Was muss noch passieren, bevor ein Umdenken stattfindet?

Von Nicsbloghaus @_nbh

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Ein Siebzehnjähriger darf sich in Deutschland kein Vorhautpiercing ste­chen las­sen, wenn seine Eltern nicht ein­ver­stan­den sind. Eltern jedoch kön­nen die Vorhaut des Knaben ohne Einwilligung des Kindes voll­stän­dig ampu­tie­ren las­sen, selbst wenn dafür kei­ner­lei medi­zi­ni­schen Gründe vor­lie­gen. So will es das Gesetz, das aller Voraussicht nach heute im Deutschen Bundestag ver­ab­schie­det wird. Seltsamerweise wer­den die­sem Gesetz mehr­heit­lich auch jene CDU- und SPD-Abgeordneten zustim­men, die – vor Beginn der deut­schen Beschneidungsdebatte – noch laut­stark gefor­dert hat­ten, sämt­li­che medi­zi­nisch unnö­ti­gen kos­me­ti­schen Operationen, Piercings und Tätowierungen bei Minderjährigen zu ver­bie­ten.

Wir geben zu: Als Angela Merkel zu Beginn der Beschneidungsdebatte Kinderrechtsargumente damit abwehrte, Deutschland dürfe sich nicht zu einer „Komikernation“ machen, hiel­ten wir dies für einen aus­sichts­rei­chen Kandidaten für das „Unwort des Jahres“. Bei genaue­rer Betrachtung jedoch ist der Ausdruck „Komikernation“ her­vor­ra­gend geeig­net, die aktu­elle Situation zu beschrei­ben: Denn gerade in dem Moment, in dem in ande­ren Staaten ernst­haft dar­über nach­ge­dacht wird, Genitalbeschneidungen an nicht ein­sichts­fä­hi­gen Kindern grund­sätz­lich zu ver­bie­ten (so wird in Norwegen nach einem Todesfall in die­sem Jahr dis­ku­tiert, ritu­elle Beschneidungen erst ab 15 oder 16 Jahren zu erlau­ben, erlässt die „Komikernation Deutschland“ ein Gesetz, das sol­che irre­ver­si­blen Eingriffe aus­drück­lich von Geburt an legi­ti­miert und selbst die Minimalstandards des Kinderschutzes igno­riert.

Wir haben in unse­rer Artikelserie „Nachrichten, die in deut­schen Medien nicht erschie­nen“ ver­sucht, die kon­kre­ten Schicksale zu ver­deut­li­chen, die sich hin­ter der oft benutz­ten, abs­trak­ten Formulierung, es gebe bei der Beschneidung mit­un­ter auch Komplikationen, ver­ber­gen. Wir berich­te­ten von Kindern, die nach der Beschneidung ver­blu­te­ten, einer töd­li­chen Infektion erla­gen, anNarkosekomplikationen star­ben, nach dem Eingriff ihre Genitalien ver­lo­ren oder schwerste Hirnschädigungen erlit­ten. Ganz bewusst haben wir auch sol­che Fälle geschil­dert, die sich in ent­fern­ten Regionen der Welt ereig­ne­ten – etwa die tra­gi­sche Geschichte einer nepa­le­si­schen Familie, die, nach­dem bereits zwei Söhne infolge der Beschneidung gestor­ben waren und ein drit­ter sich in Lebensgefahr befand, auch noch den vier­ten Sohn beschnei­den las­sen wollte, weil sie glaubte, den Geboten ihrer Religion unbe­dingt gehor­chen zu müs­sen.

Diese inter­na­tio­nale Perspektive ist des­halb von­nö­ten, weil die Entscheidung des Deutschen Bundestags inter­na­tio­nal Beachtung fin­den wird. Dabei ist klar: Wenn Deutschland die medi­zi­nisch nicht indi­zierte Knabenbeschneidung aus­drück­lich legi­ti­miert, so schwächt dies die Position inter­na­tio­na­ler Kinderrechtler, die Minderjährige vor Genitalbeschneidungen beschüt­zen wol­len. Das neue Gesetz in Deutschland ist ein inter­na­tio­na­les Signal, das die Knabenbeschneidung mit einem „Unbedenklichkeitssiegel – made in Germany“ ver­sieht und welt­weit den Gruppendruck auf Familien erhöht, Beschneidungsgeboten zu fol­gen. Kinderrechtler (dar­un­ter viele Juden und Muslime) hat­ten auf ein gegen­tei­li­ges Signal aus Deutschland gehofft (wie u.a. die­ser Beitrag des jüdi­schen Filmemachers Victor Schonfeld zeigt).

Tragischerweise wird durch das Gesetz auch der welt­weite Kampf gegen die weib­li­che Genitalverstümmelung unter­gra­ben. Warum? Weil männ­li­che und weib­li­che Genitalbeschneidung in ihrer Verbreitung (Mädchen wer­den nur in jenen Ländern beschnit­ten, in denen auch Jungen die­ses Schicksal erlei­den müs­sen) eng mit­ein­an­der ver­knüpft sind und weil sämt­li­che Argumente, die gegen die weib­li­che Genitalbestimmung vor­ge­bracht wer­den, auch gegen die männ­li­che Genitalbeschneidung spre­chen – wes­halb sie im Umkehrschluss auch für die Mädchenbeschneidung hin­fäl­lig wer­den, wenn wir sie im Falle der Jungenbeschneidung nicht berück­sich­ti­gen müs­sen.

Daher ist es auch gar nicht ver­wun­der­lich, dass im Zuge der deut­schen Beschneidungsdebatte bereits die Forderung erho­ben wurde, die „mil­de­ren“ Varianten der weib­li­chen Genitalbeschneidungeben­falls zu legi­ti­mie­ren. In der Tat ist es nicht ein­sich­tig, wes­halb die Entfernung oder das bloße Einritzen der Klitorisvorhaut schwer­wie­gen­der sein soll als die Amputation der Penisvorhaut. Insofern müs­sen sich die Parlamentarier tat­säch­lich die Frage gefal­len las­sen, ob das neue Gesetz, das Knabenbeschneidung erlaubt, Mädchenbeschneidung aber ver­bie­tet, nicht in gra­vie­ren­der Weise gegen die ver­fas­sungs­mä­ßig garan­tierte Gleichberechtigung der Geschlechter ver­stößt. Hätte sich der Deutsche Bundestag nicht unter dem Druck der Religionsgemeinschaften zu einem abstru­sen Gesetzes-Schnellschuss ver­lei­ten las­sen, müss­ten wir die absurde Debatte über die Legalisierung von Mädchenbeschneidung über­haupt nicht füh­ren.

In unse­rer Artikelserie haben wir (erst­ma­lig im deut­schen Sprachraum –  weil die deut­schen Medien diese Nachrichten nicht als „berich­tens­wert“ erach­te­ten) rund 50 Einzelschicksale geschil­dert, die zei­gen, mit welch dra­ma­ti­schen Folgen eine Beschneidung ver­bun­den sein kann. Bei die­sen Fällen (auch bei den deut­schen Fällen, über die wir zuvor berich­te­ten) han­delt es sich aller­dings nur um die Spitze eines Eisberges. Wie viele Jungen jähr­lich tat­säch­lich die Beschneidung nicht über­le­ben, wie viele durch Penisamputationen für ihr Leben ent­stellt wer­den, mit HIV oder Herpes infi­ziert wer­den oder schwerste Behinderungen erlei­den, weiß kein Mensch zu sagen, denn bis­lang wer­den der­ar­tige Komplikationen nicht sys­te­ma­tisch doku­men­tiert. Auch in Deutschland wur­den sol­che Daten bis­lang nicht gesam­melt, geschweige denn wis­sen­schaft­lich aus­ge­wer­tet.

Immerhin: Im Zuge der Beschneidungsdebatte führte die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) eine inter­net­ba­sierte Befragung zum Thema durch, an der sich etwa 10 Prozent der Kinder- und Jugendarztpraxen in Deutschland betei­lig­ten (siehe hierzu den Bericht des Präsidenten des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Dr.med. Wolfram Hartmann, vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags). In die­sen 458 Praxen wur­den im Zeitraum vom 01. Januar 2010 bis zum 10. November 2012 ins­ge­samt 1858 Kinder wegen Komplikationen nach der Beschneidung behan­delt. 1832 die­ser Kinder lit­ten unter loka­len oder sys­te­mi­schen Infektionen, bei 737 Kindern war das Ergebnis der Beschneidung kos­me­tisch nicht zufrie­den­stel­lend, bei 249 war eine zweite Beschneidung erfor­der­lich. Nimmt man diese Fälle aus nur einem Zehntel (!) der deut­schen Kinderarztpraxen zum Maßstab, so bedeu­tet dies, dass durch­schnitt­lich etwa drei Kinder pro Tag wegen Infektionen nach der Beschneidung vom Kinderarzt behan­delt wer­den müs­sen, dass die Beschneidung bei einem Kind täg­lich zu einem kos­me­tisch schlech­tem Ergebnis führt und dass alle drei Tage ein Kind ein zwei­tes Mal beschnit­ten wer­den muss, wodurch sich die Operationsrisiken ver­dop­peln. Rechnet man zudem mit ein, dass sich 90 Prozent der deut­schen Kinderarztpraxen an der Befragung der DAKJ gar nicht betei­lig­ten (was die abso­lute Zahl der Komplikationen wohl in erheb­li­chem Maße senkte), wird klar, dass die Behauptung, es han­dele sich bei der Beschneidung um einen „völ­lig harm­lo­sen Eingriff ohne wesent­li­che Komplikationen“, in Wahrheit kaum halt­bar ist – nicht ein­mal unter den her­vor­ra­gen­den hygie­ni­schen und medi­zi­ni­schen Bedingungen Deutschlands.

Man fragt sich, was eigent­lich noch pas­sie­ren müsste, bis ein Umdenken in die­ser Frage statt­fin­det: Wie hoch, bit­te­schön, darf denn das Risiko bei einer medi­zi­nisch unnö­ti­gen Operation über­haupt sein? Und wie viele Jungen müs­sen welt­weit noch ster­ben, ihre Genitalien ver­lie­ren, schlimmste Schmerzen erlei­den, gesund­heit­lich schwer beein­träch­tigt wer­den, bis es dazu kommt, dass die­ses archai­sche Ritual inter­na­tio­nal in ähn­li­cher Weise geäch­tet wird wie die weib­li­che Genitalverstümmelung?

Bedenkt man, dass Kinder in Deutschland seit dem Jahr 2000 Anspruch auf eine gewalt­freie Erziehung in der Familie haben, soll­ten medi­zi­nisch sinn­lose, schmerz­volle, risi­ko­rei­che, das Selbstbestimmungsrecht und die kör­per­li­che Unversehrtheit ver­let­zende Genitalbeschneidungen längst obso­let gewor­den sein – bei Mädchen wie bei Jungen. Irgendwann, da sind wir uns sicher, wird diese Schlussfolgerung auch all­ge­mein akzep­tiert wer­den und zu ent­spre­chen­den Gesetzesänderungen füh­ren. Schließlich unter­lie­gen Gesetzgebung und Rechtsprechung einem per­ma­nen­ten Wandel, der auch vor ural­ten reli­giö­sen Traditionen nicht halt­ma­chen kann.

Ein Beispiel mag dies illus­trie­ren: 1962 urteilte der Bundesgerichtshof (gemäß den damals noch weit­ge­hend akzep­tier­ten christ­li­chen Dogmen), dass Sexualverkehr unter Unverheirateten (selbst bei Verlobten kurz vor der Heirat!) „Unzucht“ sei, wes­halb die Bereitstellung von Räumen für der­ar­tige „Unzucht“ straf­recht­lich ver­folgt wer­den müsse (Straftatbestand: „Förderung der Unzucht/Kuppelei“). Aus heu­ti­ger Sicht ist es kaum zu fas­sen, dass ein obers­tes deut­sches Gericht vor gerade ein­mal 50 Jahren so eng­stir­nig im Sinne einer über­leb­ten reli­giö­sen Tradition urtei­len konnte.

Mit ähn­li­cher Fassungslosigkeit, so mei­nen wir, wer­den die Menschen in 50 Jahren auf jenes Beschneidungs-Gesetz zurück­bli­cken, das heute vom Deutschen Bundestag ver­ab­schie­det wird. Dass das deut­sche Parlament die Selbstbestimmungsrechte der Kinder zuguns­ten archai­scher Rituale auf­op­ferte, dass es tat­säch­lich geneh­migte, an Kindern ohne deren aus­drück­li­chen, selbst­be­stimm­ten Wunsch Genitalbeschneidungen vor­zu­neh­men und sie damit ein Leben lang zu kenn­zeich­nen, wird man im Jahr 2062 sicher­lich als Beleg dafür deu­ten, wie erschre­ckend rück­stän­dig doch die meis­ten Menschen im Jahr 2012 noch dach­ten. Leider wird die­ser all­ge­meine Sinneswandel für viele Jungen zu spät gekom­men sein…

Arbeitskreis Kinderrechte