Verehrte Zuhörer, Meditation (ding) und Weisheit (hui) sind die Grundlagen meiner Lehre. Zunächst denkt nicht, dass Meditation und Weisheit verschieden seien. Sie sind von gleicher Gestalt, d. h. Meditation ist der Körper der Weisheit und Weisheit ist die Anwendung der Meditation. Wenn Weisheit gegenwärtig ist, dann ist darin Meditation; wenn Meditation gegenwärtig ist, dann ist darin Weisheit.
Der Kampfkunstlehrer Wong Kiew Kit schreibt in seinem "Complete Book of Zen" (Cosmospress 2010) zu diesen Sätzen des sechsten Patriarchen Huineng etwas Interessantes: "Viele missverstehen dies, weil sie denken, ding müsse etwas anderes als Meditation sein, da es ja schon die Ausdrücke chan (dhyana) und jing-zuo (schweigendes Sitzen) dafür gäbe. Professor Wing-Tsit Chan hat das Wort beispielsweise mit "Seelenruhe" (calmness) übersetzt. Ding steht hier jedoch als Kurzform von chan ding (dhyana-samadhi). Die üblichen chinesischen Ausdrücke für die drei buddhistischen Disziplinen von moralischer Reinheit (sila), Meditation (dhyana) und Weisheit (prajna) sind jie, ding und hui. (...) Warum ist Meditation nicht verschieden von Weisheit? Weisheit ist die Erkenntnis, dass die kosmische Wirklichkeit transzendent ist - dies ist das Erlangen der Buddhaschaft. Sie geschieht in einem Zustand tiefer Meditation, wo das Bewusstsein jeglichen Dualismus überwindet."
Hui-neng selbst drückt es im Plattformsutra deutlicher aus: "In dieser meiner Lehre bedeutet 'Sitzen', überall ohne Hindernis zu sein und unter allen Umständen keine Gedanken zu aktivieren." (T 48:339a4-5)
Sitzen alias Meditation alias Versenkung ist also bei Huineng keine formale Sitzmeditation, sondern ein im gesamten Alltag aufrechzuerhaltender Geisteszustand.