Küche bis zur Buchhaltung. Michels Ehefrau Marga ist eine von ihnen. Sie freut sich, „nützlich zu sein“ und den Menschen in Not ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Viele der ehrenamtlichen Helfer seien gute Freunde geworden. „Wir werden nicht bezahlt. Da gibt es keine Konkurrenz untereinander.“

Die meisten Helfer der offenen koscheren Tafel in Nizza sind Rentner, aber auch ein Pilot ist dabei, der im Liniendienst fliegt. Neben Juden helfen ein paar „Gojim“ (Nichtjuden) in der Küche oder beim Servieren: Michel Fénard hat „das Glück, gesund und vermögend zu sein“. Er möchte Menschen helfen, denen das Schicksal weniger gewogen ist. „Das klassische Motiv für ehrenamtliches Engagement“, analysiert er nüchtern. Als Wissenschaftler mag er den scharfen jüdischen Geist, dem Europa viel zu verdanken habe. Hier finde er neben einer sinnvollen Aufgabe auch „Esprit und Spiritualität“.

Über die Jahre haben sich Gäste und Gastgeber kennen gelernt. Die meisten duzen sich, hören einander aufmerksam zu, lachen und genießen die Achtung voreinander.

Michel Grosz empfindet die Tafel mittlerweile als Routine. „Sie brauchen mich nur noch als Geldsammler.“ Deshalb plant er sein nächstes Projekt: Weil die Vermieter in Nizza von jedem Bewerber einen Einkommensnachweis und eine Mietbürgschaft verlangen, finden Geringverdiener und Arbeitslose kaum noch eine Bleibe. Ältere hätten gar keine Chance mehr. „Wer eine Wohnung mieten will, muss nachweisen, dass er im Monat das Dreifache der Miete verdient“, erklärt Michel. „Wenn Du 600 Euro im Monat hast und ein Ein-Zimmer-Apartment schon in einer schlechten Gegend 400 kostet, kannst du dir die Wohnungssuche sparen.“ Deshalb will Michel mit Vermögenden eine Gesellschaft gründen, die Unterkünfte mietet und an arme Wohnungssuchende untervermietet.

„Wir haben hier 400, 500 Leute die regelmäßig zum Essen kommen und noch mal so viele Arme, die da draußen umherirren.“, sagt er. Als Betriebswirt rechnet er „wie ein Geschäftsmann“. So kommt er auf ein Ausfallrisiko von 15 – 20.000 Euro im Jahr. „Für viele Reiche sind 20.000 Euro so viel wie für dich 50 Euro – oder weniger.“ Die könnten als Gesellschafter seiner gemeinnützigen Wohnungsfirma das Risiko von Mietausfällen gemeinsam tragen und Verluste von der Steuer abschreiben. Für den Einzelnen sind das keine großen Summen mehr.

Info: La Table Ouverte, 1 bis. Rue Boissy d’Anglas, 06000 Nice, Tel. +33.4.93816123, Handy: +33.6.09634150

 


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