Weihnachten auf Yorkshire-Art

Von Feder

Invitation for Christmas Dinner

Dieses Jahr wird der Weihnachtsschmaus am 25. Dezember zu einem besonderen Abenteuer, denn diesmal frohlockt nicht die schonungslos gemästete polnische Gans an deutschen Kartoffeln, sondern ein nobler englischer Truthahn in Cranberry Sauce. Neugierig und mit allerlei alkoholischen und non-alkoholischen Geschenken im Kofferraum machen wir uns auf den Weg nach Bradford, wo uns die Familie meines Engländers schon sehnsüchtig erwartet. Ich bringe meine Schwester und eine gute Freundin als germanischen Beistand mit. Der Empfang ist herzlich und angenehm überschwänglich. Von wegen, der Engländer mag keine Berührungen. Hier wird jeder geknuddelt, liebkost und auf die Wange geknutscht, was das Zeug hält. Das habe ich übrigens selbst auch von wildfremden Briten oft genug erlebt. Aber das ist eine andere Geschichte …

In der Küche brutzelt und köchelt es, zischt und dampft es in Töpfen und Pfannen. Kaum sind die Jacken aufgehängt, die Schuhe in die Ecke gewürfelt, werden auch schon Portwein und Geschenke bereitgestellt. Dann erfolgt die Bescherung, die wir im kleinen Kreis und ganz nach deutscher Sitte schon am Heiligabend zelebriert haben. Mal ehrlich, Geschenke auspacken mit ungeputzten Zähnen im blendenden Morgenlicht, wie es der Engländer tut, ist doch nun wirklich nicht akzeptabel.

Kaum versehe ich mich, sitze ich plötzlich auf einem Zweisitzersofa und werde in Windeseile unter bunten Päckchen begraben. Ähnlich ergeht es meinen Berliner Mitstreiterinnen. Jeder zaubert für jeden etwas Kleines, „aber wirklich nur was Kleines“ aus dem Ärmel. So verliert sich im Handumdrehen die anfängliche Beklemmung im Haus einer fremden Familie. Die Augen glitzern ringsherum, Küsse und Umarmungen werden ausgetauscht, Dinge herumgereicht. Zwischen gefühlvoll dahingehauchten „Ohs“ und „Ahs“ verstreicht die Zeit und alles löst sich auf im sanften Nebel einer ungewöhnlich herzlichen Heimeligkeit.

Dann heißt es, Essen fassen und wir werden in einen Nebenraum gebeten, der mich beim ersten Anblick schon zu Tränen rührt. Im Zentrum des Zimmers steht eine festlich geschmückte Tafel, in deren Mitte ein liebevoll arrangiertes Weihnachtsgesteck trohnt. An jedem Platz liegt ein großer goldener Christmas Cracker bereit. Es ist so ziemlich perfekt. Besser hätte es Frau Müller aus Schmargendorf auch nicht herrichten können, denke ich bei mir. Doch da meldet sich schon gleich wieder die englische Understatement-Allür: „Den Tisch haben wir noch schnell zusammengezimmert. Passt halbwegs. Ach, und die Stühle sind nicht wirklich bequem. Sie sind aus den Sechzigern, standen jahrelang auf dem Dachboden herum.“ Ja, das macht jetzt natürlich alles kaputt, denke ich schmunzelnd, als auch schon der erste Rotwein geköpft wird.

Die festlich geschmückte Tafel

Während Mutter und Tochter noch fleißig in der Küche hantieren, verdrücken wir schon mal ein, zwei Gläschen und lauschen den humorigen Pub-Geschichten des Familienvaters. Als der Wein langsam beginnt, uns zu Kopf zu steigen, wird der erste Gang aufgetischt. Beinah fliegend schwirren Teller, Schüsseln, Saucieren um uns herum und füllen den Tisch mit allerlei köstlich dampfenden Speisen. Der tranchierte Truthahn sieht zum Reinbeißen aus. Dann beginnt rotierend das Fleißige-auf-den-Teller-Schaufeln. Das gestaltet sich knifflig, denn von den circa 20 Ingredienzen möchte man zumindest je ein Teilchen auf seinem Teller wissen. Auf meinem landen mehrere Knospen Rosenkohl, der berühmt berüchtigte Yorkshire Pudding, ein Scheibchen Truthahn, ein hackfleischähnliches Küchlein, ein Häufchen Kartoffel- und Möhrchenbrei, ein Löffelchen Füllung, ein Würstchen im Speckmäntelchen, ein, zwei Kleckschen Cranberry- und Apfelsoße und sicherlich noch viele andere Dinge, die mir im Moment entfallen sein müssen. Das gesamte Ensemble wird mit einem kräftigen Schwank brauner Soße übergossen und fertig ist der nordenglische Essenshügel auf dem Weihnachtsteller.

Der Weihnachtstruthahn samt Zubehör

Doch gerade will ich mir die erste Gabel voll in den Mund schieben, da beginnt am Tisch plötzlich ein wildes Geschunkel. Eh ich mich versehe hält jeder ein Zipfel seines Crackers in den Händen. Dann geht alles blitzschnell. Jeder zieht kräftig an einem Ende und mit einem lustigen Knall fliegen allerlei Gegenstände im Raum umher. Was 1847 als harmloser Marketing-Gag eines Süßigkeitenfabrikanten begann, ist heute intergraler Bestandteil des englischen Christmas Dinners. Der gewitzte Londonder Unternehmer namens Tom Smith ließ die bunten Knallbonbons zunächst mit Liebesbotschaften befüllen. Heute befinden sich darin allerlei skurrile Kleinigkeiten.

Verschmitztes Partyhütchen

Witzigerweise erhält reihum jeder ein Gimmick, das eher dem Tischnachbarn zugedacht sein könnte. So als hätte sich der britische Humor auch hier wieder einen lustigen kleinen Scherz nicht verkneifen können. Die Mama freut sich über ein Werkzeugset, während der Papa verschmitzt seine neuen Ohrringe bestaunt. Mein schreibfauler Freund fischt einen Kugelschreiber aus seinem zerplatzten Cracker und ich bekomme ein nigelnagelneues Löffelset nach Hausfrauenart. Doch ich komme irgendwie nicht hinterher, da trägt jeder um mich herum plötzlich eine silberne Papierkrone auf dem Kopf. Ich überlege noch kurz, ob ich nicht doch schon selbst mächtig einen in der Krone habe, aber dann erinnere ich mich, dieses Prozedere in einem Wikipedia-Artikel gelesen zu haben. Es ist sozusagen der Startschuss zum Festmahl. Und wieder heben sich die Gläser. “Merry Christmas!” Nun beginnt das eifrige Verköstigen.

Und dann erlebe ich tatsächlich eine Überraschung: Meine Geschmacksknospen bleiben heil und zeigen sich sogar äußerst erfreut. All die bunten kulinarischen Häufchen auf meinem Teller schmecken wider Erwarten einfach köstlich. Ich muss da wohl tatsächlich etwas redigieren. Dieser Teil der englischen Küche ist gar nicht mal so übel. Um ehrlich zu sein, genau mein Geschmack. Besonders überrascht bin ich vom berühmt berüchtigten Yorkshire Pudding, der im Prinzip weniger Pudding als Pastetentäschchen ist. Er hat eine angenehme, brotähnliche Konsistenz, wie ich finde, und kann mit allerlei Zutaten selbst befüllt werden. Er erinnert mich auch irgendwie an die runde Blätterteigtasche, aus der man Ragout fin essen würde. Eines Tages werde ich mich einmal selbst an die Herstellung des Leckerchens machen, beschließe ich und schaufle Bissen für Bissen in meinen Mund. Gabeln und Messer klappern eifrig umher.

Inzwischen fließt uns allen schon reichlich Ethanol durch die Venen. Zeit für ein paar Witze nach britischer Manier. Auch die hält der Christmascracker als echter Socialiser bereit. Auf kleinen Zettelchen überschlagen sich die Kalauer. Hier mal zwei eindrucksvolle Beispiele:

Was erhält man, wenn man einen Elefanten und einen Schlauch kreuzt?
Na?
Einen Jumbojet natürlich.

Und für die ganz Gewitzten:

Was ist gelb und springt auf allen Torten rum?

Na, also, das ist jetzt wirklich nicht schwer!

TARZIPAN.

Glasklar!

Mit reichlich Spiritus im Blut, lässt sich der irrwitzige Klamauk einigermaßen mit Humor nehmen. Und weil man schon mal dabei ist, folgen auch gleich noch ein paar lustige Pub-Anekdoten, die der Herr des Hauses zum Besten gibt.
Dann sind die Teller leergeschmaust und es wird Zeit für den Nachtisch. Und natürlich steht der gefürchtete Christmas Pudding auf dem Speiseplan. Im Grunde freue ich mich darauf, denn aus Neugier würde ich doch gern einmal selbst probieren, wie sich das traditionelle englische Dessert auf der deutschen Zunge so anfühlt. Also zögere ich nicht lange und schaufle die süß-saftige mit knackigen Riesenmandeln gespickte Trockenfruchtmischung, auf der ein cremiges Sahnehäubchen thront, auf meinen Löffel. Eigentlich ist das Topping nicht wirklich mit unserer Schlagsahne vergleichbar, die wir uns bei allen denkbaren Gelegenheiten auf Kuchen und Nachtisch hauen. Es ist eher eine etwas zähere Masse, auch Custard Sauce genannt. Eine Mischung aus Milch und Eiern, die durch langsames Erhitzen verdickt wird. Ich lasse die Mischung von meiner Zungenspitze aus am Gaumen entlang hinuntergleiten. Bah, ich kann Rosinen im Grunde nicht ausstehen, aber die fluffige Sahne drumherum lässt alles angenehm miteinander verschmelzen. Ich lasse anstandshalber nur einen kleinen Rest in der Schüssel, muss aber zugeben, dass alles halb so wild war. Vermisst habe ich allerdings den Brandyüberguss und das Flambierspektakel beim Servieren. “Wir hatten keinen Brandy da”, zieht sich der Hausherr nüchtern aus der Affäre. Na gut, den Rest denke ich mir einfach dazu.

Und so plätschert der Nachmittag langsam in den Abend über. Auf dem Tisch häufen sich die leeren Weiß- und Rotweinflaschen, und während der Herr des Hauses immer noch seine neu erworbenen Diamantohrringe gegen spitzzüngige Kommentare seiner Sitznachbarin verteidigt, werden die Bäuche träger und die Augen müder. Und es wird allmählich Zeit aufzubrechen aus der dickenschen Heimeligkeit, hinaus in die kühlende Abendluft der englischen Weihnachtszeit.