Logo der Kinderrechtskampagne, Foto: E. Frerk
Wenn Eltern sich dazu entschließen, ihre Söhne beschneiden zu lassen, dann geschieht das – abgesehen von medizinischer Indikation, bei der ein Arzt ihnen dazu rät – aus Gründen, die ihnen am Herzen liegen. Dies können ebenso religiöse Motive sein, wie rein ästhetische, hygienische oder moralische.von Gislinde Nauy
Da ich als Frau ohne Penis zur Welt gekommen bin, war ich immer der Meinung, dass ich dazu eigentlich keine Meinung haben kann. Was geht mich die Entfernung der Vorhaut an, wo ich doch keine habe? Gelegentlich habe ich danach gefragt, wie das so ist. Wenn es dann hieß „zwei kleine Schnitte - das ist schnell vorbei«, hat mich das nicht weiter motiviert, mich damit zu beschäftigen. Und sobald jemand anfing, es mit der weiblichen Genitalverstümmelung zu vergleichen, ist mir selbstverständlich der Kragen geplatzt, denn wie soll man eine zugenähte Vagina, die durch aufgestocktes Menstruationsblut einem Tod auf Raten gleicht, mit „zwei kleinen Schnitten«, - die ja offensichtlich manchmal sogar medizinisch notwendig sind, wie man mir glaubhaft versichert hat - vergleichen können? Das wäre der blanke Hohn.
Und das sehe ich auch noch immer so.
Das Verbot der Beschneidung von Mädchen und Frauen ist eine Errungenschaft unserer Zivilisation, die einhergeht mit dem Sieg im Kampf um den Respekt gegenüber der weiblichen Sexualität.
Der vollständige Besitz unserer Genitalien ermöglicht uns den sexuellen Genuss, die körperliche Ausdrucks- und Empfindungsmöglichkeit, die uns mit dem Leben von der Natur geschenkt wurde. Die Beschneidung dieses Bereichs des Körpers, die Beschneidung unserer Sexualität ist ein Machtwerkzeug zur Unterdrückung des weiblichen Geschlechts. Darum ist sie in Deutschland seit langer Zeit zu recht verboten.
Da ich stets davon ausging, dass eine im Bereich der Klitoris beschnittene Frau nicht orgasmusfähig ist, ein beschnittener Mann aber schon, habe ich es als anti-feministische Maßnahme verstanden, diese beiden Eingriffe miteinander zu vergleichen.
Tatsächlich war ich aber über die „zwei kleinen Schnitte« enorm schlecht informiert.
Es gibt unterschiedliche Typen weiblicher Beschneidung. Die aggressivsten davon sind lebensgefährlich.
Die weniger aggressiven, die „nur« die Klitoris-Vorhaut reduzieren, beschneiden die weibliche sexuelle Empfindung ebenso viel, wenn nicht gar weniger, als die Entfernung der Vorhaut beim Mann. Tatsächlich werden aber mit der Vorhaut etwa 70% der für das sexuelle Empfinden zuständigen Nervenzellen irreparabel entfernt.
Der Penis fühlt sich dann tauber an als unbeschnitten, die Erektion hält länger an, weil der Mann natürlich schwerer zum Orgasmus kommt. Zudem fehlen die Schleimhäute, die die Eichel schützen, wodurch sich dort über die Jahre eine Hornhaut bildet und die Gefühlsfähigkeit weiter schwindet.
Eine an der Klitoris-Vorhaut beschnittene Frau kann zum Orgasmus kommen. Natürlich mit Abstrichen. Denn wenn Teile am Sexualorgan fehlen, reduziert sich auch das sexuelle Empfinden und ist nicht mehr so intensiv, wie es von der Natur vorgesehen war.
Und auf eben diese Weise sind beschnittene Männer in ihrem sexuellen Empfinden beschnitten. Viele wissen es nicht - denn sie wurden in einem Alter beschnitten in dem ihre Sexualität noch nicht erwacht war.
Es gibt Mädchen, die sich aus traditionellen oder anderen Gründen einer Beschneidung nicht widersetzen. Wenn es sich um eine weniger aggressive Variante - und allein von dieser spreche ich hier - handelt, haben sie nach Abheilung der Wunde auch keine Schmerzen mehr. Ihr Genitalbereich ist dann etwas tauber, wenn ihre Sexualität erwacht, aber das Mehr an Empfindsamkeit werden sie möglicherweise gar nicht vermissen, weil sie es nie gekannt haben.
Und trotzdem ist eine solche Beschneidung in Deutschland verboten. Warum? Weil jeder Mensch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hat, weil Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben und weil diese Beschneidung eine Körperverletzung darstellt, einen körperlichen Eingriff ohne medizinische Notwendigkeit.
Und genau so ein Eingriff ist die Beschneidung von Knaben auch.
Als ich nun verstanden hatte, dass ein Vergleich der weiblichen und der männlichen Beschneidung tatsächlich angebracht ist, wurde mir klar, dass es als Feministin meine Pflicht ist, mich dazu zu äußern. Und darum wende ich mich jetzt an euch alle:
Als Feministinnen haben wir die Forderung nach der Unteilbarkeit der Menschenrechte stets hochgehalten. Wenn wir diese jetzt männlichen Säuglingen und Kindern verweigern, begehen wir Verrat an unseren eigenen Überzeugungen und sind nicht besser als diejenigen, die uns das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht zugestehen wollten.
Gerade wir als Frauen und Feministinnen sollten wissen, was es bedeutet aus einer schwächeren Position heraus für unsere Rechte kämpfen zu müssen, gerade wir dürfen jetzt denen in der schwächeren Postion - den wehrlosen Kindern - unsere Hilfe nicht verweigern, indem wir die Körperverletzung, die an ihnen vorgenommen wird, herunterspielen, indem wir diesen Vergleich weiterhin negieren. Solange wir diesen Schritt nicht tun, machen wir uns zu einem Werkzeug des Patriarchats und unterstützen dessen Grundprinzip der Macht des Stärkeren gegenüber dem Unterdrückten - passiv, aber wirksam. Wir sind heute - endlich - in der stärkeren Position. Wir haben jetzt die Möglichkeit und die Macht, entscheiden zu können, ob wir unsere Augen öffnen, zuhören und verstehen wollen. Um dann das zu tun, was wir immer von den Männern eingefordert haben: den Unterdrückten zur Seite zu stehen, eben weil wir es mit Blick auf unsere eigene Geschichte besser wissen.
Wenn wir auf das in den letzten Jahrzehnten von und für uns Erreichte zurückblicken, dann finde ich, sollten wir die Gelegenheit jetzt nutzen, zu unseren Forderungen nach der Unteilbarkeit der Menschenrechte zu stehen!
Das bedeutet, den Schmerz der unter den Folgen einer Beschneidung leidenden betroffenen Männer ernst zu nehmen. Eine Aussage wie „wenn er beim Sex länger braucht, hab ich ja auch mehr davon« unterscheidet sich in ihrer Machohaftigkeit keineswegs von einer Aussage wie „eine zugenähte Vagina ist enger und fühlt sich besser an« - die ich übrigens noch von keinem Mann je gehört habe.
Der eigentliche Skandal ist der, dass wir so lange gebraucht haben, um hinzusehen und zu begreifen. Als Frauen können wir mit Blick auf unsere Geschichte zu unserer Verteidigung vortragen, dass wir mit dem Kampf um unsere eigenen Rechte beschäftigt waren. Als Feministinnen des 21. Jahrhunderts haben wir aber nun die Pflicht, zu unserem Wort zu stehen und endlich mit dem Hinsehen zu beginnen.
Gislinde Nauy
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]