Was heißt hier Fortschritt?!

Von Morindian

Während meiner neun Monate hier in Indien habe ich schon einige Male, die Weltmetropole Bangalore besucht. Sie wird oft als IT-Hauptstadt der Welt in den Himmel gelobt. Auch viele deutsche Konzerne wie zum Beispiel Bosch haben einen Gefallen an der Stadt gefunden und produzieren hier. Fast sechs Millionen Menschen sind es, die leben und dementsprechend unübersichtlich ist auch die Stadt. Gerade in der abendlichen Rushhour, wenn man von einen Stadtteil in den nächsten oder übernächsten gelangen will, hat man während teils stundenlangen Rikshawfahrten das Gefühl, die Stadt sei endlos.

Aufgrund der schlechten Infrastruktur und des unbequemen Verkehrsflusses entscheiden sich bereits viele der indischen Taxifahrer gegen eine Fahrt durch die Rushhour, in der Zeit von etwa 16:00 Uhr bis teilweise 22:00 Uhr. Ich selbst habe es oft erlebt, dass die Rikshawfahrer mich nicht mitnehmen wollten. Einmal heißt es, der Ort sei zu weit weg und die Fahrt würde sich in Betracht des langen und zähen Rückweges nicht rentieren. Ein anderes Mal liege der Ort zu dicht am Startpunkt und man würde mit einem anderen Kunden mehr Geld machen. Wieder ein anderes Mal haben die motivierten Fahrer anderes im Sinn und flüchten einfach mit leerem Gefährt vorm Geschäft.

Um das Problem der schlechten Infrastruktur etwas in den Griff zu bekommen und gleichzeitig auf internationale Standards aufzurüsten, hatte sich Bangalore vor Jahren vorgenommen ein Metro-Schienennetz einzurichten. Mittlerweile laufen die Bauarbeiten auf Hochtouren. Zwei Stationen zwischen denen man hin und her pendeln kann, wurden bereits im Oktober letzten Jahres eröffnet. Doch die Tatsache, dass Städte wie Kalkutta und Mumbai die Vision einer Metro um ein Vielfaches schneller und unproblematischer realisieren konnten, lässt die Bangalorer Metro zum Gespött werden, denn gerade hier hatte man als Erster davon geträumt.


Zur Verwestlichung der indischen Großstädte gehört aber nicht nur die Metro. Shopping Malls nach amerikanischen Vorbild zogen auch nach Bangalore. Nun schießen sie wie Pilze aus den Boden. Mit geschätzten 50 großen und kleinen Komplexen liegen ich wahrscheinlich noch weit von der eigentlichen Zahl entfernt. Vor allem die höhere Mittelschicht und die reichen Inder können hier in den Boutiquen mit französischen oder italienischen Marken zu den uns bekannten übertriebenen Preisen einkaufen. Ein Leben mit Nutella zum Frühstück, dutzenden Kinobesuchen und Adidas-Turnschuhen ist hier genau so möglich wie bei uns.

Viele der modernen oder fast schon westlichen jungen Inder können in Städten wie Bangalore auch meist problemlos mit Freund oder Freundin leben. Wo auf dem Lande sonst nur die arrangierte Ehe in der selben Kaste und selbstverständlich der selben Religion als Beziehung verstanden wird, ist in den fortschrittlichen Städten die Sicht darauf viel flexibler geworden. Die sogenannten 'Lovers', also diejenigen, die zusammen sind ohne verheiratet worden zu sein und dies öffentlich zeigen, sind aber selbst in Bangalore nicht von jedem geduldet. Das konservative Schild mit der Aufschrift 'Lovers not allowed' vor einem Park scheint wie ein riesiger Bremsklotz aus der eigenen Bevölkerung, der versucht die Flexibilität, die der Pluralismus und das Konsumleben möglichen machen, aufzuhalten.

Es bleibt abzuwarten, welche neuen Konfrontationen sich entwickeln, während Indien sich für den Weg des Fortschritts entschieden hat und ihn versucht zu beschreiten.