Was hat die Bewegung 15-M[1] über die Wochen der Proteste im Sommer 2011 hinaus bewirkt? In welchem Verhältnis steht sie zur neuen Partei Podemos, die aus ihr hervorgegangen ist und zurzeit in Spanien die politischen Karten neu mischt? – Ein Interview mit Amador Fernández-Savater, Journalist und Schriftsteller sowie Aktivist der ersten Stunde. Übersetzung: Walter B.
In einem Text vom Januar 2012 hast du die Protestbewegung 15-M als «ein Klima» beschrieben. Was heisst das?
Ich glaube, jetzt sehe ich es etwas klarer als damals. Den Begriff hörte ich in einer Versammlung. Jemand sagte: «15-M ist ein Klima, in dem andere Dinge möglich werden.» Und dies schien mir ein angemessenes Bild, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Bewegung 15-M über das hinaus ging, was unter dem Etikett 15-M organisiert wurde.
Sechs Monate nach den Besetzungen öffentlicher Plätze sind Tausende in ihren Alltag zurückgekehrt. Aber sie sind durch die Erfahrung auf den Plätzen berührt und verändert worden. Und diese Veränderung nahmen sie mit. Die Metapher des Klimas würde dann eine Veränderung der Sichtweise bedeuten: Was, wenn wir aufhören würden, 15-M nur im Inneren dessen zu suchen, was man als die «Bewegung 15-M» mit all ihren Komissionen, Versammlungen und Koordinationsräumen bezeichnete? Was, wenn wir auch darüber hinaus blicken würden?
Ich glaube wirklich, dass die politischen Möglichkeiten, die sich durch die Besetzungen der öffentlichen Plätze auftaten, sich später jenseits des Etiketts 15-M erneuerten, etwa in den «Mareas»[2], den Bewegungen, die sich gegen den Abbau der öffentlichen Dienste stemmten, oder in der Plattform der Hypothekengeschädigten[3] und in vielen weiteren Erfahrungen, die nicht notwendigerweise sehr sichtbar und bekannt sein müssen.
Welche politischen Möglichkeiten eröffnete 15-M?
Die grundlegendste Erfahrung war nach meinem Dafürhalten, was wir die «Politik von jedermann, von jederfrau» nannten. Das heisst: In unseren westlichen «Demokratien» verstehen die Politiker ihre Politik gemeinhin als «fachgerechtes» Management der «unausweichlichen» Notwendigkeiten des globalen Kapitalismus. Die verheerenden Folgen dessen haben wir, als die Krise kam, mitbekommen. Die Bewegung 15-M hat sich hauptsächlich gegen diese Auffassung und Praxis der Politik gewehrt («Sie vertreten uns nicht.») und etwas anderes an ihre Stelle gesetzt: eine Politik, die allen offensteht, eine Politik als konkrete, praktische Frage an das gemeinschaftliche Leben.
In welchem Sinne siehst du jetzt klarer bezüglich der Bewegung 15-M als «einem Klima»?
Das politische Potenzial von 15-M wurde ansteckend. Das Bild des Klimas wollte diesen «Subjektivierungsprozess»[4] symbolisieren. Was heisst das? Die Art und Weise, wie man die Welt sieht und wie man in ihr lebt, verwandelt sich. Die Wirklichkeit wird neu definiert. Es wird neu geklärt, was man hinzunehmen bereit ist und was nicht, was man sieht und was man nicht sieht, was möglich ist und was nicht, was wichtig und was uns gleichgültig ist. Und so weiter. Ein diffuses, expansives, «klimatisches» Phänomen stellte sich ein, das man in keine Struktur oder Organisation pressen konnte. Mich dünkt, andere Bezeichnungen für 15-M wie «soziale Bewegung», «Zivilgesellschaft», «soziale Mehrheit» usw. neutralisieren dieses ihr Potenzial und ihre Besonderheit.
In welchem Sinne?
Der Ausdruck «soziale Bewegung» verweist, zumindest in seiner gebräuchlichsten Form, auf Militante, ob einzeln oder in Gruppierungen. Doch 15-M war ein für alle offener Raum, in dem die Militanten, die dabei waren, nur ein Teil des Ganzen waren. Und jene, die den Takt bestimmen wollten, scheiterten bald.
Der Begriff «Zivilgesellschaft» deutet in seiner gängigen Form auf eine Gesamtheit von einzelnen Akteuren, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Aber 15-M stellte die Frage nach dem Gemeinsamen ins Zentrum, nicht die Verteidigung der Interessen von «Teilen» der Gesellschaft, von bereits entstandenen Identitäten.
Und der Ausdruck «soziale Mehrheit» zielt auf ein quantitatives Phänomen und die öffentliche Meinung, während es in der Bewegung 15-M nicht auf der einen Seite Akteure und auf der anderen Zuschauer gab – auch keine «interaktiven» –, sondern eine gemeinsame und geteilte Betroffenheit unzähliger Personen, eine Betroffenheit in unterschiedlichster Intensität und Form.
Ich würde sagen, dass 15-M weder für militante Gruppen, noch für Teile der Gesellschaft stand oder eine öffentliche Meinung zum Ausdruck brachte, sondern ein offener und expansiver Raum der Politisierung des Lebens war.
War dieses Klima 15-M eine Antwort auf die Krise, auf die Korruption der Politiker, auf den Absturz der Mittelklasse?
Auf keinen Fall eine automatische Antwort auf die Ernsthaftigkeit der Lage und den Legitimitätsverlust der Mächtigen, wie es die Linke zuweilen denkt. Man frage die Italiener, die Franzosen oder die Engländer, die in etwa denselben «objektiven Bedingungen» unterworfen sind, ob es denn einen solchen Automatismus gibt.
Ich glaube, dass die Betroffenheit, mehr noch als das Interesse oder die Identität, der wichtigste Motor jeder Subjektivierung ist. Man empfindet ein Problem als gemeinsames Problem. Man spürt, dass etwas passiert, und es passiert dir. Und man spürt, dass man bezüglich dessen, was passiert, etwas tun muss, um es zu stoppen. Die Betroffenheit ist das Vorzimmer der Aktion. Es gibt nichts Selbstverständliches oder Automatisches in diesem Prozess.
Und wer fühlte sich betroffen? Wer sind die Indignados, die Empörten?
Ich denke, dass die Betroffenheit die Begriffe der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einer Gemeinschaft radikal neu definiert. Wer gehörte zu 15-M? Nicht «diese» oder «jene», nicht die Systemgegner oder die Linken, nicht die Arbeiterklasse oder die Mittelklasse, sondern alle, die sich betroffen und berührt fühlten, die sich angesprochen fühlten von den Fragen und Botschaften, die 15-M in den Raum stellte; ebenso von der Form, wie sie es tat.
Es entstand also ein neues «politisches Subjekt», das nicht den bisherigen Identitäten entsprach. Daher auch der Leitspruch «Weder links noch rechts», der die dogmatischere Linke so irritierte. Es kam zu einer Gemeinschaft der Sensibilität, nicht so sehr zu einer soziologischen, ideologischen oder identitären Gemeinschaft.
Wenn man also vom Klima spricht, so heisst das: Es gibt kein Drinnen und Draussen, keine Akteure und Zuschauer. Es gibt keine Aktivisten und normale Leute. Es kommt zu einem Transformationsprozess, der durch eine empfindliche Betroffenheit gegenüber Problemen angestossen wird, die unvermittelt als gemeinsam angesehen werden. Alle, die sich betroffen fühlen, sind eingeladen, an diesem Prozess teilzuhaben. In diesem Sinne kann jede, jeder ein Indignado, ein Empörter sein oder einer der 99%. So die Eigennamen, die sich die Bewegung 15-M selbst gab.
In der jüngeren politischen Geschichte Spaniens gab es tatsächlich wenige Bewegungen, die transversaler waren – im Sinne dass sie fähiger waren, quer durch die sozialen Spaltungen eine Diagonale des Gemeinsamen zu ziehen.
Wie kommt eine solche Bewegung in Gang?
Hegel sprach im Zusammenhang mit den Vorgängen und Ideen, welche die Französische Revolution vorbereiteten, von einer sich ausbreitenden Infektion, die schliesslich den sozialen Körper überwältigte (und ihm den Kopf abschlug). Ohne den zeitlichen Abstand zu vergessen und auf die Nachsicht Hegels zählend, glaube ich, dass es sich bei 15-M um so etwas handelte.
Die Kraft der Bewegung 15-M hatte sehr viel mehr mit dem Vermögen zu tun, zu einer Reihe von gemeinsamen Fragen «anzustecken», ebenso mit der Art und Weise, wie sie es tat – egalitär, inklusive usw. –, als mit Kalkül der strategischen Wirkung von dieser oder jener Botschaft, von diesem oder jenem Zeichen, dieser oder jener Regung der öffentlichen Meinung. Es war eine horizontale Ansteckung über Worte, Bilder, über leibliche Begegnungen, über Aktionen …
Es ging mehr darum, die anderen aufzurütteln, «in Bewegung zu bringen», als ihre simple Zustimmung zu erhalten. Wie der Torso von Milet im berühmten Gedicht von Rilke sagte die Bewegung 15-M zu dem, der sie wahrnahm: «Du musst dein Leben ändern.» Sie war deshalb eine eher poetische denn pädagogische oder propagandistische Bewegung. Und trotzdem durchdrang 15-M ohne irgend einen Masterplan, ohne Marketingstrategie und ohne jegliche «Stilberatung» die ganze Gesellschaft mit ihrem Beispiel. Ebenso die Medien, ohne sich ihnen allerdings unterzuordnen oder ein Spektakel aufzuführen.
Ich weiss nicht, ob du es bemerkt hast. Aber du sprichst von 15-M immer in Vergangenheitsform. Ist die Bewegung tot?
Ich sprach spontan in Vergangenheitsform. Wirklich! Ich würde sagen, dass die politischen Möglichkeiten, die uns 15-M geschenkt hat – eine Politik in erster Person, eine Politik der Namenlosen jenseits des Parteiensystems, die sich an den Nächsten als Verbündeten und Gleichgestellten wendet, nicht als Zuschauer und Wähler oder als Opfer, eine Politik ohne zu repräsentieren und zu delegieren, eine Politik, die dort ansetzt, wo im Alltag der Schuh drückt –, ich würde sagen, dass diese Möglichkeiten in keiner Weise verschwunden sind. Doch sie sind unsichtbar geworden – wie bei einer Finsternis, wie bei einer Sonnenfinsternis.
Im Vordergrund steht nun – eine indirekte Wirkung der Subjektivierung – eine Phase der Ergriffenheit und Meinungsbildung, die in Wählerstimmen übersetzt werden und die politische Macht zugunsten der neuen Parteien verschieben könnte – was auch kein Pappenstil ist und hoffentlich geschieht. Ich werde die wählen, die es zu wählen gilt. Es steht einiges auf dem Spiel. Aber Wählen ist nicht «sein Leben ändern». Das sind bloss fünf Minuten.
Was ist hier geschehen?
Ich denke, wir haben diesbezüglich nicht grad viel überlegt. Es gibt dazu eine Standardantwort: Die politische Umsetzung von 15-M stiess an eine gläserne Decke – die Blockade des Parteiensystems gegen jegliche Veränderung –, es kam zu Stillstand und Entmutigung. Und dann traten wir in eine andere Phase, in die Phase des «institutionellen Angriffs», um die Blockade zu durchbrechen: Podemos[5] usw. Für mich ist diese Antwort ein echter Stöpsel für das Denken. Sie dient der Sache nicht.
Was blockierte die Bewegung 15-M? Was konnten wir uns nicht erarbeiten? Was waren die Hürden ausserhalb und innerhalb von uns selbst? Das sind offene Fragen. Das «Scheitern» von 15-M – und ich spreche hier in einem einzigen, ganz klar umrissenen Sinn davon, nämlich bezüglich der Schwierigkeiten der Protestbewegung, die Zeit zu überdauern – ist etwas, das wir noch durchdenken müssen.
«Man kann nicht andauernd mobilisiert sein», sagt Slavoj Zizek immer wieder in Bezug auf Autonomiebewegungen wie etwa die Zapatisten.
Hier bei uns spricht man analog vom «demokratischen Elitismus». Dahinter steckt die Idee, dass nicht alle Politik betreiben können. Denn nicht alle haben die nötige Zeit, die Mittel und die Fähigkeiten dazu. Deshalb seien auch die politischen Möglichkeiten, welche die Protestbewegung 15-M eröffnet hätten, nur «für ein paar wenige Privilegierte», und am demokratischsten sei es, gute Formen der Delegation und Repräsentation des unfähigen Volkes einzurichten.
Auf diese Art werden die klassischen Formen der Politik mit ihren Führern und höfischen Intellektuellen gerechtfertigt und das Problem als gelöst erklärt, statt, ausgehend von Erfahrungen und der Lebenspraxis, gründlicher zu überlegen, welche Formen der Organisation oder des Engagements die politische Aktion für jedermann – und nicht nur für Militante – «bewohnbarer» machen könnten. Man erneuert so die Unterscheidung zwischen für die Politik geeigneten und nicht geeigneten Subjekten.
Das ist eine zutiefst elitäre Haltung, ausgerechnet im Namen eines Anti-Elitismus. Die Politik ist immer, immer, immer eine Kampfansage gewesen der vermeintlich «Ungeeigneten» – Frauen, Sklaven, Arbeiter – an die hierarchische Verteilung der Dinge. Sie war immer die Suche nach einem Bruch mit allen konservativen Positionen und Diskursen, einem Bruch also mit der Opfer- und Täterrolle, die jeden einzelnen an seinem Ort festnagelt.
Zum Schluss: Wie siehst du das Verhältnis zwischen den neuen Parteien und der Bewegung 15-M?
Das sehe ich so: Es sind stets diese Prozesse der Subjektivierung, wie bei der Bewegung 15-M, die den Rahmen des Möglichen öffnen und neu definieren – auch für die Regierenden. Das heisst, Podemos und die anderen zur Wahl stehenden Parteien und Einzelpersonen spielen – jeweils besser oder schlechter, dazu möchte ich mich hier nicht äussern – innerhalb des Rahmens der Möglichkeiten, den das Klima 15-M geöffnet und gestaltet hat: etwa mit der Delegitimierung der politischen Ordnung von 1978[6], mit der Wiederaufwertung des Öffentlichen und mit dem Wunsch nach Wandel. Dasselbe geschieht und geschah – so sehe ich es jedenfalls – bei Syriza in Griechenland und bei den Kirchners im Jahr 2001 in Argentinien[7]. Das heisst, es kann «oben» nur eine fortschrittliche Ausrichtung geben, wenn «unten» eine Neudefinition der Wirklichkeit stattfindet.
Doch diese Dialektik ist nicht etwas, das ein einziges Mal und zu Beginn stattfindet oder stattfinden sollte, etwa im Sinne von: «Dank 15-M ist Podemos möglich geworden. Bestens! Keine Frage. Doch nun kümmern wir uns darum. Geht wieder nach Hause!» Diese Dialektik muss immer wieder aktualisiert werden. Stellen wir uns eine fortschrittliche Regierung vor, die sich dafür entscheidet, zumindest teilweise der Tyrannei der Verschuldung die Stirn zu bieten! Stellen wir uns ferner vor, die Troika ist empört und dreht, wenn auch nur ein Stück weit, den Kredithahn zu! Glauben wir wirklich, «ärmer» zu sein, wenn wir gleichberechtigt und freier leben? Dieser subjektive Wandel, der Armut und Reichtum, der das wünschbare Leben neu definiert, wird nicht «von oben» verordnet, sondern «von unten» in Gang gesetzt. Ohne diese Prozesse der neuen Subjektivierung sind die Möglichkeiten der Regierungen sehr begrenzt.
Tatsächlich sind der Staat und seine Institutionen einer Trägheit unterworfen, die alles hemmt. Und in diese Mechanik, so glaube ich, können wir nur mit neuen Bewegungen eingreifen, die zeitlich, örtlich und bezüglich der staatlichen Agenda autonomen sind und das Etablierte erneut herausfordern und das Unmögliche möglich machen, ihm Sinn geben. Und ich vertraue darauf, dass die neuen politischen Kräfte für dieses Draussen durchlässig werden können, ohne es sich einzuverleiben und ohne es zu zerstören. Denn sie schöpfen daraus auch ihre Lebendigkeit.
Mit Amador Fernández-Savater sprach Martín P. Weber. Das Original in spanischer Sprache ist auf dem Blog Lobo suelto erschienen.
Anmerkungen (des Übersetzers):
[1] Ihren Namen 15-M erhielt die Protestbewegung, weil sie am 15. Mai 2011 mit der Besetzung der Puerta del Sol, dem Platz im Zentrum von Madrid, ihren Anfang nahm.
[2] Mareas: Zu Deutsch Flut. Bezeichnung der Bürgerproteste (Marea ciudadana = «Bürgerflut») zur Verteidigung des öffentlichen Sektors vor Kürzungen und Privatisierung. Je nach betroffenem Sektor bekommt die «Flut» eine andere Farbe: Marea blanca (weiss): öffentliches Gesundheitswesen; Marea verde (grün): Bildungswesen; Marea naranja (orange): Fürsorge und Sozialdienste.
[3] PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca): Plattform der Hypothekengeschädigten: Ein Bürgernetzwerk zum Schutz gegen Zwangsräumungen, weil die Hypotheken nicht mehr bedient werden können. Steht eine Zwangsräumung bevor, blockiert eine grössere Anzahl von Mitgliedern des Netzwerks den Zugang für die Vollzugsbeamten.
[4] «Subjektivierung» wird in der Wissenschaft im Sinne einer gesteigerten Bedeutung des Subjektes, also des einzelnen Menschen verwendet.
[5] Die wichtigste und erfolgreichste neue politische Partei, die aus der Protestbewegung 15-M hervorging.
[6] Im Jahr 1978 kam in Spanien nach vier Jahrzehnte andauernde Franco-Diktatur ein politisch-gesellschaftlicher Prozess der Anpassung an kapitalistische Verhältnisse in Gang.
[7] Im Jahr 2001/2002 kam es in Argentinien zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft und zu landesweiten Unruhen. In der Folge trat der damalige Präsident Fernando de la Rúa zurück und wurde von Néstor Kirchner abgelöst.
Bild: Indignados von Ojo espejo (CC-Lizienz via flickr)
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