Wehre Dich, sonst wird Dir auch noch das genommen, was Du hast!

Von Wernerbremen


Ihr Lieben,
heute Abend möchte ich Euch eine Geschichte von Bertolt Brecht erzählen:

„Der hilflose Knabe“

„Herr Keuner sprach vor Studenten über die Unart vieler Menschen, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen und erzählte ihnen aus diesem Anlass die folgende Geschichte:
Einen Jungen, der am Straßenrand saß und vor sich hin weinte, fragte ein vorübergehender Mann nach dem Grund seines großen Kummers.“

„Ich hatte zwei Groschen für das Kino zusammen“, sagte der Knabe, „da kam ein anderer Junge und riss mir einen Groschen aus der Hand“, und er zeigte auf einen Jungen, der in einiger Entfernung zu sehen war.

„Hast Du denn nicht um Hilfe gerufen?“, fragte der Mann.
„Doch“, sagte der Junge und schluchzte ein wenig heftiger.
„Hat Dich denn niemand gehört?“, fragte ihn der Mann weiter,
ihn liebevoll über den Kopf streichelnd.
„Nein“, schluchzte der Junge.
„Kannst Du denn nicht lauter schreien?“, fragte der Mann.
„Nein“, sagte der Junge und blickte ihn mit neuer Hoffnung an.
Denn der Mann lächelte.
„Dann gib auch den her“, sagte der Mann, nahm dem Jungen den letzten Groschen aus der Hand und ging unbekümmert weiter.“


Ihr Lieben,

manchmal werde ich von Eltern gefragt: „Herr Forneberg, wie können wir unsere Kinder am besten vor Menschen schützen, die Böses im Schilde führen und die sich an unseren Kindern vergehen wollen?“
Meine Antwort auf diese Frage lautet immer: Wenn wir unsere Kinder und Enkelkinder schützen wollen, wenn wir sie stark machen wollen fürs Leben, dann müssen wir sie vor allem dazu ermutigen, sich zu wehren, wenn jemand mit ihnen etwas machen möchte, was sie nicht wollen.

Etliche von Euch haben ja mein Buch DAS ESELSKIND gelesen und wissen, was ich als Kind an Demütigungen, an Gewalt, an Missbrauch und an Quälereien und Folter ertragen musste.
Um heute aber Kinder vor einem ähnlichen Schicksal bewahren zu können, muss ich mich heute kritisch fragen, was ich als Kind und Jugendlicher damals falsch gemacht, ja sogar vielleicht dazu beigetragen
habe, dass ich in so großem Ausmaß zum Opfer wurde.
Was geschehen ist, kann ich nicht mehr ändern,
aber ich kann aus dem Vergangenen lernen und meine Erfahrungen weitergeben.

Mein großer Fehler, den ich als Kind und Jugendlicher begangen habe, bestand darin, dass ich mich nicht gewehrt habe, dass ich nicht versucht habe, mich zu behaupten.
Deshalb versuche ich heute, jungen Menschen zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, zu lernen, sich zu wehren. Das gilt aber nicht nur für junge Menschen, sondern für uns alle.
Wenn mir z.B. jemand erzählt, dass er von einem Versicherungsvertreter über den Tisch gezogen worden sei und mich zu meiner Meinung dazu befragt, so antworte ich:
„Der Versicherungsvertreter hat sicher nicht mit einer Pistole vor Dir gestanden und Dich zur Unterschrift gezwungen. Der Versicherungsvertreter hat Dich sicher unter Druck gesetzt, er hat sicher versucht, Dich mit Worten zu einem Abschluss zu überreden, aber Deine Aufgabe wäre es gewesen, die gewünschte Unterschrift zu verweigern, wenn Du der Ansicht warst, dass die angebotene Versicherung nichts für Dich sei!“

Diese Situation lässt sich auf viele Lebensbereiche übertragen:
Ich denke da z.B. an die Mutter, die gerne für ihre Familie da ist und plötzlich merkt, dass sie von ihrer eigenen Familie ausgenutzt wird, die es aber nicht wagt, laut „Halt“ zu rufen und sich auch Zeiten der Ruhe und Muße zu sichern.

Da ist der Arbeitnehmer, der in einer Firma arbeitet und der immer gerne einspringt, wenn jemand seine Schicht tauschen oder etwas früher nach Hause gehen möchte. Wenn dieser Mensch irgendwann ausgebrannt ist, sind nicht seine Kollegen schuld, die ihn ausgenutzt haben, sondern er hätte rechtzeitig „Halt“ schreien müssen.

Ihr Lieben,

ich möchte Euch herzlich darum bitten, an diesem Wochenende doch einmal darüber nachzudenken, was Ihr wirklich leisten könnt und bei allen Anforderungen an Euch, von denen Ihr meint, dass sie Euch zu viel werden, laut „Halt“ zu schreien.
Auch bei Ungerechtigkeiten gegen uns sind wir nicht dazu verpflichtet, diese stumm und demütig hinzunehmen, sondern wir müssen lernen, uns zu wehren, laut und deutlich „Halt" zu rufen, damit denen, die uns Unrecht tun, wissen, dass sie nicht alles mit uns machen dürfen.

Wenn wir das nicht lernen, dann werden wir nicht nur ausgenutzt und widerfährt uns nicht nur Unrecht, sondern uns wird auch noch das geraubt, was wir haben:
Unsere Würde, der Respekt vor uns selbst, unsere Kraft, unsere innere Ruhe, unsere Ausgeglichenheit.

Ich wünsche Euch einen fröhlichen Abend und einen gesegneten Sonntag

Euer heiterer Werner

Quelle: Karin Heringshausen