Atomare Komposition wird schon lange gelehrt.
Was ist Meta-Komposition? Was kann sie? Wofür braucht man sie? Lohnt sich die Anschaffung jetzt?? Und was hat das alles mit dem SCHWELBRAND-Konzert zu tun, das am 14. März 2019 im ASeven Club Berlin steigen wird?? Antworten auf all diese Fragen gibt es jetzt in meiner kleinen Artikelserie zum Thema Meta-Komposition, die ich heute auf diesem Blog starte.
Meta-Komposition ist – ganz einfach – die Komposition mit supraatomaren Entitäten.
Hä?
Na gut. Von vorne.
Normalerweise arbeiten Komponisten ja mit Atomen – unteilbaren Grundeinheiten. Im einfachsten Fall handelt es sich um Töne. Es können aber auch Geräusche, Sinuswellen, weißes Rauschen o.ä. sein. Jedenfalls handelt es sich um Einheiten, die IN SICH noch nicht komponiert sind. Selbstverständlich können diese Klänge in akustischer Hinsicht weiter zerteilt werden (beispielsweise durch Filter oder Spektralanalyse). Aber in kompositorisch-analytischer Hinsicht sind sie unteilbar, atomar. Weder ein Ton noch ein homogener Rausch- oder Brutzelklang verfügt in sich über eine kompositorische Struktur. Erst der Komponist baut aus diesen Atomen syntaktisch zusammenhängende, immer größere Strukturen. Das Ergebnis ist eine Komposition – ein mehr oder weniger komplexes Musikstück.
An dieser Stelle setzt die Meta-Komposition ein. Sie verwendet als Baumaterial nicht die Atome, sondern die mehr oder weniger komplexen Musikstücke selbst. Meta-Komposition komponiert also mit Entitäten, die in sich bereits komponiert sind. Ich nenne diese Entitäten daher supraatomar – oberhalb der atomaren Ebene angesiedelt.
Bevor ich mich über die beträchtlichen ästhetischen Implikationen auslasse, die dieser Switch mit sich bringt, drängt sich eine andere Frage auf: Wann und wo stößt man überhaupt auf Meta-Komposition? Welche Phänomene fallen darunter?
Atomare Kompositionsweisen sind ja wohlbekannt und wohldokumentiert: Ihnen widmen sich Theoriegebäude wie die klassisch-romantische Harmonielehre, Schönbergs Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen oder Lachenmanns musique concrète instrumentale. Von einer Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Symphonien hat man hingegen noch nie gehört…
…Meta-Komposition hingegen wird bisher nur auf Ratgeber-Niveau behandelt.
Nun denn! Meta-Komposition gibts zum einen dort, wo man mit „vorgefundenem Material“ arbeitet – etwa mit Zitaten oder Samples, mit (gegliederten) Geräuschen oder Feldaufnahmen. (In gewisser Weise zählt auch die Verwendung von menschlicher Sprache dazu, da sie nicht beliebig atomisierbar ist, ohne ihre Semantik zu verlieren).
Zum anderen gibt es Meta-Komposition überall dort, wo verschiedene Musikstücke kuratorisch miteinander in Verbindung gebracht werden. Also etwa in einem Konzertprogramm, einer Radiosendung oder einer Playlist, ebenso bei jenen Volksfesten mit mehreren gleichzeitig spielenden Bands, die Charles Ives in seiner Kindheit erlebte, oder auch in der Grabeskirche von Jerusalem, wo griechische, koptische, syrische, äthiopische und lateinische Mönche (letztere mit dem unschlagbaren Vorteil der dröhnenden Orgel) ihre Sonntagsliturgie zeitgleich feiern, ohne dass der eine den anderen jeweils komplett übertönen dürfte.
Natürlich kann man nur dann sinnvoll von Meta-Komposition sprechen, wenn das Kuddelmuddel nicht vollkommen beliebig ist, sondern in irgendeiner Weise von einer gestaltenden, „komponierenden“ Hand angeleitet wird. Anders gesagt: die supraatomaren Entitäten dürfen nicht einfach zufällig und planlos durcheinandergespielt werden. Vielmehr muss die Interaktion bewusst kalkuliert und auf ein bestimmtes Ergebnis hingeordnet werden – was nicht zwingend Determinismus bedeutet: Auch bei Cages Europeras, wo die Opernausschnitte per Zufall gestartet und gestoppt werden, handelt es sich um Meta-Komposition – denn das Aufstellen von Regeln für zufällige Aktionen ist selbstverständlich ebenfalls gestaltende Tätigkeit (lediglich mit größeren Freiheitsgraden).
B. A. Zimmermanns Roi Ubu: Zitat-Switches im Sekundentakt
Generell gibt es Meta-Kompositionen (wie auch atomare Kompositionen) in sämtlichen denkbaren Dichtegraden. Auf der einen Seite des Spektrums stehen dicht strukturierte Zitat-Kompositionen wie Bernd Alois Zimmermanns Roi Ubu oder John Oswalds Plunderphonic-Stücke, bei denen jede Millisekunde exakt kalkuliert ist. Auf der anderen Seite stehen locker zusammengewürfelte bunte Abende, die nur über eine ganz rudimentäre dramaturgische Entwicklung verfügen.
Üblicherweise gilt: Je länger eine Meta-Komposition dauert, desto geringer wird ihr Dichtegrad. In John Oswalds Zwei-Minuten-Kracher Velocity ist jeder Cut genau kalkuliert – in einem zweistündigen Konzert der Donaueschinger Musiktage beschränkt sich die metakompositorische Arbeit in der Regel darauf, die vier oder fünf aufgeführten Kompositionen in die sinnvollste Reihenfolge zu bringen.
Diese umgekehrte Proportion zwischen Länge und Dichte ist jedoch keineswegs zwingend. Meine momentane Arbeit zielt z.B. genau darauf, gegen diese Konvention zu verstoßen. Ich tue derzeit nichts geringeres, als einen kompletten Konzertabend metazukomponieren – auf die Millisekunde genau! Anders gesagt: Ich entwickle das kommende SCHWELBRAND-Konzert nicht nach kuratorischen, sondern nach kompositorischen Kriterien. Somit handelt es sich am 14. März keineswegs (wie man zunächst denken könnte) um ein Konzert mit Werken von Xenakis, Dragicevic, Grütter, Oswald und anderen. Sondern es geht um die Uraufführung einer einstündigen Meta-Komposition von MIR – unter Verwendung einiger supraatomarer Entitäten, auch Kompositionen genannt, aus der Feder von Xenakis, Dragicevic, Grütter, Oswald usw.!
So unbescheiden das klingen mag, so sehr bin ich doch Sklave. Denn ein entscheidender Unterschied zwischen Komposition und Meta-Komposition besteht darin, dass das Material der Meta-Komposition über innere Energien verfügt, die den Meta-Komponisten herumschubsen. Wenn ich mit Tönen komponiere, wohnt den Tönen keine Eigenenergie inne. Ein eingestrichenes c drängt nirgendwo hin. Erst wenn ich es z.B. mit einem Crescendo versehe, bekommt es eine Richtung. Da das Material atomar ist, habe ich es vollständig im Griff. Die supraatomaren Entitäten hingegen habe ich nicht im Griff. Xenakis‘ Klavierstück Evryali entwickelt einen Furor, dem ich – als Meta-Komponist – nicht entkommen kann. Das Material hat ein Eigenleben und zerrt an mir. Ich muss es halb wüten lassen und es halb bändigen und es irgendwie – mitsamt all den anderen Supraatomen – in eine kohärente Meta-Komposition hineingießen. Eine – wie sagt man heute? – durchaus herausfordernde Aufgabe…
Wie man das konkret macht und welche erstaunlichen ästhetischen Konsequenzen das alles hat – dazu mehr in den nächsten Beiträgen!
Ach übrigens: Für das SCHWELBRAND-Konzert am 14. März in Berlin gibt es noch Karten! (SAVE THE DATE!!!!)