WEIMAR. (fgw) “…können wir Humanistik als ein Fachgebiet verorten, das sich am Schnittpunkt verschiedenster Disziplinen situiert. Es vereint empirische Beschreibung und normative Werte, Wissenschaft und Weltanschauung, objektivistisches und interpretatorisches Herangehen, theoretische Untersuchung und praktische Veränderung. Als angewandte Humanwissenschaft strebt sie danach, den einzelnen Menschen in seiner Komplexität, als fühlendes, denkendes, urteilendes, vorausstrebendes und handelndes Wesen zu betrachten, das innerhalb eines gegebenen, aber veränderbaren historischen und gesellschaftlichen Kontextes seinem Leben Sinn, Inhalt und Form zu geben versucht.” Das schreiben Gily Coene und Ulrike Dausel auf Seite 108 des hier vorgestellten Sammelbandes. Mehr zu diesem Beitrag weiter unten.
Um sich diesem Komplex wirkmächtig nähern zu können, waren insgesamt vier Tagungen der Humanistischen Akademie Deutschlands (HAD) notwendig. Deren wichtigste Debattenbeiträge haben Aufnahme in diesen Sammelband gefunden.
Es waren dies folgende Konferenzen: Die 11. Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung mit der HAD im November 2010 (“Humanistik in Zeiten der Krise”), eine Konferenz der Humanistischen Akademie Berlin (HAB) ebenfalls im November 2010 (“Was ist Weltanschauungspflege?”), die 2. Konferenz des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der HAD im Dezember 2010 (“Barmherzigkeit und Solidarität – nur säkularisierte Nächstenliebe?”) sowie eine Konferenz der HAB im März/April 2011 (“Anti-Humanismus und Humanismus-Kritik – Aufgaben der Humanismus und Humanistik”).
Der aus Sicht des Rezensenten wichtigste und qualitivste Beitrag stammt aus der Feder von Gily Coene und Ulrike Dausel: “Lehrstuhl Humanistik und humanistische Praxisarbeit in Flandern – Eine sinnvolle Synergie”. Beide Frauen sind beim Dachverband der humanistischen Organisationen im flämischen Landesteil Belgiens tätig.
Auch wenn es in Belgien keine radikale Trennung von Staat und Kirche gibt, so ist dennoch in diesem überwiegend katholisch geprägten Land die Stellung von nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften eine gänzlich andere. Was ihre rechtliche und praktische Anerkennung und was ihre Gleichstellung mit den Großkirchen angeht, so kann das für Deutschland durchaus beispielhaft sein.
Die Autorinnen geben einen anschaulichen Überblick über das Wirken der “freisinnig-humanistischen” Organisationen – mit Beispielen von der Wiege bis zur Bahre. Was den Beitrag aber so wichtig macht: In Belgien ist die Humanistik bereits universitär verankert und nicht bloß Projekt eines Verbandes. Was man dort unter Humanistik versteht, wie sich dieses Fachgebiet strukturiert, das mag jeder selbst nachlesen. Humanistik soll mehr sein als eine Vorbereitung auf eine Art “humanistischer Priesterschaft”. Deshalb: ”Einer der zentralen Werte in humanistischer Praxisarbeit ist die Annahme, dass der Mensch selbst Schöpfer und Träger seiner Werte ist und es keine übernatürliche, dem Menschen übergeordnete Werteinstanz gibt.” (S. 110)
Coene und Dausel schreiben realitätsbezogen ferner: “Autonomie, menschliche Entfaltung, kritisches Denken, Demokratie – aber auch Solidarität und Sorgsamkeit – sind wesentliche und voneinander abhängige Grundwerte des Humanismus. [...] Persönliche Autonomie und Selbstentfaltung sind nur in einer Gesellschaft möglich, die die nötige Freiheit, Fürsorge, Mitgefühl, Geborgenheit und Unterstützung bietet, die Individuen in verschiedenem und wehselndem Maße in den verschiedenen Phasen ihres Lebens brauchen, um ihr Dasein so autonom wie möglich gestalten zu können.” - Aber: “In dem heutigen Kontext der neoliberalen Globalisierung stehen diese Werte ernsthaft unter Druck und drohen oftmals einer Logik des ökonomischen Wettbewerbs untergeordnet und unterworfen zu werden, die das alltägliche Leben durchdringt und die zwischenmenschlichen Kontakte und Verhältnisse verhärtet.” (S. 114)
Mehr als schwach fällt dagegen der Beitrag des Philosophen Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, aus: “Humanismusforschung – Humanistische Philosophie, Humanistik und humanistische Studien”. Ein Zuviel an professoralem Elfenbeinturm, ein Zuwenig an praktischer Wissenschaftlichkeit; schwer lesbar geschrieben, wenig ansprechend und demzufolge auch nicht geeignet, Freunde und Skeptiker zum Nutzen einer Humanistik zu überzeugen.
Hervorhebenswert auch Hubert Cancic mit seinen “Vorüberlegungen zu einer Enzyklopädie des Humanismus – Bilder, Namen, Begriffe”. Ein klares Plädoyer für deren Notwendigkeit, ein klar umrissenes Konzept für eine solche Enzyklopädie. – Allerdings, etwas ähnliches gibt es bereits! Außerhalb des Humanistischen Verbandes und seines Umfeldes. Gemeint ist hier das “Lexikon des freien Denkens”, das (in Jahreslieferungen) als Loseblatt-Sammlung seit dem Jahre 2000 im Angelika Lenz Verlag erscheint und von den Thüringern Hans G. Eschke (†) und Jan Bretschneider sowie von Erich Satter herausgegeben wird.
Gleich mehrere Autoren widmen sich dem Anti-Humanismus, insbesondere dem im 20. Jahrhundert. So stellt Enno Rudolph zunächst die Frage “Humanismus – ein gescheitertes Projekt?” Angesichts der vielfältigen Jubelveranstaltungen im Rahmen der laufenden Luther-Dekade sind seine Worte um so bemerkens- und bedenkenswerter: “…gehört die Reformation lutherscher Provenienz zu den Totengräbern des klassischen, nachmittelalterlichen Humanismus in Form und Inhalt: formal durch den Stil fundamentalistischer Unerbittlichkeit und fanatisch inquisitorischer Verfolgungslust; inhaltlich durch die kompromißlose Verteidigung der religiös legitimierten Entmündigung des Menschen gegen das humanistische Projekt der Ableitung der Menschenwürde aus dem freien Willen; und schließlich literarisch durch die definitive Privilegierung eines exklusiven Schriftkanons – sola scriptura lautete der Schlachtruf – gegenüber allen anderen kulturellen Überlieferungen.” (S. 50). Der Humanismusforschung der näheren Zukunft gibt Rudolph dies mit auf den Weg: “die Frage nach dem Erfolgsgeheimnis des Antihumanismus in Geschichte und Gegenwart.” (S. 53)
Und eben dieser Frage gehen in ihren Beiträgen nach: Antoon De Baerts mit “Ruft Unmenschlichkeit Menschlichkeit hervor? – Untersuchung zu einem Paradoxon”; Perdita Ladwig mit Antihumanismus Henry Thode – Werk und Wirkung eines Kunsthistorikers”; Hubert Cancik mit “‘Humanismus’, ‘Humanismuskritik’ und ‘Antihumanismus’ am Beispiel von Friedrich Nietzsche”; Horst Junginger mit “Antihumanismus und Faschismus”; Joachim Kahl mit “Lebensekel und Sehnsucht nach Versteinerung – Ulrich Horstmanns Traktat ‘Das Untier’” sowie Justus H. Ulbricht mit “Moralinfreie Barbaren – Zur ‘Herrenethik’ in arteigenen’ Religionsentwürfen”.
In seiner Auseinandersetzung mit deutsch-christlichen, völkischen und neuheidnischen Bewegungen gibt Ulbricht dem Leser dies mit auf den Weg: “Wollte man heute übrigens dem Konnex zwischen Christentumskritik, Paganismus, naturreligiösen Ideen, ökologischem Denken – aber auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – auf die Spur kommen, dann müsste man entweder in einen CD-Laden gehen und sich im Regal mit der Musik der ‘schwarzen Szene’ [...] umtun oder bei Google alle Wortverbindungen mit ‘germanisch’, ‘heidnisch’ oder ‘keltisch’ eingeben. Und wer Bücher liest, der gehe an das Fantasy-Regal, wo die ‘Nebel von Avalon’ stehen, aber nicht nur die…” (S. 164)
Herausgeber Horst Groschopp steuerte seinerseits einen ebenfalls bemerkenswerten Beitrag bei: “Humanismus gegen Naziideologie – Ernst Hadermann und die ‘wahre Humanität’ in Jelabuga 1942″. Dieser Text ist ein Auszug zu einer Studie, die noch in diesem Jahr erscheinen soll: “Die SED und der Humanismus. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der DDR in der Ära Ulbricht”. So schreibt Groschopp, daß zu den nach 1990 in Vergessenheit geratenen Bereichen der DDR-Kulturgeschichte auch dies gehörte: “Dazu gehört der Humanismus [...] ‘Humanismus’ fand sogar in den Verfassungen ihren Niederschlag, darin die DDR in der Welt alleinstellend. [...] Die DDR-verfassung von 1949 benutzte das Wort ‘wahre Humanität’, woraus 1968 ‘sozialistischer Humanismus’ wurde.” (S. 180/181). Der Autor zeigt auf, daß Begriffe wie ‘wahre Humanität’ dazu beigetragen haben, bürgerlich-humanistische gebildete deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion zu aktiven Nazi-Gegnern zu werden und teilweise später auch zu Mitgestaltern der DDR.
Hervorzuheben ist unbedingt die “Selbstkritik des Humanismus” von Jörn Rüsen. Er beklagt u.a., daß das humanistische Geschichtskonzept nicht frei von ethnozentristischen Tendenzen sei und die Humanität der griechisch-römischen Antike idealisiere. Und er konstatiert für den modernen Humanismus ein deutliches Manko an sozialer Solidarität. “Schließlich”, so Rüsen, “findet der moderne westliche Humanismus eine Grenze in seiner interkulturellen Ausrichtung. Er muß sich die Kritik an seiner ideologischen Verwendung zur Unterwerfung der nicht-westlichen Kulturen zu eigen machen.” (S. 57) Und das deutlich, denn die neuzeitlichen (christlichen) Menschenrechtskrieger bedienen sich ja in größter Dreistigkeit humanistischer Werte zur Begründung ihrer aggressiven Handlungen gegen mißliebige Staaten und Regierungen…
Daß Humanismus als Lebensweise auch etwas mit der ökonomischen Basis und gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben und nicht nur mit hehren moralischen Begriffen und Werten, das verdeutlichen in zwei sehr unterschiedlich angelegten Beiträgen Thomas Heinrichs (“Prinzipien sozialer Güterverteilung – Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Humanität”) und Friederike Habermann (“Einfach anders wirtschaften – Der homo oeconomicus ist jetzt – wir werden”).
Heinrichs zeigt fundiert und anschaulich den gravierenden Unterschied von (christlicher) Barmherzigkeit und Solidarität auf. Daß Barmherzigkeit für den Empfänger entwürdigend ist und daß Barmherzigkeit nur die jeweiligen ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse stabilisiert. Dabei geht er konkret auf die Hartz-IV-Gesetzgebung und -Praxis ein. Dazu möge man nur eine Fußnote auf S. 208 lesen: “Um ein Missverständnis gleich auszuschließen: der Sozialstaat beruht nicht auf dem Solidaritätsprinzip. Motiv für die staatliche Einführung eines sozialen Absicherungssystems, welches sich an einem staatlich definierten Bedarf orientiert, ist vielmehr die Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse. [...] Panem et circenses ist ein ganz altes Prinzip zur Stabilisierung von Herrschaft. Der Sozialstaat dient nur der ausreichenden Brotzuteilung, die circenses leistet heute vor allem das Fernsehen.” - Und auf S. 218 heißt es dann ganz klar: “Die Herrschenden ihrerseits sind immer nur dann bereit, sich weniger zu nehmen, wenn die Armut so groß wird, dass die sozialen Verhältnisse instabil werden und die Position der Herrschenden dadurch bedroht ist.”
Und daher muß, darf Humanismus, muß und darf Humanität nicht bloß(e) Theorie bleiben, sondern muß praktisch sein bzw. werden. Welche verfassungsrechtlichen Grundlagen es für den organisierten Humanismus gibt, das zeigt Christine Mertesdorf auf mit “‘Weltanschauungspflege’ – juristisch gesehen”. Und wie es bereits punktuell praktiziert wird, das verdeutlicht Michael Bauer anhand der Geschichte und des Wirkens des HVD Nürnberg mit seinem Beitrag “Humanistische Weltanschauungspflege – praktisch gesehen”.
Insgesamt kann sich der Rezensent der optimistischen Hoffnung Horst Groschopps anschließen:“Es wären junge Wissenschaftlerrinnen und Wissenschaftler für ‘Humanistik’ zu begeistern und sie müssten sich eine Hochschulkarriere selbst erobern. Vielleicht kann der vorliegende Band das Problem kommunizieren.” (S. 21) So weit – so richtig. Nur, der exobitante Preis von 22 Euro dürfte so manche studiosi vom Kauf und damit der Lektüre dieses Buches abhalten.
Horst Groschopp (Hrsg.): Humanistik – Beiträge zum Humanismus. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland. Bd. 4. 274 S. m. Abb. kart. Alibri-Verlag Aschaffenburg 2012. 22,- Euro. ISBN 978-3-86569-087-6
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]