Ich habe in den vergangenen Monaten nicht nur ein Allheilmittel gemixt, sondern auch ein Hyperklavier gebaut!
Dieses Hyperklavier, das am 24. November in Frankfurt erstmalig auf die Öffentlichkeit losgelassen wird, ist ganz wundersam – es stattet den Pianisten nämlich mit sieben Armen und 33 Fingern aus – und darum möchte ich es hier vorstellen, und, wie es sich für einen Komponisten Neuer Musik gehört, anschließend ästhetisch-kritisch diskutieren.
Für alle, die lieber Musik hören als Text lesen, gibt es hier ein kleines Video, in dem ich ein wenig auf dem Instrument improvisiere und dabei die wichtigsten Features demonstriere. Wer lieber Text liest als Musik hört, möge einige Zentimeter runterscrollen, dann gehts weiter.
In seinen frühesten Formen reicht das Hyperklavier bis ins Jahr 2007 zurück. Damals war ich noch Student der musikalischen Wunderheilkunde, und das Hyperklavier spielte noch nicht mit Klavier-, sondern mit FM-, d.h. mit synthetisierten Klängen. Das Grundprinzip – bewege wenig Finger, erhalte viele Töne – gab es aber schon damals. Wenn man nacheinander beispielsweise c‘ – g‘ anschlug, interpolierte die Maschine selbständig alle Zwischentöne. Man konnte also rasend schnelle Läufe spielen.
Ich habe das Hyperklavier damals zwar improvisierenderweise am ZKM Karlsruhe vorgestellt (und es lieferte lustigerweise 2009 sogar den Titel für eine Porträtsendung im Deutschlandradio Kultur – „Fehlt nur das Klavier mit den 1000 Tasten“) – aber ich habe nie ein Stück dafür komponiert. Doch als das Ensemble Modern letztes Jahr an mich herantrat mit dem Wunsch, ich möge meinem neuzuschreibenden Orchesterstück ein „elektronisch erweitertes“ Instrument beigeben, da wusste ich sofort: Ha – nun schlägt die Stunde meiner Wundermaschine!!!
Hyperklavier-Interface in Max/MSP
Das von Grund auf neu konzipierte Hyperklavier des Jahres 2017 verfügt über mannigfache Effekte, die sich ein- und ausschalten und kombinieren lassen, ähnlich wie bei einer Jahrmarktsorgel.
Ein einfacher Effekt ist z.B. der „Repetierer“. Drückt man eine Taste, wird der entsprechende Ton in rasender Geschwindigkeit automatisch repetiert. Der Pianist muss also diese Technik nicht mehr üben. (Ich habe mich zwischenzeitlich sogar mit dem Gedanken getragen, damit Ravels „Alborada del gracioso“ nachzubauen und meinem Allheilmittel als Essenz beizufügen. Aber dann hat es mir doch nicht gefallen.)
Apropos „Alborada“: Rasend schnelle Läufe aufwärts und abwärts über die Klaviatur kann man mit dem Hyperklavier natürlich auch spielen. Man muss sich noch nichtmal die Fingerknöchel blutig machen, sondern nur bequem auf einen einzigen Knopf drücken – den Rest erledigt der Computer (vgl. Video, 0’35).
Zu den komplexeren Effekten gehört der „Akkordbooster“. Er reagiert nur dann, wenn zwei oder mehrere Töne exakt gleichzeitig angeschlagen werden. In diesem Fall berechnet er aus der Intervallkonstellation diverse Zusatztöne, sodass man mit zwei, drei oder vier gedrückten Tasten fünf-, neun- oder siebzehnstimmige Akkorde zaubern kann.
Besonders erfreulich: Wenn man währenddessen eine einstimmige Melodie spielt, wird diese nicht durch den Effekt beeinträchtigt, weil der ja nur dann aktiv wird, wenn mindestens zwei Töne zeitgleich gedrückt werden. Man kann also munter melodische und akkordische Elemente kombinieren; die akkordischen Elemente werden geboostet, die melodischen Elemente nicht. Das ermöglicht sehr schöne heterogene und explosive Strukturen.
Das Hyperklavier kann außerdem aus vierstimmigen Akkorden Riesen-Arpeggien über die gesamte Tastatur generieren. Ich habe damit Rachmaninoffs zweites Klavierkonzert nachgebildet – und im Gegensatz zu Ravels Alborada habe ich diese Kreation tatsächlich ins Allheilmittel untergerührt.
Außerdem beherrscht das Hyperklavier natürlich Standardkniffe wie Tastaturbelegung im Achteltonabstand, Vibrato, Pitch-Bending, Rückwärtsspielen etc., was insbesondere in Kombination mit den obigen Effekten interessant wird.
Gesteuert wird das alles durch ein zweites (kleines) Keyboard, das oben auf dem Spielkeyboard draufsteht. Je nachdem, wie schnell die Effekte ein- und umgeschaltet werden müssen, braucht es dazu ein gehöriges Maß an Virtuosität.
Aber nun genug der Faktendarstellung. Schreiten wir zur ästhetischen Diskussion!
Das Hyperklavier ist natürlich keine simple Jahrmarktsorgel. Es ist ein utopisches Instrument, das nicht von ungefähr Teil eines Allheilmittels ist. Ich habe mal gehört, dass Zuhörer aus ländlichen Gebieten Südamerikas zu lachen begonnen hätten, als ein Orchester unisono mit dadada-daaaa zu Beethovens Fünfter einsetzte. Es ist, von außen betrachtet, ja tatsächlich etwas speziell, wenn sich dreißig oder achtzig Leute auf die Bühne setzen, um in konzertierter Aktion genau dasselbe zu tun.
Im Orchester hat – anders als in einer Jazz- oder Popband oder auch in vielen traditionellen Musikkulturen – nicht jeder Musiker seine eigene Funktion (Melodie, Bass, Rhythmus, Harmonie etc.). Die Musiker geben ihre Individualität ein Stück weit preis, um ein größeres Individuum, einen Meta-Musiker, sozusagen einen Monsterfisch aus lauter kleinen Fischen entstehen zu lassen: das Orchester.
Genau so ein Monster ist das Hyperklavier auch. Hier ist es nicht die Menschenmasse, sondern die Computertechnik, die die Aktion des einzelnen Menschen vergrößert, aufbläht, übersteigt. Der Hyperklavierspieler bleibt ein einzelner Mensch, doch er erzeugt eine Klangfülle, wie es sonst nur dutzende Musiker können. Und der Hyperklavierspieler muss ebenso wie der Orchestermusiker seine Individualität ein Stück weit preisgeben, denn auf viele Parameter des aufgeblähten Instruments – z.B. auf die Lautstärkenbalance der Zusatztöne beim Akkordbooster oder auf die musikalische Gestaltung der automatischen Repetitionen – hat er keinen Einfluss mehr. Er ist der Maschine ausgeliefert und hat dennoch nur durch diese Maschine die Chance, gegenüber dem anderen Monster, dem Orchesterapparat, zu bestehen.
Mögen sich die beiden Monster? Nun ja – es ist kompliziert. Manchmal gibt es diese blitzlichtartige Vereinigung von Orchesterutopie und Technikutopie. Dann zuckt die unio mystica auf, die Transzendierung, der Hyperfisch. Aber ist die Utopie gut? Oder ist sie kitschig, ist sie gefährlich, totalitär, lächerlich? Die Zentrifugalkräfte setzen sofort ein. Die Fische schwimmen nicht mehr im Takt, die Individuen ziehen sich an den Haaren, karikieren sich, verspotten sich. Aber ist das nicht auch Transzendenz? Die Einsicht in die Lächerlichkeit unserer Anstrengungen?
Transzendenz, Hybris und Absurdität fließen ineinander. Wo der eine mystischen Überschwang erlebt, erblickt der andere nur Peinlichkeit. Und der dritte erkennt gerade in der Peinlichkeit die Transzendenz.
Ich habe übrigens gehört, dass manche Ärzte behaupten, es gäbe gar kein Allheilmittel. Nun – Beethoven wäre sicherlich auch der Meinung gewesen, es gäbe gar kein Hyperklavier; und die Taliban denken, es gäbe gar keine Musik. Man sollte das nicht allzu ernst nehmen. Zweifellos gibt es ein Allheilmittel. Man darf nur nicht glauben, es könnte alle Probleme lösen…