Coaches, Blogger und Berater erklären es zum obersten Ziel: Authentizität. Auf dem Weg zum Glück scheint sie das Heilversprechen zu sein. Doch warum kommt das Bedürfnis nach Echtheit gerade jetzt auf? Und ist es in der heutigen Welt überhaupt möglich, authentisch zu leben?
Mut zur Wahrheit
Als Martin Luther am 17. April 1521 vor dem Reichstag zu Worms ein letztes Mal dazu aufgefordert wurde, seine Thesen zu widerrufen, soll er gesagt haben:
“Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ (Kruhöffer, S.93)
Luthers Gewissen hatte ihn zum Authentisch-Sein gezwungen. Für ihn war es unmöglich, gegen dieses Gewissen zu handeln. Oder um es modern zu sagen: Er wäre nicht authentisch gewesen.
Authentizität heute
Für den Blogger Tim Schlenzig bedeutet Authentisch-Sein:
“Authentisch oder eine Lüge ist,
wie wir kommunizieren:
mit uns selbst
und mit der Welt.Mit uns selbst, indem wir auf unsere innere Stimme hören.
Und mit der Welt, indem wir die innere Stimme sprechen lassen – in Worten und Taten.”
Doch nicht alle sehen in der Authentizität den richtigen Weg. Der Berater Stefan Wachtel zum Beispiel sieht darin sogar eine Gefahr. In einem Interview mit dem Gentleman-Blog sagte er:
“Nur weil Menschen so sind wie sie sind, müssen sie deswegen nicht anständiger sein als andere. Im Gegenteil, nicht wenige gleiten in Narzissmus ab, das Beharren auf dem puren Selbst ist nicht selten gefährlich. Die Welt wäre daher sicher nicht besser, wenn es mehr authentische Menschen gäbe. Authentisch ist – vielleicht – der Dalai Lama. Aber auf seine Weise war es auch Osama Bin Laden. Ist Benjamin Netanjahu authentisch? Ahmadinedschad? Wir kennen genug authentische Menschen, jene, die offen sagen, was sie denken. Besser wäre die Welt nicht unbedingt, denn authentisch sind das Gute und das Böse gleichermaßen, leider oft zu sehr.”
Und in der Tat: Ist es nicht in Wahrheit der Narzissmus, der heute blüht und gedeiht? Und der infolgedessen zu Vereinsamung führt? Bedeutet das viel beschworene Authentisch-Sein tatsächlich, echt zu sein? Anhand dieser Debatte sehen wir, wie schwierig es ist, den Begriff authentisch zu definieren.
Ein neues Problem?
Mit der Individualisierung der Gesellschaft kam das Konzept der Selbstverwirklichung auf.
Die Authentizität ist ein Kind der Individualität.
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Doch auch schon vor Jahrtausenden war authentisches Leben ein enorm wichtiges Thema. Schließlich handeln genau davon die Erzählungen um Buddha und aus der Bibel - vom richtigen, vom “echten” Leben.
Die Frage nach dem Authentisch-Sein ist also nicht neu. Sie wird heute lediglich lauter im Zuge moderner Industrialisierung gestellt, in der etliche Erwartungen an das Individuum gerichtet sind. Betrachten wir hierfür die Eckpunkte einer typischen Stellenausschreibungen:
- Mobilität
Insbesondere (aber nicht nur) von jungen Menschen wird 100%ige Bereitschaft erwartet, für die Arbeit den Wohnort zu wechseln. Auf familiäre Banden, örtliche Verpflichtungen oder ganz einfach die persönliche Identifikation mit der Heimat wird keine Rücksicht genommen.
Diese für Menschen entwurzelnde Art zu leben wird als “dynamischer Lifestyle” verkauft. Natürlich sind Ortswechsel und Reisen sehr hilfreich für das eigene Wachstum. Allerdings sollte die Entscheidung dafür eine bewusste sein.
- Verfügbarkeit
Normalerweise sollten eigentlich nur Gegenstände “verfügbar” sein. Um diese Verdinglichung des Menschen zu verschleiern, wird deshalb gern von “Erreichbarkeit” oder “Bereitschaft” gesprochen. Verfügbarkeit ist jedoch ein authentischerer Begriff für diese Erwartung.
Selbiges ist in Stellenausschreibungen mit “hoher Einsatzbereitschaft” gemeint. Elegantere Euphemismen sind “Eigenmotivation”, “Engagement” oder “Spaß an der Arbeit”. Diese Dinge kommen von selbst, wenn die Begeisterung dahinter steht. Wir sollten also stutzig sein, wenn solche eigentlich selbstverständlichen Begleiterscheinungen erfüllender Arbeit extra hervorgehoben werden.
- Hohe Belastbarkeit
Was darunter zu verstehen ist, wissen wir wohl alle. Deadlines, Zeitdruck und Überstunden. Besonders tückisch an diesem Euphemismus ist, dass er indirekt verbietet, sich bei Überlastung zu beschweren. Denn wer nicht bereit ist, seine eigenen Ressourcen ausbeuten zu lassen, gilt als nicht belastbar. Das kommt in unserer heutigen Zeit einem auf die Stirn eingestanzten Brandmal gleich.
Die aktuelle Gretchenfrage
Angesichts dieser Erwartungen, die vom Einzelnen in der Industriegesellschaft gestellt werden — wie soll in diesem Zusammenhang Authentizität aussehen? Wäre es nicht authentisch, als Arbeitnehmer weiter zu schlafen, wenn der Wecker morgens klingelt? Oder dem Chef die Meinung zu geigen, wenn der Ton nicht angebracht ist?
Und genau an diesem Punkt geraten wir in einen Konflikt: Einerseits sollen wir uns der Arbeitswelt anpassen, Abschlüsse machen (Ben Paul beweist, dass das nicht der einzige Weg ist), Soft Skills ausbauen und uns nach den Anforderungen der Arbeitgeber richten.
Anderseits sollen wir Egomarketing betreiben, wie es die Karrierebibel treffend in einem Artikel zu dem Thema formuliert. Darin wird ein Satz des Schriftstellers Ödön von Horváth zitiert:
“Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu.”
Weiterhin heißt es in dem Beitrag:
“Und womöglich ist das die wahre Kunst, authentisch zu bleiben: ehrlich und treu sein Ändern zu leben und Toleranz gegenüber dem Anders-Authentischen zu üben.”
Der Autor redet nicht davon, wie Ich als Individuum authentisch sein kann. Nein, es geht darum, im Austausch mit anderen Menschen authentisch zu werden — durch Toleranz. Authentisch-Sein bedeutet, sich mit anderen in verschiedene Richtung zu entwickeln.
Und was jetzt?
Die Definition ist nicht das Problem, sondern die Umsetzung. Wir alle wollen so authentisch wie möglich sein, denn jeder Schritt weg davon ist ein Stück Selbstverleugnung, die nicht nur anstrengend, sondern auch schmerzhaft ist. Aber wie soll das in einer Arbeitswelt gelingen, die feste Schemata diktiert? Man könnte auch offen und ehrlich mit diesen Anforderungen umgehen. Ein Beispiel für einen Auszug aus einem (fiktiven) authentischen Stellenangebot:
“Der Job ist anstregend und Sie werden viele Überstunden machen. Wir erwarten, dass Sie sich nicht beklagen, wenn der Druck zu hoch sein sollte, denn Stress ist bei uns Standard, nicht die Ausnahme. Bitte sein Sie auf dem Handy, via E-Mail und auch persönlich jederzeit erreichbar. Wir verstehen, dass Schlafen leider zu Ihrem Leben als Mensch dazu gehört. Doch für die restliche Zeit gehören Sie uns. Auch wenn Sie in unsere Nähe gezogen sind, machen Sie es sich mit Ihrer Familie nicht zu gemütlich. Wir werden Sie im Sinne unserer Interessen über eine Versetzung informieren.”
Klingt nicht gerade sexy, oder? Aber authentisch und darum geht es in diesem Beitrag.
Totale Freiheit
Nun werden vielleicht einige von Ihnen sagen, dass Authentizität mit absoluter Freiheit gleichzusetzen ist. Dass Authentisch-Sein bedeutet, jederzeit und überall den eigenen Impulsen zu folgen.
Manche Menschen nutzen Authentizität als Vorwand, um andere Leute zu beleidigen, sie bloßzustellen oder zu verletzen. Doch ein authentisches Verhalten hat nichts damit zu tun, den Grundrespekt gegenüber anderen über Bord zu werfen.
Es hat auch nichts mit egozentrischer Egalität gemein. Authentisch-Sein hat eine soziale und eine egoistische Komponente. Es geht um Selbstannahme, aber auch um soziales Miteinander, Toleranz und Anpassung.
Fazit
Zu oft wird Authentizität glorifiziert und als Flaggschiff der Persönlichkeitsentwicklung gesehen. Hinter diesem verbergen sich jedoch zahlreiche, sich teils widersprechende Ideale. Um wirklich zu verstehen, was es mit Authentizität gemeint ist, müssen wir unseren Blick vom Egozentrismus hin auf das Miteinander richten. Authentisch-Sein bedeutet jedoch nicht, sämtliche Verhaltensregeln zu missachten und nur noch zu tun, wonach einem ist.
Was bedeutet der Begriff “authentisch” für Sie?
Illustration: Maria John Artwork