Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
Lilly Lindner
Fischer, 2015
978-3733500931
9,99 €
April ist fort. Seit Wochen kämpft sie in einer Klinik gegen ihre Magersucht an. Und seit Wochen antwortet sie nicht auf die Briefe, die ihre Schwester Phoebe ihr schreibt. Wann wird April endlich wieder nach Hause kommen? Warum antwortet sie ihr nicht? Phoebe hat tausend Fragen. Doch ihre Eltern schweigen hilflos und geben Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer Schwester fehlt. Aber sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und so schreibt sie ihr Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein, die April hinterlassen hat.
April ist so süß und zuverlässig. Jeden Tag schreibt sie einen Brief und vermisst ihre Schwester. Sie pflückt Worte wie ein Autor, setzt sie zusammen, reißt sie auseinander und ist ein Kind dabei. Sie verliert den Status nie, aber kämpft darum auch anders sein zu dürfen.
Phoebe ist die große Schwester, die verlorene Schwester. Mit ihr zu leben und sie zu lesen, ist schwierig und traurig. Ihre Briefe haben mich ohnmächtig zurück gelassen.
Die Kulisse sind hier die Briefe, obwohl diese natürlich Dinge beschreiben, die die beiden Schwestern sehen. April erzählt manchmal von er Klinik und Phoebe von der Schule oder Dingen, die auf der Straße passieren.
Briefe zwischen Schwestern, die sich nicht sehen und spüren können. Ihre Beziehung war eine besondere, ihr Leben auch. Mit Höhen und Tiefen versuche sie zu kämpfen, zu leben und nicht unterzugehen.
Gerade Phoebe hat große Probleme und will ihre Schwester damit eigentlich nicht beschweren. Im ersten teil schreibt April die Briefe. Sie erzählt fröhlich, verschmitzt von ihrem Leben. Aber auch dort gibt es Schatten. Sie vermisst ihre Schwester, kämpft um ihre Worte und will nur Liebe, wie jedes Kind.
Phoebe antwortet nicht, kann nicht, will nicht – wir wissen es nicht und leiden mit April. Aber es sind die schon großen Worte aus dem kleinen Mädchen, die uns imponieren und über die wir Lächeln. “Kindermund tut Wahrheit kund” oft gehört und selbst gesagt, trifft dieser Satz zu 100 % auf April zu.
Phoebe kennen wir nur aus ihren Beobachtungen und Erzählungen. Im zweiten Teil darf die große Schwester sprechen. Ihr Geist ist wach, zu wach, ihr Körper schwach. Wer hat Schuld, wer nicht? Eine Spirale aus Momente, in die wir hineingezogen werden. Am Ende spuckt Phoebe uns aus und wir fühlen uns hilflos und wollen die Schwestern retten … und können es nicht.
Die kindliche und doch erwachsene Sprache, die Liebe, die Bösartigkeit und die Kälte hat Lilly Lindner wieder einmal gekonnt eingefangen. Ein Jugendbuch, das seines gleichen noch sucht, denn ähnliche Bücher gibt es, aber keines das mich so getroffen hat.
Liebe, Hass, Gut und Böse nah beieinander und zwei Schwestern, die dazwischen stehen.
Wie oft verwenden wir das Wort “Ich”? Wie oft denkt man, was fehlt schon, wenn ich nicht da wäre? Wenn uns jemand ignoriert, verletzt oder geht? Ich kann mir kein Cover vorstellen, dass mehr nach Lilly Lindner aussieht, ohne sie zu zeigen.
Mir fehlten lange die Worte und irgendwie ist es immer noch so. Manchmal fließend, manchmal stockend spannt sich hier eine Geschichte vor dem Leser auf, die es so noch nicht gegeben hat. Verletzend, erschütternd, aber auch verbindend und tröstend.