Weg mit der “Jungfrau”

Die Sexismus-Debatte hat einen zen­tra­len Aspekt ver­nach­läs­sigt, näm­lich den der reli­giös moti­vier­ten Frauenverachtung. Im Zentrum die­ser sys­te­ma­ti­schen Diskriminierung von Frauen liegt das Konzept der „Jungfrau“. Es ist ein Konzept der Unterdrückung, der Scham und des Hasses. Wir soll­ten es ersatz­los strei­chen.

von Harald Stücker

Der Begriff der „Jungfrau“ ist eine mäch­tige Waffe im Kampf gegen die weib­li­che Sexualität, damit gegen alle Frauen, und damit auch gegen alle Männer. Das Ideal der Jungfrau ist repres­siv und bru­tal. Es ist ein Jahrtausende altes reli­giö­ses Ideal. Es lässt sich zwar evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch erklä­ren und ver­ste­hen, aber das gilt auch für Mord und Vergewaltigung. Wenn die „Jungfrau“ rein ist, dann ist Sex unrein. Der Wert der „Jungfrau“ ent­wer­tet den Sex und damit das Leben selbst, vor allem aber die Frauen, die Sex und Lebenslust genie­ßen.

Vestalinnen blieben im antiken Rom während ihrer ganzen Priesterinnenzeit von 30 Jahren Jungfrauen Gemälde von Frederic Leighton († 1896)

Vestalinnen blieben im antiken Rom während ihrer ganzen Priesterinnenzeit von 30 Jahren Jungfrauen
Gemälde von Frederic Leighton († 1896)

Die katho­li­sche Verklärung der Jungfrauengeburt ohne Sex als Idealform der Fortpflanzung ist eine Verunglimpfung des nor­ma­len weib­li­chen Lebens. Wenn die Empfängnis ohne Sex das uner­reich­bare Ideal der Reinheit ist, dann ist jede irdi­sche, sexu­elle Empfängnis mora­lisch min­der­wer­tig. Die reli­giöse Hierarchie der Möglichkeiten sexu­el­len Verhaltens (ein­schließ­lich einer Unmöglichkeit) sieht fol­gen­der­ma­ßen aus:

  1. rein geist­li­che Empfängnis, ohne Sex (mög­lich nur im Mythos)
  2. rein geist­li­ches Leben ohne Sex, dafür aber auch ohne Empfängnis
  3. mini­ma­ler Sex, nur zum Zweck der Zeugung
  4. Sex zum Zweck der Zeugung, mit der zusätz­li­chen Motivation, Lust zu erzeu­gen oder gar zu maxi­mie­ren, mit ange­mes­se­nen Scham- und Schuldgefühlen
  5. Sex zum Zweck der Zeugung, mit der zusätz­li­chen Motivation, Lust zu erzeu­gen oder gar zu maxi­mie­ren, ohne Scham und Schuld
  6. Sex mit dem pri­mä­ren Zweck, Lust zu maxi­mie­ren, ohne Verhütung (Zeugung nicht aus­ge­schlos­sen)
  7. Sex mit dem pri­mä­ren Zweck, Lust zu maxi­mie­ren, mit Verhütung (Zeugung uner­wünscht)
  8. Sex, der gar nicht auf Zeugung abzie­len kann, der nicht mal ver­hü­ten muss (Homosexualität)

Im reli­giö­sen Verständnis ist dies eine Treppe, die vom Himmel direkt in die Hölle führt. Jede Stufe, die wir uns mit unse­rem sexu­el­len Verhalten vom Ideal der „jung­fräu­li­chen“ Empfängnis ent­fer­nen, bedeu­tet eine schwe­rere Sünde. Dabei gibt es das Ideal der Stufe 1 nur im Mythos. Stufen 2 und 3 ver­su­chen, ihm so nah wie mög­lich zu kom­men. Sehr viele reli­giöse Menschen, ins­be­son­dere Frauen, emp­fin­den sich als unge­nü­gend, als „sün­dig“. Sie hal­ten ihre Sexualität für ein Unglück, für einen Grund zur Scham. Darrel Ray beschreibt in sei­nem Buch Sex and God den Unterschied zwi­schen Schuld und Scham:

Scham ist eine tie­fere Emotion. Sie umfasst die gesamte Identität einer Person und das Urteil ande­rer Menschen. Es ist die Idee, dass ein bestimm­tes Verhalten aus Ihnen eine schlechte, beschä­digte oder mora­lisch kranke Person macht. (S. 62, meine Über­set­zung)

Viele den­ken viel­leicht, dass dies alles hin­ter uns liegt, dass dies ein Kampf ist, den unsere Vorfahren schon für uns gewon­nen haben. Aber das ist lei­der Wunschdenken. Dieser Kampf ist so lange nicht gewon­nen, so lange wir den Religionen zuge­ste­hen, ihre Werte als für uns alle gel­tende Werte zu for­mu­lie­ren und zu ver­brei­ten.

In den USA wie in der Türkei kip­pen reli­giöse männ­li­che Abgeordnete vor Entsetzen in Ohnmacht, wenn eine Frau das Wort „Vagina“ aus­spricht.Gerade erst haben alle Journalisten ihre Mikrofone mit devo­ter Spannung einem Sprecher der Bischofskonferenz hin­ge­hal­ten, in Erwartung einer mora­li­schen Sensation: Ist Verhütung in Ausnahmefällen jetzt viel­leicht doch erlaubt? Man mag die­ses öffent­li­che Interesse an den Verlautbarungen alter ase­xu­el­ler Männer als mor­bi­des Interesse abtun. Tatsächlich küm­mert sich kaum jemand wirk­lich darum.

Keuschheitsbewegungen wie „Wahre Liebe war­tet“ haben Zulauf. Manche sehen darin eine posi­tive Entwicklung, da sie glau­ben, dass Keuschheitsgelübde unge­wollte Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten ver­hin­dern hel­fen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Denn es ist wohl unmög­lich, Sex bewusst und umsich­tig vor­zu­be­rei­ten und Verhütungsmaßnahmen zu tref­fen, wenn man sich gleich­zei­tig geschwo­ren hat, kei­nen Sex zu haben. Wenn „es“ dann doch pas­siert, war es der Alkohol oder der Teufel.

Im Gespräch mit Richard Dawkins erläu­tert Darrel Ray, dass sich das Sexualverhalten zwi­schen reli­giö­sen und ungläu­bi­gen Menschen im Wesentlichen nur in einem Aspekt unter­schei­det: den Gefühlen von Schuld und Scham, die es beglei­ten [ab Min. 2:25]:

Mit dem Erstarken extrem reak­tio­nä­rer Versionen von Religion sind all die über­wun­den geglaub­ten Probleme wie­der auf­er­stan­den. Jetzt ste­hen wir Phänomenen gegen­über wie weib­li­che Genitalverstümmelung, Hymenrekonstruktion und Ehrenmord. Und ohne eine klare mora­li­sche Positionierung ste­hen wir ihnen hilf­los gegen­über. Alle basie­ren auf dem Mythos der „Jungfrau“:

  • Mädchen wer­den ver­stüm­melt, damit sie von sich aus nicht auf die Idee kom­men, Sex zu haben.
  • Frauen las­sen sich ihr Hymen rekon­stru­ie­ren, um vor ihrem neuen Ehemann und ihrer Familie als unbe­rührt zu gel­ten.
  • Schwestern und Töchter wer­den von ihrer eige­nen Familie getö­tet, weil sie keine „Jungfrauen“ mehr, son­dern Frauen sind, die selbst ent­schei­den wol­len.

Die Hymenrekonstruktion ist sicher in jedem Einzelfall nach­voll­zieh­bar. Jede ein­zelne Frau ist zu schwach, um einen Kampf gegen ihre frau­en­ver­ach­tende Kultur zu füh­ren. Aber gleich­zei­tig bekräf­tigt und stärkt jede ein­zelne chir­ur­gi­sche Wiederherstellung eines Jungfernhäutchens die Kulturen der Genitalverstümmelung und des „Ehrenmords“.

Ehrenmord“ ist ein wider­wär­ti­ger Euphemismus. Er kon­no­tiert ein ehren­wer­tes Motiv. Ein „Ehrenmord“ ist kein gewöhn­li­ches Familiendrama mit tra­gi­schem Ausgang, ein „Ehrenmord“ ist vor­sätz­li­cher, oft kalt­blü­ti­ger Mord. Ein „Ehrenmord“ ist ein Angriff auf unsere Werte, auf Menschenrechte, auf Gleichberechtigung, auf Individualismus, auf die Lust am Leben, auf den Wert des Lebens selbst.

Es wird Zeit, dass der Begriff der „Jungfrau“ mit sei­ner Konnotation der Reinheit stirbt. Wir soll­ten ihn öffent­lich hin­rich­ten. „Jungfrau“ ist ein gutes Beispiel für einen Begriff, der ster­ben muss, damit Menschen in Frieden und freier Selbstbestimmung leben kön­nen. Schicken wir die „Jungfrau“ auf den Müllhaufen der Sprachgeschichte. Dort, neben dem „Fräulein“, dem „Jus pri­mae Noctis“ und dem „Kranzgeld“ ist noch viel Platz.

[Über­nahme mit freund­li­cher Genehmigung des Autors]

Fotoquelle: muse­umsyn­di­cate via Wikimedia


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