Es ist kurz nach Fünf in Italien. Aperol o’clock. Dolce vita in Reinkultur. Zu keinem Zeitpunkt tritt der kulturelle Unterschied zwischen Italienern und Deutschen stärker an die Oberfläche als zwischen 17:30 und 20 Uhr. Als ich zum dritten Mal binnen drei Tagen bei Aperol und Snacks im Schatten der Linden von Corniglia sitze, wird mir plötzlich intensiver als jemals zuvor bewusst, was wir Deutsche uns dringend von unseren italienischen Freunden abschauen sollten. Kultivierte Faulheit. Runterkommen. Zumindest eine Stunde am Tag das Nichtstun zelebrieren. Den Kopf ausschalten und das Leben genießen. Das klingt total abgedroschen und ist doch so wahr. Wir können das nicht. Wir haben es nicht gelernt.
Lasst uns mal kurz in Stereotypen abdriften, weil es hilft, dieses Phänomen zu verstehen: Während der Deutsche nach Feierabend noch seine Buchshecke trimmt, den Rasen mäht und sicherstellt, dass die makellose Fassade des Eigenheims auch makellos bleibt, setzt sich der Italiener ohne Umwege auf den pinienvernadelten Bordstein, an seine unsauber verputzte Hauswand, trinkt einen Aperol Spritz und freut sich des Lebens. Und was sagen wir Touristen, wenn wir durch italienische Bergdörfchen spazieren? „Hach, diese unsauber verputzten Wände, dieses rustikale – das hat einfach Charme.“ Eigentlich sehnen wir uns doch alle nach diesem Gefühl. „Nach mir die Sintflut, vor mir der Aperitivo.“ Manchmal frage ich mich, ob all die historischen italienischen Stadtkerne wirklich so historisch sind. Vielleicht sind die Häuser allesamt keine hundert Jahre alt. Vielleicht priorisiert der Italiener einfach anders. Besser? Lebensbejahender? Ganz nach dem Motto: „Soll mein Haus doch marodieren – solange der Putz nicht in meinen Aperol hineinbröckelt lässt sich das verschmerzen.“
Auch wenn das nach schlimmer Pauschalisierung klingt, belegen interkulturelle Studien die Tendenz der Italiener, die Dinge etwas entspannter anzugehen. Konkret beschreibt Geert Hofstede dieses Phänomen als „niedriges Bedürfnis nach Unsicherheitsvermeidung.“ Anders formuliert: Sich das Leben leichter machen. Das Sicherheitsbedürfnis ist in der italienischen Kultur weit schwächer ausgeprägt, als in Deutschland. Planung, vorausschauendes Handeln, zeitliche Taktung – all das sind Mechanismen, die Sicherheit stiften. Und genau diesen Mechanismen fällt in Deutschland die After-Work-Phase zum Opfer. Einkaufen, am besten für die ganze Woche. „Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.“ Drei Tage im Voraus sollten schon grob durchplant sein, sonst droht der völlige Kontrollverlust für uns Deutsche. Und wenn wir uns doch mal zu einem After-Work-Drink durchringen können, dann steckt da eben immer noch das Wort WORK drin. Dann wird die letzte Mail halt aus dem Biergarten verschickt und der Kopf steckt noch immer in Excel-Tabellen.
Aperol o’clock
Das italienische Gefühl des Loslassens manifestiert sich in Orangegelb. Mit feinen Wassertröofchen, die außen am 0.5-Liter Kelch Aperol Spritz hinabperlen. Erschwinglich ist die Halbe Aperol dort und sie kommt obligatorisch mit Snacks! Mit Oliven, Chips, Erdnüssen und Häppchen. Das alles für 3 Euro 50. Da beschleicht einen fast das Gefühl, die italienische Regierung subventioniere das leicht beschwipste Entfliehen aus den Sorgen des Alltags. Vielleicht will man die Bevölkerung so davon abhalten, ihre Häuser zu renovieren, um das ach so rustikal-charmante Bild des Landes nicht in Gefahr zu bringen. Vielleicht, ja vielleicht sind das auch nur ganz abstruse Verschwörungstheorien Erklärungsversuche eines Foodbloggers, der sich gerade seiner kulturellen Befangenheit bewusst wird. Denn auch mein Weg führt vom Office directamente in den Supermarkt, zur Post, zum Sport.
Ich habe mir jetzt mal so eine Flasche Aperol gekauft und sie als Mahnmal mittig auf dem Wohnzimmertisch platziert. Wenn die Abendsonne durchs Fenster scheint, leuchtet der Likör pünktlich um 17 Uhr wie eine After-Work-Ampel. Und wenn ich dann ganz genau hinhöre, legt mir Harald Juhnke leise sein Lebensmotto ans Herz. Seine Definition von Glück: „Keine Termine und leicht einen sitzen.“