Natürlich hat mich der Wahlausgang am Sonntag schockiert. Aber es ist Zeit, in die Zukunft zu blicken!
Habt ihr eigentlich überhaupt nichts verstanden? In Baden-Württemberg will die CDU nach ihrem Wahldebakel den Ministerpräsidenten stellen? Julia Klöckner freut sich auf Twitter darüber, dass rot-grün in Rheinland-Pfalz abgewählt ist, weil die AFD so stark geworden ist und das Land fast unregierbar gemacht hat? Und in Sachsen-Anhalt überlegt die CDU im Einzelfall mit der AFD zu koalieren? Ein bekannter schrieb auf Twitter: Ich glaube, ich werde mich jetzt bewaffnen, und ein anderer meinte: AFD-Warnung, zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie das Parteiprogramm oder fragen Sie Ihren Großvater. Mit unbeschreibbarer Arroganz werfen sich SPD und Linke gegenseitig politisches Versagen vor, und die FDP triumphiert, weil sie ihren Wiedereinzug in die Landtage für eine bestätigung ihrer unsozialen und neoliberalen Politik hält. Und in Rheinland-Pfalz, wo Malu Dreyers soziale und gerechte Politik der SPD den Sieg eingebracht hat, kann sie ihn nicht nutzen, und auf der Bundesebene bleibt die neoliberale Erfüllungspolitik der Genossen bestehen. Und da soll man an Demokratie, Sozialstaat und die Selbstheilungskräfte glauben? Eine siebenstellige Zahl von Menschen hat am Sonntag faschistisch gewählt! Überlegen Sie, was das heißt! Der Faschismus ist zurück und feiert sich in deutschen Parlamenten, und die Politiker der ehemals etablierten Parteien tun so, als könnten ihre Marketingspielchen und gegenseitigen Siegererklärungen irgendwen noch beeindrucken. Man hat das Gefühl, ihnen fällt gar nicht auf, dass sie es waren, die unsere Demokratie verspielten, unsere mündigen Bürger verarschten und vertrieben, unsere soziale Sicherheit zerschlugen, unsere ökonomische Stabilität opferten auf dem Altar gewinnmaximierender Großmannssüchte.
Das ist die Analyse in Kurzform, sie ist bekannt, sie zeugt von Ratlosigkeit und von dem verzweifelten Flehen um göttlichen Beistand, politische Einsicht und ein soziales Wunder. Nichts von all dem wird kommen. So wie wir es waren, die lieber Personen und ihre Frisuren wählten, statt um Inhalte zu streiten, die lieber an blühende Landschaften glaubten, statt für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, die lieber Hartz IV erdulden statt eine gerechte Besteuerung zu verlangen, so liegt es nun auch an uns, eine Kehrtwende vorzunehmen. Wir sind das Volk, wir sind der Souverän. Wir wählen keine Politiker, damit sie uns gebratene Tauben in den Mund werfen, sondern damit sie für eine begrenzte Zeit nach bestem Wissen und Gewissen den Staat verwalten, ohne ihn zu beherrschen.
Gut gebrüllt, Löwe, aber was folgt daraus?
Daraus folgt, dass wir zunächst einmal das Wahlergebnis vom Sonntag als das erkennen müssen, was es in Wahrheit ist: Der schmerzhafte Ausdruck von jenem Rest an Demokratie, der uns noch verblieben ist. Wenn wir keinen Einheitsbrei wollen, können wir nur die Linke oder die AFD wählen, mögen sich viele Bürgerinnen und Bürger gedacht haben, und sind zur Wahl gegangen. Und weil der Sozialismus in Deutschland immer ein größeres Schreckgespenst war als der Rechtspopulismus, haben sie eben AFD gewählt, denn sie wollen schnelle, einfache Lösungen, und vor allem wollen sie gegen politische Entmündigung protestieren. Das bedeutet, dass man diese wutentbrannten Protestbürger tatsächlich ernstnehmen sollte. Damit meine ich eben nicht, ihre menschenfeindlichen Ausbrüche zu dulden oder ihnen entgegenzukommen oder selbst mit der eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten, sondern man muss sie als Ausdruck demokratischer Wahlen ernstnehmen, und man muss sich mit ihnen politisch auseinandersetzen. Totschweigen und Wegdiskutieren hilft nicht. Wir können dem wütenden Mob der Straße nur unseren eigenen Respekt, unsere eigene Klarheit, aber auch unsere eigene Freundlichkeit und unser persönliches Beispiel entgegenhalten. Menschen, die dies vermögen, die mit politischen Gegnern debattieren, in ihrem Umfeld freundlich sind und doch in ihrem sozialen und politischen Engagement klare Haltung zeigen, die bewundere ich von Herzen. Die Menschen mit ihren Ängsten ernstzunehmen heißt eben nicht, jeden AFD-Wähler einen Faschisten zu nennen. Die Ununterscheidbarkeit fast aller anderen politischen Programme, die Angst vor sozialer Erosion, wirtschaftlichem Ruin und politischer Entmündigung hat sicher auch Menschen in die Arme der Protestpartei getrieben, die aus Angst und im Reflex reagierten, die in gesicherten Verhältnissen und bei politischer Vielfalt vermutlich anders wählen würden.
Der nächste Schritt wäre, dass man wieder politische Alternativen kennt. Es ist doch sonnenklar, dass die SPD von den Wählerinnen und Wählern für den Verrat an ihren sozialdemokratischen Werten abgestraft wurde und wird. Zeigt man den Bürgerinnen und Bürgern wieder, für welche Werte man steht, dann kann man auch gewählt werden. Sicher: Man hat nicht immer die Mehrheit, aber das nennt man Demokratie, dieses System wollten wir haben, und das ist auch gut so. Hier zum Beispiel vertritt die AFD klar Standpunkte, die ich teilen kann: Weg mit den Lobbyisten in der Politik, Verbot von Nebenverdiensten von Politikern, Unvereinbarkeit von Regierungsamt und parlamentsmandat, mehr Volksabstimmungen, die Möglichkeit der Volksinitiative. Das klingt ganz und gar nicht faschistisch, und wir müssen begreifen, dass es Punkte gibt, in denen die Protestpartei den Finger auf tatsächlich bestehende Wunden legt. Auch das bedeutet, dass wir sie und ihr Programm kennen und ernstnehmen müssen. Den Anderen, den Brandstiftern, den Demagogen, den Mördern, denen begegne man doch bitte mit der Härte des Strafrechts, das hat nichts mit Politik, sondern mit Kriminalität zu tun. Dasselbe gilt für die menschenverachtenden und volksverhetzenden Äußerungen von
AFD-Spitzenpolitikern. Wichtig ist aber, dass auch die anderen politischen Parteien wieder Positionen vertreten, die man teilen kann. Es passen nicht alle in die Mitte der Gesellschaft, oder jeder nur ein Stück! Die FDP vertritt die Reichen, das ist doch eine Aussage. Die Grünen vertreten die reichen Ökos, diese recht neue, umweltbewusste obere Mittelschicht, die von der FDP nicht abgedeckt wird. Vom sozialen, friedenspolitischen Programm der Grünen ist nichts geblieben. SPD und CDU wollen alle vertreten und scheitern damit kläglich. Die CDU kann sich immerhin noch an die Christen wenden, die sie im Namen führt, die SPD hingegen hat die Arbeiter und wirtschaftlich Schwachen verraten und verkauft. Und die Linke vermag es nicht, politisch aufrüttelnd und in der Sprache des Volkes aufzutreten und die Abgehängten ins Boot zu holen. Solange unsere Politiker Angst haben, nicht für alle und jeden wählbar zu sein, solange ist genug Platz für die AFD in unserem Parteienspektrum. Insofern macht die CSU in Bayern es richtig: Man erkennt sie als die Partei, die am rechten Rand steht, und das ganz bewusst. Man muss nicht ihrer Meinung sein, und sie darf die verfassungsrechtlichen Grenzen nicht überschreiten, doch sie vertritt Werte, auch wenn ich diese Werte nicht teile. Aber das ist eben diese Demokratie, von der wir immer reden.
Der Wahlerfolg der AFD lässt sich somit als demokratisches Ereignis begreifen, soweit demokratische Ereignisse heute noch möglich sind. Es liegt an uns, den Wütenden, den Verunsicherten, den Zurückgelassenen eine Alternative zu bieten durch unseren Respekt, unsere Mitmenschlichkeit, unsere Freundlichkeit, unser Engagement, unsere klare politische Haltung und die Vielfalt unserer Gesellschaft. Wir müssen uns in die Politik einbringen und unsere Werte zu den Werten der verschiedenen Parteien machen. Demokratie erfordert Arbeit, Toleranz, gegenseitigen Respekt und eine klare politische Haltung. Das ist schwer, aber es ist unsere einzige Chance.
Links zum dringenden Lesen:
Andijahs World: Verantwortung und Vertrauen
Johannes Korten: German Angst ist keine Lösung
Sehr kluges, nachdenkliches ZEIT-Dossier über die AfD von Malte Henk Der Programmentwurf der AFD im PDF-Format
Die Zeit über den Verlust politischer Inhalte bei Wahlkämpfen – Rechtspopulismus: Tschüss Politik
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