Was unsere Gesellschaft zusammenhält

Seid endlich universal: “Multikulturalismus” und “deutsche Leitkultur” sind gleichermaßen Irrwege

Von Richard Herzinger

In der Einwanderungsdebatte ist allenthalben von einer Erscheinung die Rede, die in spöttischer bis hämischer Verniedlichung “Multikulti” genannt wird. Zuletzt meinte Angela Merkel: “Zu sagen, jetzt machen wir hier mal Multikulti und leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander: Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.” Und Horst Seehofer ergänzte: “Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein. Multikulti ist tot”.

Freilich versäumte es auch der CSU-Chef einmal mehr zu definieren, was er unter dieser “deutschen Leitkultur” eigentlich genau versteht. Werden Unionspolitiker darauf angesprochen, verweisen sie meist auf die im Grundgesetz verankerten Freiheitswerte und -rechte einer offenen, demokratischen Gesellschaft. An diesen Werten ist jedoch nichts spezifisch Deutsches. Es sind die universalen Werte von Aufklärung und Menschenrechten, die sich, ausgehend von ihrer Formulierung in den Verfassungen der USA und Frankreich, gegen heftige und katastrophale Widerstände schließlich auch in Deutschland durchgesetzt haben. Und wenn Politiker dem Ulkwort “Multikulti” die Phrase von der “deutschen Leitkultur” entgegenhält, entgeht ihnen – aus agitatorischer Oberflächlichkeit oder historischer Unbildung – eine Pointe: Sie folgen damit der antiuniversalistischen Logik eben jener Ideologie des “Multikulturalismus”, die sie als läppische Verirrung abtun wollen. [...]

Ein inzwischen gemäßigter “Multikulturalismus”, wie er heute etwa in den USA, Kanada und Australien allgemein akzeptiert ist, fordert zwar das gleichwertige Miteinander unterschiedlicher ethnischer Kulturtraditionen, erkennt aber die für alle bindende Gültigkeit universaler Verfassungsgrundsätze an. In den USA bevorzugt man heute das Bild von der “Salatschüssel”, in der die kulturellen Identitäten nicht verschmelzen, aber auch nicht voneinander separiert auf dem Teller liegen, sondern bunt durcheinander gewürfelt sind.

Diese Spielart des “Multikulturalismus”, die keine Hierarchisierung von Kulturtraditionen mehr zulässt, ist keineswegs gescheitert, sondern hat sich in den westlichen Gesellschaften als Konsens durchgesetzt. So würde es keinem verantwortlichen Politiker mehr einfallen, die “deutsche Kultur” als der französischen, polnischen oder afrikanischen Kultur entwicklungsgeschichtlich oder gar rassisch überlegen einzustufen, wie das vor 100 Jahren noch gang und gäbe war.

Doch auch die radikale Variante des Multikulturalismus ist – leider – alles andere als “tot”. Sie beherrscht heute internationale Institutionen wie den Menschenrechtsrat der UN, in dem namentlich islamische Staaten ein “kulturelles Menschenrecht” auf die eigene Tradition und Religion propagieren, das sie westlichen Staaten entgegenhalten, wenn diese gegen Verbrechen wie die Steinigung oder die Folterung und Hinrichtung von Oppositionellen als “Feinde Gottes” protestieren Dieser Ideologie machen wir heute zunehmend Konzessionen [...]

Der Antipode des “Multikulturalismus” ist somit nicht der Monokulturalismus einer deutschen oder sonst irgendwie gearteten “nationalen Kultur”, sondern der aufklärerische Universalismus. [...]

Im Zeitalter der Globalisierung sinken spezielle kulturelle Identitäten auf die Ebene von gelebter Folklore herab. Elemente aus alten Traditionen entnommenen Brauchtums sind interessante Ergänzungen beziehungsweise Einsprengsel in der modernen universalen Kultur. Nur als solche, nicht aber als Gegenentwürfe zu ihr, sind sie mit der universalistischen “Leitkultur” von Demokratien vereinbar. Jeder Angehörige einer besonderen “ethnischen Kultur” ist darin zugleich und in erster Linie Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten.

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