„Weg mit einem Schulsystem, … das aussortiert“

“In jedem Kind steckt ein Genie

Alle Kinder haben das Zeug zum Überflieger, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. Die meisten Lehrer wissen nur nicht, wie sie das Genie aus ihren Schülern herauslocken sollen. Der Schulkritiker rät: weg mit Frontalunterricht, starren Lehrplänen und einem Schulsystem, das aussortiert.

SPIEGEL ONLINE: Sie behaupten, dass jedes Kind ein kleines Genie ist. Das meinen auch viele Eltern, die das Gefühl haben, dass der Einstein in ihrem Sprössling verkannt wird. Wollen Sie denen Mut machen?

Hüther: Ich möchte den Blick dafür öffnen, dass Kinder über viele verschiedene Potentiale verfügen und dass es nicht mehr oder weniger begabte Kinder und Jugendliche gibt. Daher ist es fragwürdig, sie in drei verschiedene Schulformen aufzuteilen und ihren Begabungen entsprechend vermeintlich optimal zu fördern.

SPIEGEL ONLINE: Also doch eher ein Angriff auf das mehrgliedrige Schulsystem.

Hüther: Viele Kinder fallen durch die Erbsensortieranlage, die unsere Schule geworden ist. Nach wie vor wird Begabung mit einer guten Schulnote verwechselt, nach wie vor stellen wir die analytisch-kognitiven Fähigkeiten in den Mittelpunkt. Der eigentliche Schatz, den wir fördern müssten, ist die Begeisterung am eigenen Entdecken und Gestalten, das Tüftlertum, die Leidenschaft, sich mit etwas Bestimmtem zu beschäftigen. All das wird bei den Pisa-Tests gar nicht gemessen.

SPIEGEL ONLINE: Sie wollen allen Ernstes kleine Eigenbrötler heranziehen?

Hüther: Leidenschaftlichkeit und Individualität bedeuten nicht, dass jemand nicht mit anderen zusammenarbeiten kann. Gerade Teamfähigkeit kommt in unserem Schulsystem zu kurz.

SPIEGEL ONLINE: Was machen die Lehrer denn falsch?

Hüther: Die Lehrer können ja auch nichts dafür, dass unser Schulsystem so geworden ist. Doch in Zukunft müssen wir Pädagogen dazu ausbilden, nicht primär Wissen zu vermitteln, sondern die in den Kindern steckenden Talente zur Entfaltung zu bringen. Bisher ging man davon aus, dass diejenigen, die Mathe nicht können, dafür eben unbegabt sind. Es gibt aber kein Einstein-Gen.

SPIEGEL ONLINE: Ist wirklich jeder zu jeder Leistung fähig?

Hüther: Das Gehirn entwickelt sich so, wie man es mit Begeisterung benutzt. Ein Kind verliert die Lust an Mathe, wenn ihm jemand deutlich macht, dass es zu blöd dafür ist – und dann entwickelt es sich in diesem Fach auch nicht weiter.

SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten gerade den Masterstudiengang “Potentialentfaltungscoach” aus. Was wird ein solcher Coach anders machen als ein herkömmlicher Lehrer?

Hüther: Er müsste jeden Schüler für etwas begeistern können, was dem auf den ersten Blick egal ist. Die Hirnforschung bestätigt: Sobald sich Schüler für etwas interessieren, eignen sie sich das Wissen in sehr kurzer Zeit an, und dann bleibt es auch hängen. Denn nur dann werden im Hirn die Botenstoffe ausgeschüttet, die die Stabilisierung von neuen Netzwerken fördern. Ein Potentialentfaltungscoach müsste auch in der Lage sein, aus einem zusammengewürfelten Haufen ein leistungsorientiertes Team zu machen. Dann würden zum Beispiel in einer neunten Klasse alle unbedingt verstehen wollen, wie die Photosynthese funktioniert.

SPIEGEL ONLINE: Das sind ja hohe Ansprüche. Und die Kinder würden all das Wissen, das sie sich selbst erarbeitet haben, auch wirklich behalten?

Hüther: Genau. Heute wissen junge Menschen schon zwei Jahre nach dem Abi nur noch zehn Prozent von dem, was sie in der Schule gelernt haben, das ist doch verrückt. Wir müssen 100 Prozent anstreben.

SPIEGEL ONLINE: Wie soll das gehen – bei so viel Stoff?

Hüther: Die Schüler müssen sich auf das Wesentliche konzentrieren können. Wenn das meiste eh wieder vergessen wird, könnte man die Schuldauer ruhig um noch zwei Jahre verkürzen. Die Frage ist nicht, wie lange jemand lernt, sondern was. Und ob er dabei die Lust aufs Weiterlernen nicht verliert.

SPIEGEL ONLINE: Sie arbeiten schon lange daran, die Erkenntnisse der Hirnforschung in die Schulwelt zu tragen und müssen doch konstatieren: Unser Schulsystem hat versagt. Verbittert Sie das nicht?

Hüther: Für das vergangene Jahrhundert war dieses System sicher richtig, aber die Welt ist eben nicht mehr dieselbe. Ich bin optimistisch, dass sich das nun auch in der Öffentlichkeit herumspricht und die notwendigen Veränderungen eingefordert werden. Wie schnell das gehen kann, hat uns der Zusammenbruch der DDR gezeigt, daran hätte vorher auch keiner geglaubt. Ich glaube, dass es in sechs Jahren Schule, wie wir sie kennen, nicht mehr geben wird. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, Schüler durch Systeme zu schleusen, wo sie genau das verlieren, was sie für ihre Zukunft dringend brauchen: Leidenschaft, Eigenverantwortung und Lust, die Welt gemeinsam zu gestalten.”

Gerald Hüther, 61, ist Professor für Neurobiologe. Er leitet die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim-Heidelberg. Gerade ist sein neues Buch “Jedes Kind ist hochbegabt” erschienen.

Quelle und gesamtes Interview: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/kritik-am-schulsystem-huether-will-gymnasium-und-lehrplaene-abschaffen-a-850405.html



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