Was ist eigentlich die Scharia?

Es wird ja dieser Tage (und eigentlich seit dem 11. September dauernd) immer wieder von der Scharia gesprochen. Nun, ich habe manchmal den Eindruck, die meisten Diskutanten wissen meist gar nicht, wovon sie da eigentlich reden, oder welche Form der Scharia sie meinen. Meistens geben sie lediglich ein Bild von der Scharia wider, welches aber oft diffus bleibt anstatt es zu konkretisieren. Dies zeigt nur ihre Unkenntnis der Materie, wo sie glauben, mit Steinigung, mit Hand abhacken, Ehrenmord, usw. wäre schon "die Scharia" genügend charakterisiert.

Hier im Blog hatte ich schon einmal auf einen interessanten Artikel verwiesen, der die Wechselwirkungen des Westens mit dem islamischen Raum und unseren Einfluss mal aufzeigt, auch auf die Scharia:
Wieviel Westen steckt im modernen Islam?


Auf dieser Internetseite wird das definitorische Problem tangiert:

(...) Heute ist der Begriff Scharia unklar. Denn wenngleich Länder wie Saudi-Arabien, Iran, Afghanistan oder Ägypten behaupten, die Scharia anzuwenden, sieht die Gesetzgebung in diesen Staaten ganz unterschiedlich aus. Reines Schariatsrecht aus dem Koran ist dabei allenthalben das jeweilige Ehe- und Familienrecht oder das Zinsverbot.
Wer also von Scharia spricht, muss eigentlich erst einmal erklären, was er darunter versteht. Leider hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass dies eine besonders strikte Rechtsprechung ist, bei der Frauen benachteiligt werden und bei Ehebruch die Steinigung sowie bei Diebstahl die Amputation von Händen droht.Doch das ist nach Meinung der meisten Muslime nicht der eigentliche Sinn der Scharia. (...)"

swr.de: Die Scharia
Nun verlinke ich auf lesenswerte Texte zum Thema, nach deren Lektüre sicherlich jeder mehr Klarheit beim Thema Scharia haben sollte:

Prof. Dr. Heinz Halm
Islamisches Rechts- und Staatsverständnis.
Islam und Staatsgewalt.


"Der Islam ist Religion und Staat" ( al-Islam din wa-daula) lautet ein oft zitierter Grundsatz. Angeblich macht er es Muslimen grundsätzlich unmöglich, zwischen beiden Sphären zu trennen.

Sollte dies tatsächlich so sein, dann wären Muslime nicht in der Lage, eine der Grundlagen der modernen Demokratie anzuerkennen: die Trennung zwischen Religion und Staat, den säkularen Staat als neutralen Vermittler zwischen unterschiedlichen religiösen Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Der Slogan wird denn auch mit Vorliebe von Vertretern jener politischen Strömungen im modernen Islam im Munde geführt, die wir "islamistisch" nennen, also jener Richtungen des politischen Islam, die der Demokratie westlichen Zuschnitts ablehnend oder gar feindlich gegenüberstehen und einen "islamischen" Staat fordern, der nicht demokratische, sondern theokratische Züge tragen und die in der prophetischen Sendung Mohammeds geoffenbarte gottgewollte Ordnung auf Erden realisieren soll. Nun ist aber der eingangs zitierte Slogan vor dem 19. Jahrhundert gar nicht zu belegen. Er ist selber ein Produkt der Moderne, und es ist zu fragen, ob er tatsächlich historisch begründet ist und nicht bloß ein Idealbild oder das Postulat einer bestimmten modernen Ideologie darstellt.
(...)

bitte hier weiterlesen:
Heinz Halm: Artikel "Islam und Staatsgewalt"

"Scharia kontra weltliches Recht?
Kilian Bälz
Nach einer weit verbreiteten Ansicht werden Weiterentwicklungen und Neuerungen im Recht der muslimischen Länder durch dessen religiösen Charakter verhindert.Häufig wird behauptet, die „Heiligkeit" der Scharia mache die muslimischen Länder immun gegen Rechtsreformen oder stelle doch zumindest ein bedeutendes Hindernis für tiefer gehende rechtliche Änderungen dar.
Obwohl in vielen Teilen der muslimischen Welt unbestreitbar ernsthafte Mängel im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die grundlegenden wirtschaftlichen Freiheiten festzustellen sind, möchte ich in meinem Beitrag die Ansicht vertreten, dass dies nicht dem angeblich „heiligen" Charakter der Scharia zuzuschreiben ist. Mehr noch:In der gesamten muslimischen Welt wurden im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte die Grundsätze der Scharia in vielen (wenn nicht in den meisten) Bereichen des Rechts durch vom Menschen geschaffene Statuten ersetzt. Des Weiteren behaupte ich, dass bei näherem Hinsehen kein Widerspruch zwischen dem islamischen Recht (der Scharia) und dem weltlichen Recht besteht, denn jedes Recht ist vom Menschen geschaffen. (...)

aus dem Hauptkapitel:
S. 99 III. Religiöses versus weltliches Recht?

weiter in dem frei lesbarem Ebook:

ISLAM UND RECHTSSTAAT

ZWISCHEN SCHARIA UND SÄKULARISIERUNG
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin 2008.


Ein Interview mit Mathias Rohe, der im Übrigen, wie so viele Wissenschaftler, die sich differenziert und fundiert mit dem Islam auseinandersetzen, Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen rechtsradikaler und -populistischer Kreise inklusive von Teilen des sogenannten Bildungsbürgertums erwehren muss. (Deutschlandfunk berichtete, via Don't you belive the hype)

Eren Güvercin: Oft wird das islamische Recht insgesamt als veraltet dargestellt. Gibt es überhaupt moderne Ansätze?

Mathias Rohe: Die gibt es durchaus. Wenn wir uns heute das Szenario des islamischen Rechts anschauen, zum Beispiel im Familienrecht oder Erbrecht - das ist der Bereich, in dem islamische Traditionen noch am stärksten vorhanden sind -, dann erkennen wir immense Unterschiede etwa zwischen Marokko und Tunesien auf der einen und Saudi-Arabien und anderen sehr traditionellen Staaten auf der anderen Seite, obwohl die alle von sich sagen, dass sie auf der Basis der Scharia, der islamischen Normenlehre, ihre Normen geschaffen hätten. Woher kommt das? Nun, weil die Quellen unterschiedlich gelesen werden.

Wer sich sehr stark an den Wortlaut eines Korantextes orientiert, der wird beispielsweise diese patriarchalische Grundstruktur im Geschlechterverhältnis beibehalten. Wer - wie andere Gelehrte das tun - eine dynamische Lektüre bevorzugt, wer nach Sinn und Zweck dieser Regelungen fragt, der wird sagen, die Antwort des 7. Jahrhunderts kann eine andere sein als eine im 21. Jahrhundert, und prüft dann, welche Erfordernisse im 21. Jahrhundert bestehen. Der Islam hat in seiner Geschichte einigen Erfolg gehabt, weil und soweit es ihm gelungen ist, sich an die jeweiligen örtlichen und zeitlichen Verhältnisse auch anzupassen. Ein gewisser Kernbestand des Glaubens ist unantastbar, also das Bekenntnis zu dem einen Gott und die fünf Säulen, aber in allen anderen Bereichen gibt es ein sehr hohes Maß an Flexibilität. Das hat es gegeben und gibt es auch nach wie vor. Von daher muss man schon sagen, das Bild ist sehr bunt geworden.


komplett auf Telepolis lesbar


Zum Vertiefen ein Buchtipp:
auf googlebooks: Mathias Rohe: Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart teilweise online einsehbar.

Probekapitel der Einleitung, ein Absatz daraus:

Auch wer vom islamischen Recht kaum etwas weiß, hat nicht selten präzise Vorstellungen davon. Handabhacken, Auspeitschen oder Steinigen von Ehebrechern, Tötung Andersgläubiger und Benachteiligung von Frauen sind einige der am weitesten verbreiteten Stereotype. Willkürliche "Kadijurisprudenz" gilt als Markenzeichen. Das islamische Recht fügt sich so in das verbreitete Bild eines grausamen und rückständigen Orients.
Entspricht aber dieses Bild der Realität, oder sagt es mehr über den Betrachter aus?
kleine Auswahl an Rezensionen

Hier eine kurze stichpunktartige Einführung in die historische Entwicklung der Scharia durch die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer:
Einführung in die Islamwissenschaft / WS 2003/4
Kurzprotokoll: Islamisches Recht (Scharia) S. 13-17

Ein Vortrag, etwas über die Scharia hinausgehend, welcher zeigt, dass durchaus kritisch über "den" Islam gesprochen werden kann, ohne dabei in rechtspopulistische Stammtischreden zu verfallen.

Gudrun Krämer
Islam, Menschenrechte und Demokratie:
Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis.
Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung, Ladenburg 2003.
ab S. 17.

(Bildquelle: Wikimedia Commons)


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