Warum mein Sarrazin-Buch im Altpapier landet

Von Wendepunkte

Um oben gestellte Frage zufriedenstellend zu beantworten, werden weitere Fragen nötig:

Warum habe ich mich “Deutschland schafft sich ab” angeschafft?

Warum habe ich mich gegen das Weiterlesen entschieden?

Warum im Altpapier, obwohl ich sonst als sparsame Studentin versuche, alles, was ich loswerden möchte, zu Geld zu machen?

Und schließlich: Was bedeutet das nun?

Also mal der Reihe nach:

Angeschafft habe ich das Buch, weil ich ungern über Dinge rede, von denen ich nur Informationen aus zweiter Hand habe, wenn es auch erste Hand möglich wäre. Daher lasse ich mich z.B. nicht über Diskussionen über die “Satanischen Verse” ein, um ein anderes populäres Thema zu nennen, denn ich habe sie schlichtweg nicht selbst gelesen. Bei Sarrazin allerdings wollte ich mitreden, denn ich war so lange und intensiv im Migrationsbereich unterwegs, dass ich mich hier schlecht raushalten konnte.

Unterstützen wollte ich Sarrazin mit dem Kauf seines Buches aber nicht, weil das, was ich darüber gehört hatte, nicht unterstützenswert klang. Da es in der Bibliothek allerdings vergriffen und massenweise vorbestellt war, kaufte ich es mir gebraucht.

So, da war es nun, lachte mich an und wollte gelesen werden – und genau das tat ich.

Bis Seite 64 um genau zu sein. 64 von 407 (ohne den Anhang gerechnet), kein guter Schnitt, das gebe ich zu. Ein Versuch, noch ein paar Seiten des Schlusskapitels hinzuzufügen, misslang, weil es mich schon nach den ersten Sätzen schüttelte. So ging es mir eigentlich die ganze Zeit beim Lesen, immerhin ist es gut ein Jahr her, dass ich das Buch gekauft habe – wobei ich zwischenzeitlich aus Zeit und Demotivationsgründen ein dreivierteltes Jahr nicht angerührt habe. Doch stets fühlte ich mich verpflichtet, es zuende zu lesen.

Warum ist das jetzt plötzlich anders? Lust hatte ich ja schon lange keine mehr. Jedenfalls nicht zum Weiterlesen. Eine andere Lust wurde mit jeder Seite gefördert, nämlich das Buch mit voller Kraft an die Wand zu schmettern, aber das lag unter meiner Würde und widersprach meinem Vorhaben, mich möglichst emotionsarm und sachlich mit der Thematik auseinanderzusetzen und zu diesem Zweck jede Menge Bleistiftanmerkungen neben den Text zu setzen, wenn mir etwas auffiel.

Was mich allerdings wirklich ärgerlich machte, war die Psychologie des Buches: Am Anfang spult der Autor Geschichtsschulwissen herunter, das jeder kennt (oder kennen sollte) und vermittelt damit den Eindruck, sich auszukennen. Dann geht er an lauter Thematiken, von denen der Ottonormalverbraucher wenig bis keine Ahnung hat, vorallem nicht vom Kontext und davon, wie er die Informationen einbetten soll.

Ich habe mich lange und ausführlich mit vielen dieser Themen beschäftigt, während meines Soziologiestudiums ebenso wie während Praktika im Migrationsbereich (Verband binationaler und Dresdner Verein für soziale Integration) und der Lektüre zahlreicher Bücher. Trotzdem konnte selbst ich nicht bei allem sagen, wie das zu verstehen ist, aber immerhin habe ich erkannt, dass mir das Wissen fehlt. Ich hoffe, dass das anderen Lesern ähnlich ging, fürchte aber an dieser Stelle mal wieder etwas zu gutgläubig zu sein.

Zudem ärgerten mich Textstellen wie am Ende von Kapitel 1:

Wer diesem Befund vertraut, kann seine Lektüre mit Kapitel 3 fortsetzen. Wer sich näher dafür interessiert, [...], für den bieten die folgenden Seiten eine interessante, allerdings zahlenlastige Lektüre.

(Deutschland schafft sich ab, S. 37)

Schon Kant hat aufgerufen: “Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!” und ich halte das für eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Kultur (welche auch immer das sein mag). Dabei sollte man weder vor Gegenmeinungen noch vor Zahlen zurückschrecken.

Wer dazu aufruft, blind zu vertrauen, statt selbst zu denken, widerspricht diesem Prinzip grundlegend, und wird im Falle Sarrazins zu einer Person, wie er sie selbst kritisieren will: Jemandem, dem Leute blind folgen und der durch die dadurch gewonnene Macht, die eine gedankenlose Anhängerschaft mit sich bringt, gefährlich für die Gesellschaft ist. Ich höre jedem gern zu, der Sarrazins Meinung ist, wenn er die Argumente glaubhaft vertreten und darüber diskutieren kann, aber niemandem, der sie nur stur wiederholt.

Zurück zum Thema…

Trotz alledem wollte ich weiterlesen. Für meine Bahnfahrten wählte ich ein handlicheres Buch, dass ich seit Kurzem parallel lese: “Manifest der Vielen. Deutschland erschafft sich neu“. Darin findet sich u.a. ein Artikel von Lamya Kaddor, der mich von der Qual des Lesens befreite.

Sie ruft zu einem Aufstand der Anständigen auf, also dazu, sich nicht dezent aus der Debatte rauszuhalten, weil man darüber steht, damit eben nicht weiterhin der Eindruck bleibt, sogenannte Islamkritiker seien in Deutschland in der Überzahl. Dem stimmte ich sofort zu, schließlich las ich deshalb ja auch das Buch – damit ich dann meinen Mund aufmachen und mitdebattieren könne.

Weiterhin beschreibt sie den Beginn der Debatte um das Buch, die politischen Reaktionen, auf die wiederum mit dem Vorwurf von “Hetzjagden auf Sarrazin” reagiert wurde. Sie erklärt, dass Sarrazin sein Risiko sehr sicher kannte, da er schon lange vor der Bucherscheinung ein ähnliches Interview gegeben hatte, für dass er sowohl von der Bundesbank als auch von der SPD Schelte bekam und selbiges also auch für sein Buch zu erwarten war. Außerdem meint sie, das Risiko sei kalkulierbar gewesen, denn ein Karrieresprung in seinem Alter war ohnehin unwahrscheinlich und sein finanzielles Risiko ebenfalls recht überschaubar. Zumal sein Buch schließlich ohnehin “größere mediale Aufmerksamkeit erhält als alle bisherigen Literaturnobelpreisträger zusammen” (S. 113) und damit auch jede Menge Geld einbringt.

Dem Autor selbst ist vorallem eines zum Vorwurf zu machen: Erst eine Woche, nachdem seine zentralen Botschaften vom Grundübel der muslimischen Einwanderung in aller Munde waren, stellte er sein Werk offiziell vor. Anschließend relativierte er Aussagen, zitierte Zahlen und Daten und tat so, als ob es ihm wirklich nur um die Integrationsprobleme ginge. Er verallgemeinere gar nicht; das stehe so nicht in seinem Buch; das habe er so nicht geschrieben. Dieses dürften die häufigsten Sätze gewesen sein, die er bei seiner Tour durch die Redaktionsstuben und Sendestudios von sich gegeben hat. Er bemühte sich redlich zu relativieren und wirkte dabei so, als sei er Opfer seiner eigenen PR-Strategie geworden.

(Lamya Kaddor in “Manifest der Vielen”, S. 115)

Das wurde schnell aufgenommen und überall groß verkündet. Noch heute werde ich bei entsprechenden Diskussionen gefragt, ob ich das Buch gelesen hätte, wobei sich meist rausstellt, dass ich es wenigstens versucht hatte, mein Gegenüber die eigene Frage aber verneinen musste. Nun hatte ich ja ohnehin vor, das Buch zu lesen, weil ich es mit jedem anderen ebenso halten würde, und hätte das Lesen nicht aus reinem Protest gegen diese Art der PR aufgegeben (immerhin hatte ich Verlag und Autor ja nicht durch meinen Kauf unterstützt).

Wirklich geweckt hat mich vielmehr ein Absatz auf der nächsten Seite, wo sich Kaddor dazu äußert, warum sie das Buch nicht gelesen hat und es auch nie freiwillig lesen würde:

Warum auch? Bringt es mich weiter, etwa mit neuen Informationen? Nein. Stehen darin konstruktive Lösungsvorschläge? Nein. Ist es ein Lesevergnügen? Nein. Ist der Autor eine Koryphäe auf dem Gebiet? Nein. Selbst Wissenschaftler, auf die Sarrazin sich beruft, distanzieren sich von seinen abenteuerlichen Schlussfolgerungen. Warum sollte man sich also die Verquasten Zahlenspiele eines Bundesbankvorstands und ehemaligen Finanzsenators anschauen, der sich auf einmal mit Genetik, Integration und islamischer Religion und Kultur befasst? Wenn ich etwas über Astrophysik lesen will, greife ich zum Buch eines Astrophysikers, nicht eines Paläontologen.

(Lamya Kaddor in “Manifest der Vielen”, S. 116)

WUUUUUMS! Die Wahrheit dieser Sätze lösten einen gewaltigen Brocken, der mir vom Herzen fiel.

Sie hat Recht. Warum tue ich mir das eigentlich an?

Achja, um mitreden zu können. Aber muss ich dazu das Buch gelesen haben? Geht es denn überhaupt wirklich um das Buch, auch wenn allewelt darüber spricht?

Nein.

Es geht um eine Debatte, die schon lange geführt wird,  und zu der Sarrazins Buch nur den Anstoß gegeben hat, sie aufzufrischen. Und wenn jemand mal wirklich mit mir über das Buch reden will, dann soll er mir die Argumente darlegen und wir können auf diese Weise darüber diskutieren. Et voilá: Ich bin frei.

Was nun aber tun mit dem Buch? Ich habe kürzlich erst Bücher aussortiert, um wieder etwas Überblick in meinem Regal zu erhalten, und nur die Besten behalten. Dazu gehört “Deutschland schafft sich ab” ganz sicher nicht.

Also verkaufen wie die anderen? Zum Einen lohnt sich das kaum, denn der Markt ist überfüllt von Exemplaren, deren Besitzer sie loswerden wollen, zum Anderen will ich das Buch mit dem Verkauf ebenso wenig unterstützen wie ich es mit dem Kauf wollte. Dieses “Wissen” möchte ich nicht weitergeben, womit auch Verschenken ausgeschlossen war.

Also tat ich das, was ich noch nie mit einem Buch getan hatte: Ich legte es auf meinen Altpapierstapel, zwischen alte Zeitungen und Lebensmittelverpackungen.

Was das bedeutet?

Dass ich in Zukunft weiterhin Andersdenkende in jeder Richtung anhören und ernstnehmen möchte, und wenn sie sich wirklich gut auskennen, auch ihre Bücher lesen werde.

Dass ich an der Sarrazin-Debatte teilnehmen werde, weil es um die Debatte und die darin geäußerten Argumente geht und nicht um das Buch.

Dass ich jetzt endlich zu einem Buch greifen kann, das mir Lesevergnügen bereitet und aus dem ich lernen kann.

Ps.: Wer mein Verhalten als falsch empfindet, möge die Kommentarfunktion benutzen und mich mit guten Argumenten vom Gegenteil überzeugen – noch ist das Wetter zu schlecht für einen Spaziergang zum Altpapiercontainer