Was die NSA unter “Extremisten” versteht

Überwachungskameras, oto: Dirk Ingo Franke / Wikimedia CC BY 3.0

Überwachungskameras, Foto: Dirk Ingo Franke / Wikimedia CC BY 3.0

Wer seine Privatsphäre schützt, in dem er zum Beispiel seine Mails verschlüsselt oder über sog. TOR-Netzwerke anonym surft, wird von der NSA als “Extremist” eingestuft und überwacht.

Recherchen von NDR und WDR haben ergeben, dass die NSA mit XKeyscore alle Internetnutzer ins Visier nimmt, die nach dem Anonymisierungsnetzwerk TOR, das großenteils von der US-Regierung finanziert wird, suchen oder dieses benutzen. Die Nutzer sind für die NSA nicht nur verdächtig, sie gelten auch gleich als Extremisten.

Das betrifft auch deutsche Staatsbürger. Die Recherchen ergaben, dass die NSA gezielt auch Deutsche überwacht, die TOR verwenden. Namentlich bekannt wurde Sebastian Hahn, der einen TOR-Server betreibt. Damit ist er – neben der Bundeskanzlerin – der zweite namentlich bekannte deutsche Staatsbürger, der von einem ausländischen Geheimdienst überwacht wird.

Der bekannte IT-Fachanwalt Thomas Stadler sieht hier einen “Anfangsverdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit” als gegeben an. Die Bundesanwaltschaft hält sich aber weiterhin zurück “und erklärte lediglich, sie prüfe alle Hinweise.”

Es wird immer deutlicher, dass die Bundesregierung versucht, alle Beweise und Hinweise – auch auf die enge Zusammenarbeit des Bundesnachrichtendienstes (BND) mit der NSA zu verschleiern. Wichtiger als die Bürgerrechte scheint der Regierung die Zusammenarbeit mit den USA und “vor allem mit den Geheimdiensten wegen der offenbar nicht als schwerwiegend genug beurteilten Massenüberwachung von Deutschen nicht zu beeinträchtigen.”

Die Süddeutsche schreibt: “Dazu kommt das mulmige Gefühl, dass all die Verschwörungstheorien, die man in den letzten Jahren so leicht abtat, sich Stück für Stück als Realität bestätigen.” Was bislang als Stoff für Fernsehserien und Bücher taugte, wird zur Realität. Zur Verteidigung von Sebastian Hahn heißt es: “Sebastian Hahn kein gewöhnlicher Internetnutzer, der sich vor Zugriffen schützen will.” Er betreibt einen TOR-Server, um auch anderen zu ermöglichen, anonym zu surfen. Hahn ist dadurch kein normaler Nutzer, “aber auch kein extremer Aktivist. Er beharrt nur auf einem Bürgerrecht und ermöglicht mit seinem technischen Wissen anderen, dieses wahrzunehmen.” Und zu Rechts stellt sich die Frage, was es bedeutet, “wenn schon der Versuch, sich zu schützen, als Verdachtsmoment gilt?” Dann – so die Süddeutsche weiter – “Wenn aber schon der Versuch, sich zu schützen oder zu verbergen als Verdachtsmoment gilt, ”ist die Unschuldsvermutung als Grundlage eines Rechtssystems nicht nur in Frage gestellt, sondern aufgehoben.”

So weist die Tagesschau darauf hin, dass es weltweit rund 5.000 TOR-Server gibt, die von Freiwilligen betrieben werden. Und dass eben diese Server es ermöglichen, dass auch Internetnutzer in totalitären Staaten Zugriff zum Internet haben. “Es ist eine Anonymisierungsinfrastruktur, die vielfach gerade in Ländern gebraucht wird, in denen es gefährlich ist, dem Regime preiszugeben, welche Webseiten man besucht oder von wo man sie abruft. Im Iran und in Syrien zum Beispiel. TOR wird von Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Anwälten weltweit verwendet.” Der arabische Frühling oder die “Grüne Revolution” im Iran wären ohne diese Infrastruktur kaum möglich gewesen.

Die Spionage bezieht sich nicht – wie bisher immer angenommen – allein auf die Meta-Daten der Kommunikation. Sondern tatsächlich auch auf die Inhalte der versendeten Nachrichten. “Werden E-Mails zur Verbindung mit dem Tor-Netzwerk genutzt, dann werden laut Programmierbefehl auch die Inhalte, der sogenannte E-Mail-Body, ausgewertet und gespeichert.” Das ist eine völlig neue Qualität der Überwachung.

William Binney war technischer Direktor bei der NSA, bis er 2001 ausstieg, weil die Maschinen, die er erfand, gegen die eigene Bevölkerung gerichtet wurden. Gestern sagte er vor dem NSA-Untersuchungsausschuss aus. Was er dabei bekannt gab, überraschte selbst die Mitglieder des Ausschusses. Der Geheimdienst NSA – so Binney – verfolge einen totalitären Ansatz, so wie man es bisher nur bei Diktaturen gesehen habe. Er bestätigte, dass die NSA nicht nur an den Verbindungsdaten interessiert ist. “Es geht um Inhalte. Wenn Sie zehn Milliarden Dollar in eine Geheimdienstbehörde investieren, dann ist das genug Geld, um ein ganzes Imperium zu gründen, das Daten sammelt. Genau das ist passiert.”

CDU-Obmann Roderich Kiesewetter zeigt sich erstaunt und überrascht über das Ausmaß der Überwachung und die Verquickung zwischen NSA und anderen staatlichen Behörden. Doch Binney berichtete auch von einer intensiven Zusammenarbeit mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst. Der BND habe teilweise Zugang zu Ausspähtechniken gehabt. Das war bereits zu erwarten; bekommt durch diese Zeugenaussage jedoch neues Gewicht. Denn die Zusammenarbeit wird von der Regierung und den BND immer wieder heruntergespielt.

Christian Flisek, der SPD-Obmann im Untersuchungsausschuss sagt zum Fall des Sebastian Hahn: “Für mich wird damit klar, dass wir hier nicht über Spionage reden, sondern wir unterhalten uns über ein Phänomen der globalen Massenüberwachung und das ist leider so, dass so etwas immer dann eine besondere Prägnanz erfährt, wenn man damit Gesichter verbinden kann. Ich bin froh, dass das Gesicht in Deutschland nicht nur die Bundeskanzlerin ist, sondern dass wir auch einen ‘normalen Menschen’ haben, der offensichtlich ins Visier der NSA geraten ist.” Er forderte Bundesgeneralanwalt Harald Range auf, möglichst schnell Ermittlungen wegen massenhafter Datenüberwachung einzuleiten.

Ganz aktuell[1.] ist diese Meldung der Tagesschau: Ein Mitarbeiter des BND hat den NSA-Untersuchungsausschuss ausspioniert – für die NSA: “Der 31-jährige Deutsche war am Mittwoch wegen des dringenden Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit festgenommen worden.”

Nic

[Erstveröffenlichung hpd]


1. Im Original erschien der Artikel gegen 12:00 Uhr am heutigen Tag – da stimmte das Wort “aktuell” noch.


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