Was ist Humanistik? – Die Wissenschaft vom Humanismus?

WEIMAR. (fgw) “…kön­nen wir Humanistik als ein Fachgebiet ver­or­ten, das sich am Schnittpunkt ver­schie­dens­ter Disziplinen situ­iert. Es ver­eint empi­ri­sche Beschreibung und nor­ma­tive Werte, Wissenschaft und Weltanschauung, objek­ti­vis­ti­sches und inter­pre­ta­to­ri­sches Herangehen, theo­re­ti­sche Untersuchung und prak­ti­sche Veränderung. Als ange­wandte Humanwissenschaft strebt sie danach, den ein­zel­nen Menschen in sei­ner Komplexität, als füh­len­des, den­ken­des, urtei­len­des, vor­aus­stre­ben­des und han­deln­des Wesen zu betrach­ten, das inner­halb eines gege­be­nen, aber ver­än­der­ba­ren his­to­ri­schen und gesell­schaft­li­chen Kontextes sei­nem Leben Sinn, Inhalt und Form zu geben ver­sucht.” Das schrei­ben Gily Coene und Ulrike Dausel auf Seite 108 des hier vor­ge­stell­ten Sammelbandes. Mehr zu die­sem Beitrag wei­ter unten.

humanistik sammelband Was ist Humanistik? Die Wissenschaft vom Humanismus?Nun end­lich liegt er vor, der Sammelband zur wis­sen­schaft­li­chen Humanistik. Dieser, von Horst Groschopp her­aus­ge­ge­bene Band, ver­eint 17 Texte von 16 Frauen und Männern. Worum es geht, benennt der Herausgeber in sei­ner Einführung so: “Humanistik – Wegbegleitung aus der Krise?”

Um sich die­sem Komplex wirk­mäch­tig nähern zu kön­nen, waren ins­ge­samt vier Tagungen der Humanistischen Akademie Deutschlands (HAD) not­wen­dig. Deren wich­tigste Debattenbeiträge haben Aufnahme in die­sen Sammelband gefun­den.

Es waren dies fol­gende Konferenzen: Die 11. Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung mit der HAD im November 2010 (“Humanistik in Zeiten der Krise”), eine Konferenz der Humanistischen Akademie Berlin (HAB) eben­falls im November 2010 (“Was ist Weltanschauungspflege?”), die 2. Konferenz des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der HAD im Dezember 2010 (“Barmherzigkeit und Solidarität – nur säku­la­ri­sierte Nächstenliebe?”) sowie eine Konferenz der HAB im März/April 2011 (“Anti-Humanismus und Humanismus-Kritik – Aufgaben der Humanismus und Humanistik”).

Der aus Sicht des Rezensenten wich­tigste und qua­li­tivste Beitrag stammt aus der Feder von Gily Coene und Ulrike Dausel: “Lehrstuhl Humanistik und huma­nis­ti­sche Praxisarbeit in Flandern – Eine sinn­volle Synergie”. Beide Frauen sind beim Dachverband der huma­nis­ti­schen Organisationen im flä­mi­schen Landesteil Belgiens tätig.

Auch wenn es in Belgien keine radi­kale Trennung von Staat und Kirche gibt, so ist den­noch in die­sem über­wie­gend katho­lisch gepräg­ten Land die Stellung von nicht­re­li­giö­sen Weltanschauungsgemeinschaften eine gänz­lich andere. Was ihre recht­li­che und prak­ti­sche Anerkennung und was ihre Gleichstellung mit den Großkirchen angeht, so kann das für Deutschland durch­aus bei­spiel­haft sein.

Die Autorinnen geben einen anschau­li­chen Über­blick über das Wirken der “freisinnig-humanistischen” Organisationen – mit Beispielen von der Wiege bis zur Bahre. Was den Beitrag aber so wich­tig macht: In Belgien ist die Humanistik bereits uni­ver­si­tär ver­an­kert und nicht bloß Projekt eines Verbandes. Was man dort unter Humanistik ver­steht, wie sich die­ses Fachgebiet struk­tu­riert, das mag jeder selbst nach­le­sen. Humanistik soll mehr sein als eine Vorbereitung auf eine Art “huma­nis­ti­scher Priesterschaft”. Deshalb: ”Einer der zen­tra­len Werte in huma­nis­ti­scher Praxisarbeit ist die Annahme, dass der Mensch selbst Schöpfer und Träger sei­ner Werte ist und es keine über­na­tür­li­che, dem Menschen über­ge­ord­nete Werteinstanz gibt.” (S. 110)

Coene und Dausel schrei­ben rea­li­täts­be­zo­gen fer­ner: “Autonomie, mensch­li­che Entfaltung, kri­ti­sches Denken, Demokratie – aber auch Solidarität und Sorgsamkeit – sind wesent­li­che und von­ein­an­der abhän­gige Grundwerte des Humanismus. [...] Persönliche Autonomie und Selbstentfaltung sind nur in einer Gesellschaft mög­lich, die die nötige Freiheit, Fürsorge, Mitgefühl, Geborgenheit und Unterstützung bie­tet, die Individuen in ver­schie­de­nem und weh­seln­dem Maße in den ver­schie­de­nen Phasen ihres Lebens brau­chen, um ihr Dasein so auto­nom wie mög­lich gestal­ten zu kön­nen.” - Aber: “In dem heu­ti­gen Kontext der neo­li­be­ra­len Globalisierung ste­hen diese Werte ernst­haft unter Druck und dro­hen oft­mals einer Logik des ökono­mi­schen Wettbewerbs unter­ge­ord­net und unter­wor­fen zu wer­den, die das all­täg­li­che Leben durch­dringt und die zwi­schen­mensch­li­chen Kontakte und Verhältnisse ver­här­tet.” (S. 114)

Mehr als schwach fällt dage­gen der Beitrag des Philosophen Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, aus: “Humanismusforschung – Humanistische Philosophie, Humanistik und huma­nis­ti­sche Studien”. Ein Zuviel an pro­fes­so­ra­lem Elfenbeinturm, ein Zuwenig an prak­ti­scher Wissenschaftlichkeit; schwer les­bar geschrie­ben, wenig anspre­chend und dem­zu­folge auch nicht geeig­net, Freunde und Skeptiker zum Nutzen einer Humanistik zu über­zeu­gen.

Hervorhebenswert auch Hubert Cancic mit sei­nen “Vorüberlegungen zu einer Enzyklopädie des Humanismus – Bilder, Namen, Begriffe”. Ein kla­res Plädoyer für deren Notwendigkeit, ein klar umris­se­nes Konzept für eine sol­che Enzyklopädie. – Allerdings, etwas ähnli­ches gibt es bereits! Außerhalb des Humanistischen Verbandes und sei­nes Umfeldes. Gemeint ist hier das “Lexikon des freien Denkens”, das (in Jahreslieferungen) als Loseblatt-Sammlung seit dem Jahre 2000 im Angelika Lenz Verlag erscheint und von den Thüringern Hans G. Eschke (†) und Jan Bretschneider sowie von Erich Satter her­aus­ge­ge­ben wird.

Gleich meh­rere Autoren wid­men sich dem Anti-Humanismus, ins­be­son­dere dem im 20. Jahrhundert. So stellt Enno Rudolph zunächst die Frage “Humanismus – ein geschei­ter­tes Projekt?” Angesichts der viel­fäl­ti­gen Jubelveranstaltungen im Rahmen der lau­fen­den Luther-Dekade sind seine Worte um so bemerkens- und beden­kens­wer­ter: “…gehört die Reformation luther­scher Provenienz zu den Totengräbern des klas­si­schen, nach­mit­tel­al­ter­li­chen Humanismus in Form und Inhalt: for­mal durch den Stil fun­da­men­ta­lis­ti­scher Unerbittlichkeit und fana­tisch inqui­si­to­ri­scher Verfolgungslust; inhalt­lich durch die kom­pro­miß­lose Verteidigung der reli­giös legi­ti­mier­ten Entmündigung des Menschen gegen das huma­nis­ti­sche Projekt der Ableitung der Menschenwürde aus dem freien Willen; und schließ­lich lite­ra­risch durch die defi­ni­tive Privilegierung eines exklu­si­ven Schriftkanons – sola scrip­tura lau­tete der Schlachtruf – gegen­über allen ande­ren kul­tu­rel­len Über­lie­fe­run­gen.” (S. 50). Der Humanismusforschung der nähe­ren Zukunft gibt Rudolph dies mit auf den Weg: “die Frage nach dem Erfolgsgeheimnis des Antihumanismus in Geschichte und Gegenwart.” (S. 53)

Und eben die­ser Frage gehen in ihren Beiträgen nach: Antoon De Baerts mit “Ruft Unmenschlichkeit Menschlichkeit her­vor? – Untersuchung zu einem Paradoxon”; Perdita Ladwig mit Antihumanismus Henry Thode – Werk und Wirkung eines Kunsthistorikers”; Hubert Cancik mit “‘Humanismus’, ‘Humanismuskritik’ und ‘Antihumanismus’ am Beispiel von Friedrich Nietzsche”; Horst Junginger mit “Antihumanismus und Faschismus”; Joachim Kahl mit “Lebensekel und Sehnsucht nach Versteinerung – Ulrich Horstmanns Traktat ‘Das Untier’” sowie Justus H. Ulbricht mit “Moralinfreie Barbaren – Zur ‘Herrenethik’ in art­ei­ge­nen’ Religionsentwürfen”.

In sei­ner Auseinandersetzung mit deutsch-christlichen, völ­ki­schen und neu­heid­ni­schen Bewegungen gibt Ulbricht dem Leser dies mit auf den Weg: “Wollte man heute übri­gens dem Konnex zwi­schen Christentumskritik, Paganismus, natur­re­li­giö­sen Ideen, ökolo­gi­schem Denken – aber auch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – auf die Spur kom­men, dann müsste man ent­we­der in einen CD-Laden gehen und sich im Regal mit der Musik der ‘schwar­zen Szene’ [...] umtun oder bei Google alle Wortverbindungen mit ‘ger­ma­nisch’, ‘heid­nisch’ oder ‘kel­tisch’ ein­ge­ben. Und wer Bücher liest, der gehe an das Fantasy-Regal, wo die ‘Nebel von Avalon’ ste­hen, aber nicht nur die…” (S. 164)

Herausgeber Horst Groschopp steu­erte sei­ner­seits einen eben­falls bemer­kens­wer­ten Beitrag bei: “Humanismus gegen Naziideologie – Ernst Hadermann und die ‘wahre Humanität’ in Jelabuga 1942″. Dieser Text ist ein Auszug zu einer Studie, die noch in die­sem Jahr erschei­nen soll: “Die SED und der Humanismus. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der DDR in der Ära Ulbricht”. So schreibt Groschopp, daß zu den nach 1990 in Vergessenheit gera­te­nen Bereichen der DDR-Kulturgeschichte auch dies gehörte: “Dazu gehört der Humanismus [...] ‘Humanismus’ fand sogar in den Verfassungen ihren Niederschlag, darin die DDR in der Welt allein­stel­lend. [...] Die DDR-verfassung von 1949 benutzte das Wort ‘wahre Humanität’, wor­aus 1968 ‘sozia­lis­ti­scher Humanismus’ wurde.” (S. 180/181). Der Autor zeigt auf, daß Begriffe wie ‘wahre Humanität’ dazu beige­tra­gen haben, bürgerlich-humanistische gebil­dete deut­sche Kriegsgefangene in der Sowjetunion zu akti­ven Nazi-Gegnern zu wer­den und teil­weise spä­ter auch zu Mitgestaltern der DDR.

Hervorzuheben ist unbe­dingt die “Selbstkritik des Humanismus” von Jörn Rüsen. Er beklagt u.a., daß das huma­nis­ti­sche Geschichtskonzept nicht frei von eth­no­zen­tris­ti­schen Tendenzen sei und die Humanität der griechisch-römischen Antike idea­li­siere. Und er kon­sta­tiert für den moder­nen Humanismus ein deut­li­ches Manko an sozia­ler Solidarität. “Schließlich”, so Rüsen, “fin­det der moderne west­li­che Humanismus eine Grenze in sei­ner inter­kul­tu­rel­len Ausrichtung. Er muß sich die Kritik an sei­ner ideo­lo­gi­schen Verwendung zur Unterwerfung der nicht-westlichen Kulturen zu eigen machen.” (S. 57) Und das deut­lich, denn die neu­zeit­li­chen (christ­li­chen) Menschenrechtskrieger bedie­nen sich ja in größ­ter Dreistigkeit huma­nis­ti­scher Werte zur Begründung ihrer aggres­si­ven Handlungen gegen miß­lie­bige Staaten und Regierungen…

Daß Humanismus als Lebensweise auch etwas mit der ökono­mi­schen Basis und gesell­schaft­li­chen Verhältnissen zu tun haben und nicht nur mit heh­ren mora­li­schen Begriffen und Werten, das ver­deut­li­chen in zwei sehr unter­schied­lich ange­leg­ten Beiträgen Thomas Heinrichs (“Prinzipien sozia­ler Güterverteilung – Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Humanität”) und Friederike Habermann (“Einfach anders wirt­schaf­ten – Der homo oeco­no­mi­cus ist jetzt – wir wer­den”).

Heinrichs zeigt fun­diert und anschau­lich den gra­vie­ren­den Unterschied von (christ­li­cher) Barmherzigkeit und Solidarität auf. Daß Barmherzigkeit für den Empfänger ent­wür­di­gend ist und daß Barmherzigkeit nur die jewei­li­gen ökono­mi­schen und poli­ti­schen Herrschaftsverhältnisse sta­bi­li­siert. Dabei geht er kon­kret auf die Hartz-IV-Gesetzgebung und -Praxis ein. Dazu möge man nur eine Fußnote auf S. 208 lesen: “Um ein Missverständnis gleich aus­zu­schlie­ßen: der Sozialstaat beruht nicht auf dem Solidaritätsprinzip. Motiv für die staat­li­che Einführung eines sozia­len Absicherungssystems, wel­ches sich an einem staat­lich defi­nier­ten Bedarf ori­en­tiert, ist viel­mehr die Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse. [...] Panem et cir­cen­ses ist ein ganz altes Prinzip zur Stabilisierung von Herrschaft. Der Sozialstaat dient nur der aus­rei­chen­den Brotzuteilung, die cir­cen­ses leis­tet heute vor allem das Fernsehen.” - Und auf S. 218 heißt es dann ganz klar: “Die Herrschenden ihrer­seits sind immer nur dann bereit, sich weni­ger zu neh­men, wenn die Armut so groß wird, dass die sozia­len Verhältnisse insta­bil wer­den und die Position der Herrschenden dadurch bedroht ist.”

Und daher muß, darf Humanismus, muß und darf Humanität nicht bloß(e) Theorie blei­ben, son­dern muß prak­tisch sein bzw. wer­den. Welche ver­fas­sungs­recht­li­chen Grundlagen es für den orga­ni­sier­ten Humanismus gibt, das zeigt Christine Mertesdorf auf mit “‘Weltanschauungspflege’ – juris­tisch gese­hen”. Und wie es bereits punk­tu­ell prak­ti­ziert wird, das ver­deut­licht Michael Bauer anhand der Geschichte und des Wirkens des HVD Nürnberg mit sei­nem Beitrag “Humanistische Weltanschauungspflege – prak­tisch gese­hen”.

Insgesamt kann sich der Rezensent der opti­mis­ti­schen Hoffnung Horst Groschopps anschlie­ßen:“Es wären junge Wissenschaftlerrinnen und Wissenschaftler für ‘Humanistik’ zu begeis­tern und sie müss­ten sich eine Hochschulkarriere selbst erobern. Vielleicht kann der vor­lie­gende Band das Problem kom­mu­ni­zie­ren.” (S. 21) So weit – so rich­tig. Nur, der exo­bi­tante Preis von 22 Euro dürfte so man­che stu­diosi vom Kauf und damit der Lektüre die­ses Buches abhal­ten.

Horst Groschopp (Hrsg.): Humanistik – Beiträge zum Humanismus. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland. Bd. 4. 274 S. m. Abb. kart. Alibri-Verlag Aschaffenburg 2012. 22,- Euro. ISBN 978-3-86569-087-6

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]


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