Manchmal tauchen in der Fotografie Begriffe auf, die wie frisch aus der Werbeküche zusammen gekocht aussehen. In Wirklichkeit kommt kaum etwas Neues hinzu. Alles, selbst die Digitalfotografie, nutzt im fotografischen Prozess uralte Technik. Neu ist nur, dass Vergessenes wieder hervorgeholt wird. Exakt das geschieht nun mit der Markteinführung des Filmmaterials „Rollei Retro 100 Tonal“. Da taucht der Begriff „orthopanchromatisch“ auf und alle Welt wundert sich. Ich habe eine Erklärung versprochen … Ihr habt es so gewollt … da müsst ihr jetzt durch …
Um den Begriff „orthopanchromatisch“ zu verstehen, muss man ein wenig in die Historie der Fotografie schauen. Am Anfang war alles Schwarzweiß. Bei Schwarzweiß-Filmen sind die unterschiedlichen Film-Charakteristika orthochromatisch, panchromatisch und superpanchromatisch wohl bekannt. Wir wissen alle, dass diese Klassifizierungen Indikatoren der Rotempfindlichkeit darstellen. Orthochromatische Filme „sehen“ kein Rot. Panchromatische Materialien sehen Rot in einem gewissen Wellenlängenbereich. Superpanchromatische sind so rotempfindlich, dass der Aufnahmebereich bis in den für das menschliche Auge nicht mehr sichtbaren Bereich hinein geht. Letzteres ist sehr gut nutzbar, wenn noch Zeichnung in den Schatten erkennbar sein soll oder gar Infrarot-Fotografie betrieben werden soll. Es gibt noch ein paar andere Charakteristika, die Sinn und Spaß machen, an dieser Stelle jedoch zu weit führen würden. Dieser Artikel handelt von orthopanchromatischen Filmen und dabei soll es bleiben.
Um das Orthopanchromatische zu verstehen, hilft weniger ein Blick in Datenblätter, als in die Geschichte. Das Farbsehen von Schwarzweiß-Filmen wird durch einen chemisch-physikalischen Trick bewerkstelligt. An dieser Stelle werden mich wieder Physiker steinigen und Technikdruiden hassen. Aber ich will diese Erklärung für jedermann verständlich machen, deshalb bitte ich um Verständnis, dass wissenschaftlich fundierten Abhandlungen an anderer Stelle veröffentlicht werden. Ich bin nur ein kleiner Fotograf und mir geht es um den Nutzen und nicht um die Wissenschaft. Der erwähnte Trick besteht darin, dass unterschiedliches Silberkorn mit unterschiedlichen Farbpigmenten angereichert werden. So sprechen diese auf gewisse Farben an und der Film kann diese dann „sehen“. Das langwellige Licht, also das rote, bereitete hierbei über Jahrzehnte die größte Schwierigkeit. Viele, viele Jahre näherten sich die „Konstrukteure“ von fotoempfindlichen Emulsionen in sehr kleinen Schritten dem Zustand an, dass die rote Farbe endlich in natürliche Grautöne auf Schwarzweißfilm umgesetzt werden konnte. Dies wurde schlussendlich mit panchromatischen Filmen erreicht. In der Zwischenzeit, also ab ca. 1910 bis Ende der 1950er Jahre, gab es Filme mit einer eingeschränkten Empfindlichkeit für Rot. Vollmundig sprachen bereits in den 1930er Jahren viele Filmhersteller von panchromatischen Filmen … wohl wissend, dass dies nur eine Werbeaussage war und die wirkliche Rotempfindlichkeit noch weit entfernt lag. Interessant aber, dass exakt in dieser Epoche eine gigantische Anzahl Fotografien auf diesem „falschen panchromatischen Material“ entstanden, die uns noch heute in ihren Bann ziehen. Ein Grund dafür ist, dass der dort gezeigte Bildausdruck prägnant und klar strukturiert ist. Dies wurde durch die starker Verwandtschaft mit dem orthochromatischen, rotblinden Aufnahme, plus der moderaten Sensibilisierung für die rote Farbe erreicht. Manchmal sind Widersprüche das spannendste in der Fotografie.
Orthopanchromatisch ist ein Begriff, dessen Bedeutung kam widersprüchlich sein kann. Schauen wir auf die technische Seite und beginnen den Glauben an starre Klassifizierungen zu verlieren. Um dafür Verständnis aufzubauen, müssen wir einen bislang kaum beachteten Aspekt in die Diskussion einwerfen. Hierbei handelt es sich im die Lichtmenge, die zu einer Schwärzung des Films führt. Diese stellt sich immer in einer umgekehrt liegenden S-Kurve dar. Wer es ganz genau wissen will, muss aus Datenblättern den Logarithmus der Lichtmenge zu unterschiedlichen Filmen entnehmen (und vergleichen) … das Kennen der Kurve führt jedoch nicht zwingend zu besseren Bildern. Allerdings ist interessant, dass je nach Sensibilisierung (also orthochromatisch, orthopanchromatisch, panchromatisch und superpanchromatisch) die Schwärzungskurve bei langen Belichtungszeiten in natürlicher Lichtumgebung (also nicht unter Laborbedingungen im vollen Spektralbereich) flacher wird, je geringer die Rotsensibilisierung ist. Ein schwieriger Lehrsatz. Hier die Erklärung: ein orthochromatisch sensibilisierter Film wird sich in der Abenddämmerung wesentlich langsamer schwärzen, als ein superpanchromatischer. Das klingt logisch.
Nun wünschen sich Schwarzweiß-Fotografen in vielen Situationen lange Belichtungszeiten. Weil kein orthochromatischer Film zu Verfügung steht, wird deshalb oft ein Film mit geringem ISO-Wert gewählt oder gar ein Filme gepullt (also niedriger belichtet, als die eigentlich angegebene Nennempfindlichkeit). Der Ansatz ist nicht falsch, aber es gehen in gewissen Situationen die knackigen Kontraste und das intensive Schwarz verloren. Andererseits stört manchmal die Rotblindheit der Orthochromatischen und es werden Grautöne im langwelligen Lichtbereich vermisst … rote Farbe schlägt rasant ins Schwarze um, ohne über Grau zu gehen. Das ist manchmal wie beim Monopoly … gehe nicht über Los und direkt ins Gefängnis. So gesehen muss es für Fotografen der früheren Jahre eine Offenbarung gewesen sein, als dem reinen orthochromatischen Film eine gewisse Rotempfindlichkeit mitgegeben wurde. Der orthopanchromatsiche Film war geboren. Natürlich könnte man das Ganze dann noch in Nanometer, also dem spektralen Empfindlichkeitsbereich, ausdrücken. Dies befriedigt die technische Neugier, lässt aber für die meisten Fotografen keinen Schluss zur praktischen Anwendung zu. Deshalb lohnt ein Blick auf die traditionellen Verwendungsarten der orthopanchromatischen Filme.
Zwei Hauptthemengebiete erschließen sich für orthopanchromatische Filme: Menschenfotografie und Landschaften. Wie jetzt … das klingt doch ganz normal. Bei näherem Hinsehen erkennen wir, dass gewiss nicht alles normal ist. Durch die orthopanchromatische Sensibilisierung kann der Fotograf auch bei guter Beleuchtung mit langen Verschlusszeiten arbeiten, ohne das gefürchtete Ausreißen der Lichter zu bekommen. Oft ist auch vom Absaufen ins Schwarze die rede. Hier muss man tatsächlich die Frage stellen, soll das Schwarze nicht schwarz sein? Den Herrn Schwarzschild möchte ich an dieser Stelle nicht bemühen, weil das deutlich zu weit führen würde. Im praktischen Beispiel einer Portraitfotografie erkennen wir, dass bei einer guten Ausleuchtung keineswegs Bereich „absaufen“. Aber mit panchromatischen oder superpanchromatischen Filmen werden Hautunreinheiten und Rötungen auch deutlich sichtbar, weil sie Rotsensibilisierung diese deutlich „sieht“. Moderne Fotografen blitzen das mit einer Softbox weg. Gute Analogfotografen greifen zu orthopanchromatischen Filmen, große Foto- und Entwicklungskünstler bedienen sich noch ganz anderer Tricks. Aber wir wollen es nicht komplizierter machen, als es sowieso schon ist. Orthopanchromatisch bedeutet auch, dass reines Weiß immer reines Weiß bleibt. Gerade hier haben viele Fotografen bei panchromatischen … und noch mehr bei superpanchromatischen … Filmen zu kämpfen, weil reines Weiß stets auch Rot hervorragend reflektiert und sich sozusagen selbst verunreinigt. Der orthopanchromatische Film kennt diese Zickereien nicht. Ein weiterer Vorteil in der Portraitfotografie ist das schnelle Umschlagen ins Schwarz, weil auf dunkles Grau ab einer gewissen Rottonalität verzichtet wird. Dies macht zum Beispiel Portraitaufnahmen klarer, eindeutiger und ausdrucksstärker.
Als zweiter Hauptanwendungsbereich wurde die Landschaftsfotografie genannt. Wer ganz ehrlich ist wird zugeben, dass Menschenfotografie und Landschaftsfotografie außer in der Tätigkeit des Fotografierens nur sehr wenig gemeinsames haben. Bei Menschen findet man eine Menge Rottöne, weil die Haut dieses Licht förmlich durch die Gegend schleudert. Derartige Rotintensitäten sind in der Landschaft nur bei Sonnenauf- und Sonnenuntergängen zu finden. Ansonsten herrscht blaues Licht vor. Dafür würde bereits der orthochromatische Film locker ausreichen, wenn da nicht das Ding mit den Schatten wäre. Im Schatten finden wir ein großes Maß an langwelligem Licht. Wenn wir also auch dort noch eine ausgewogene Abbildung von Details haben wollen, brauchen wir eine gewisse Rotempfindlichkeit. Interessant ist, dass das menschliche Auge ab einem Abstand von drei Meter nicht mehr die volle spektrale Sehfähigkeit hat. Diese Sehfähigkeit betrifft den langwelligen Lichtbereich. Tatsächlich bildet der orthochromatische Film in etwa so ab, wie das Auge es in der 3-Meter-Entfernung sieht. Deshalb erscheinen Schwarzweißbilder auf diesem Filmmaterial oft realitätsnäher, als auf mehr oder weniger sensibilisierten Materialien.
Nun könnten wir noch alle anderen Aufnahmebereich betrachten und Einsatzmöglichkeiten des orthopanchromatischen Films diskutieren. Wir werden jedoch erkennen, dass in diesen Aufnahmegebieten die realitätsnahe Fotografie in den Hintergrund tritt und ins Künstlerische gehen. Eindrucksvoll ist auf jeden Fall, was da alles machbar ist. Aber das muss jeder Fotograf für sich selbst entscheiden und nutzbar machen. Ein orthopanchromatischer Film ist keinesfalls der besser oder schlechtere Film, niemals das Material für jedermann und jederzeit. Es reizt jedoch ungemein, die Einsatzbereiche auszuloten. Wer sich auf Experimente in dieser Richtung einlässt, bekommt auf jeden Fall außergewöhnliche Bilder. Genau das ist ja auch das Reizvolle an der Analogfotografie, dass man durch den Wechsel auf ein anderes Filmmaterial einen anderen Bildausdruck herbeizaubern kann. Es lohnt also wieder, den schon zwanzig mal abgebildeten Lieblingsbaum ins neue Bild zu rücken.