Warum ich gegen Religionsunterricht bin

Manche Atheisten und Humanisten fordern schon seit einer Weile, den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach abzuschaffen. Die Vertreter der Kirchen wehren sich notfalls mit einer einfachen Behauptung dagegen: “Das ist grundgesetzwidrig”. Außerdem empfinden sie den Lebenskundeunterricht offensichtlich als Bedrohung ihres Besitzstandes.Es war, wie so oft in letzter Zeit, eine Bemerkung auf Twitter, die mich auf das Thema aufmerksam machte. Der evangelische Pfarrer und Theologe Alexander Ebel schrieb als Zitat aus einer Pressemeldung: “Es ist nicht nachvollziehbar, worin der Mehrwert eines nichtreligiösen Lebenskundeunterrichts liegen könnte”. Mir fiel die Antwort von selbst auf die Zunge: In der Neutralität eines solchen Unterrichts. Naiv wie ich war habe ich den “Lebenskundeunterricht” zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Religionskundeunterricht verwechselt, aber zu Beginn der Debatte war das nicht so wichtig. Gleichzeitig las ich, dass der Papst sich gegen den Lebenskundeunterricht in Spanien wehrt, in dem über Homosexualität, Scheidung und Abtreibung offen gesprochen wird. Er behauptete, das Vermitteln dieses Wissens verstoße gegen die Religionsfreiheit. Für mich war dies ein weiterer Beweis dafür, dass die Kirche mit Hilfe des Begriffs Religionsfreiheit versucht, Wissen zu unterdrücken und Menschen dumm zu halten. Nun weiß ich natürlich selbst, dass es zwischen Kirche und Kirche Unterschiede gibt. Trotzdem: Der Religionsunterricht ist das Zugeständnis des neutralen Staates an die Kirchen, Kinder in ihrem Sinne erziehen zu dürfen, frei nach dem Motto: “Get them while they’re young” (aus dem Musical “Evita”). Als ich mich in der folgenden Diskussion für die einführung eines religionsneutralen Unterrichts aussprach, konterte Alexander Ebel, dies sei grundgesetzwidrig und verstoße gegen die Religionsfreiheit. Das war mir nicht eingängig, denn warum sollte das Grundgesetz eine bestimmte Religion bevorzugen? Warum sollte es überhaupt Religionsunterricht verpflichtend einführen, wo es doch den Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, und wo doch Staat und Kirche voneinander getrennt sind? Aber mein Gesprächspartner hatte recht, wie sich nach kurzer Recherche herausstellte, mit der ich mein Grundgesetzwissen wiedereinmal auffrischen durfte. 2 Thesen waren es am Ende, mit denen ich mich herumschlagen musste:

1. ein Lebenskundeunterricht anstelle des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts ist verfassungswidrig,

2. konfessionsgebundener Religionsunterricht evangelischer Prägung ist aus der protestantischen Freiheit geboren und aufklärerischer, bildender und integrierender als Lebenskundeunterricht.

Zunächst einmal galt es festzustellen, wie die Situation in Deutschland tatsächlich ist.

Religionsunterricht ist in Deutschland ordentliches Lehrfach und versetzungsrelevant. Kirchen haben gewissermaßen einen Anspruch auf Erteilung des Unterrichts, der zwar der staatlichen Aufsicht unterliegt, dessen Inhalt aber von den Kirchen nach ihren Glaubensgrundsätzen bestimmt wird. Erziehungsberechtigte können Schüler aus Gewissensgründen vom Religionsunterricht abmelden, ab dem 14. Lebensjahr kann der Schüler das selbst tun. Ob ordentlicher Religionsunterricht an einer Schule erteilt wird, hängt aber auch von den Landesgesetzen ab. Die Länder entscheiden nämlich, welche Schulform bei ihnen eingeführt wird. In bekenntnisfreien Schulen wird kein Religionsunterricht erteilt, in allen anderen Schulformen schon. In einigen Ländern werden Alternativen zum Religionsunterricht angeboten für die, die vom Religionsunterricht abgemeldet sind. Es gibt Ethik, aber auch einen bekenntnisfreien “Lebenskunde, Ethik, Religionskunde”-Unterricht, oder wie in Berlin einen Lebenskundeunterricht, der vom humanistischen Verband angeboten wird. Es handelt sich dabei nicht um echte Alternativen zum Religionsunterricht, sondern um Ergänzungen für Schüler, die am Religionsunterricht nicht teilnehmen. In einigen Bundesländern ist eine Abmeldung vom Religionsunterricht nicht möglich.

Weil der Staat weltanschaulich neutral ist, sagt die herrschende Meinung, darf er sich in den Inhalt des Religionsunterrichts nicht einmischen, muss ihn aber zulassen und beaufsichtigen, weil es das Einzige Fach ist, dessen Bestand schon im Grundgesetz abgesichert ist. Überspitzt gesagt: Mathe und Deutsch kann man abschaffen, den Religionsunterricht nicht. Die Bundesrepublik ist, so musste ich lernen, weltanschaulich neutral, aber nicht laizistisch, also nicht religionslos, was staatliches Handeln betrifft. Dass die christlichen Großkirchen davon profitieren, ist einfach zu erklären: Sie bieten aufgrund ihrer Mitgliederzahl und Verbreitung die Gewähr für die Erteilung eines dauerhaften und verlässlich angebotenen Religionsunterrichts.

Der Religionsunterricht ist ausdrücklich nicht neutral oder objektiv. Seine Erteilung darf aber die persönliche Freiheitsentfaltung nicht rechtswidrig beschränken.

Eine Abschaffung des Religionsunterrichts wäre nur dann möglich, wenn die Länder per Landesverfassung und Schulgesetz überall bekenntnisfreie Schulen einführen würden. Das wird aber vermutlich nie passieren.

Nun also zurück zu dem Gespräch, das ich auf Twitter mit Alexander Ebel führte. Die von ihm übernommene Aussage, dass er den Mehrwert eines bekenntnisfreien Unterrichts nicht nachvollziehen könne, bringt mich dazu, einmal zu begründen, warum ich für die Einführung eines neutralen Religionskundeunterrichts oder eines humanistischen Lebenskundeunterrichts bin.

Die Schule soll nach meiner Auffassung den Schüler zum einen mit möglichst objektivem Wissen versorgen, und sie soll ihm ermöglichen, seine Lebensentscheidungen selbst zu treffen. Dazu sollte sie ihm idealerweise Instrumente liefern. Eine Möglichkeit ist es, einen Glauben zu lehren und die sich aus ihm ergebenden Moralvorstellungen zu vermitteln. Das ist, was der Religionsunterricht tut. Er wird nach den Glaubensgrundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt, seine Inhalte sind weder neutral noch objektiv. Es wird eindeutig eine Meinung vermittelt. Dieser Meinung wird besonderes Gewicht gegeben, indem sie durch eine sogenannte heilige Schrift gestützt wird, also ein Werk, dessen moralische Codices aufgrund seiner Heiligkeit nicht infrage zu stellen sind. Selbst wenn man, vorübergehend, Diskussionen und unterschiedliche Meinungen zulässt, und das erwarte ich in einem modernen Religionsunterricht, sind die Grundsätze der Lehrinhalte den, sagen wir, Programmen, den “moralischen Verhaltensanweisungen”, wie Herr Ebel sagt, der Religionsgemeinschaften entnommen. Am Ende kann nur das Lernziel sein, dass der Schüler seine moralischen Entscheidungen mit Hilfe der Handlungsanweisungen trifft, die ihm der Religionsunterricht an die Hand gegeben hat. Positiv formuliert möchte der Religionsunterricht dem Schüler bei seinen Wertentscheidungen Hilfestellung geben, auch und gerade aus der Erfahrung heraus, dass solche Wertentscheidungen für gläubige Menschen oft einfacher und eindeutiger sind. Für mich ist das aber eine Form der, nicht in jedem Falle böswilligen, Indoktrination. In der Diskussion habe ich es mit politischem Unterricht verglichen. Wenn dieser Unterricht nach den Grundsätzen der CDU für alle Schüler verbindlich sei, so wäre er nicht objektiv und neutral. Wenn man aber, so Herr Ebel, einen SPD-, einen CDU-, einen FDP-Unterricht usw einführte, so käme man der Neutralität doch näher, und die Kinder der CDU-Anhänger gingen in den CDU-Unterricht usw. Er war, das soll hier nicht verschwiegen werden, nicht glücklich mit der Analogie. Mir gefällt der Vergleich mit dem konfessionsgebundenen Religionsunterricht nach wie vor sehr gut. Die CDU-Anhänger werden in ihrem Unterricht nicht lernen, wie Brandt die Ostpolitik begann, dass sie letztlich der Grundstein für die Wiedervereinigung war, wie Stresemann die Aussöhnung mit Frankreich nach dem ersten Weltkrieg betrieb, und wie Kommunisten maßgeblich den Aufstand im KZ Buchenwald organisierten. Wenn sie all dies lernen sollten, könnten sie auch einen politisch neutralen Unterricht besuchen. So ist es auch mit dem konfessionellen Religionsunterricht. Wenn ich katholischen Religionsunterricht besuche, wird mir die Reformation nicht als besondere Gro´ßtat vermittelt werden. Warum auch? Dann könnte man gleich einen neutralen oder evangelischen Unterricht besuchen. Der Religionsunterricht ist also eine Meinungsangelegenheit, obwohl gläubige Menschen den Glauben natürlich als etwas objektives ansehen. Für aufgeklärte Menschen sollte der Glaube eines jeden Einzelnen allerdings dessen subjektive Angelegenheit sein. Gegen meine Indoktrinationsvorhaltungen wehrte sich Pfarrer Ebel übrigens mit einer bemerkenswerten Aussage: Der evangelische Religionsunterricht werde in protestantischer oder evangelischer Freiheit ausgeführt. Das hört sich zunächst einmal gut an, ist aber bei näherem Hinsehen kaum von praktischer Bedeutung. Nach Paulus und Augustinus wird der Mensch durch die Annahme des christlichen Glaubens frei, er wird zum Individuum und tritt aus der ansonsten ausschließlich betrachteten Gemeinschaft heraus. Gott liebt jeden Einzelnen. Freiheit des Handelns wird nur innerhalb des christlichen Systems, und Freiheit der Weltanschauung überhaupt nur so weit gewährt, als sie mit den Grundsätzen der Kirche nicht im Widerspruch steht. Martin Luther bezeichnete den Christenmenschen als frei, doch als die Bauern des 16. Jahrhunderts mit zugegeben rüden Methoden das Ende der Leibeigenschaft forderten, unter Berufung auf die Freiheit des Christenmenschen, stellte sich Luther vehement gegen sie. Dies ist nicht die Freiheit, die ich meine. Meine Freiheit wird nur begrenzt von den Rechten meiner Mitmenschen und vom absoluten Gewaltverbot.

Es gibt aber eine Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht, eine zweite Möglichkeit, den Schülern Instrumente zur Bewältigung ihrer Lebensfragen und Wertentscheidungen an die Hand zu geben. Einmal könnte man einen wertneutralen Religionskundeunterricht einführen. Der würde die unterschiedlichen Religionen anhand ihrer Texte beschreiben und analysieren, ohne dabei ein Urteil über Sinn und Unsinn der einzelnen Glaubensgrundsätze zu fällen. Dass die Kirchen gegen diesen Unterricht anrennen ist bezeichnend. Er könnte ja dazu führen, dass viele Menschen ihre Glaubensgrundsätze als überholt und ihre Moralvorstellungen als antiquiert ansehen würden. Es fände eben keine Vermittlung von Inhalten anhand einer Meinung statt, sondern verschiedene Meinungen würden einander gegenüber gestellt. So käme auch ein interreligiöser Dialog zustande, denn Schüler wie Lehrer wären ja durch ihre eigene Geschichte und Erziehung geprägt. So würde die Freiheit der eigenen Wert- und Moralentscheidungen gestärkt.

Daneben könnte ich mir aber auch einen zumindest freiwilligen Unterricht humanistischer Prägung vorstellen, der dann aber streng genommen auch nicht neutral ist. Denn natürlich sollte man Schülern vermitteln, wo die Grenzen ihrer Freiheit liegen, wie sie miteinander umgehen sollten und ähnliches. Das Grundgesetz und der Humanismus taugen meiner Ansicht nach da ganz gut. In einem solchen Unterricht könnte dann auch ohne päpstliche Intervention über nun einmal vorhandene Phänomene wie Homosexualität, Abtreibung und Verhütung gesprochen werden. In Spanien versucht der Papst, den in diesem Sinne angelaufenen Lebensunterricht zu verhindern, und auch in Deutschland wenden sich sogar noch lebende evangelische Altbischöfe gegen die Homosexualität von Priestern. In welcher Zeit leben wir denn? Es ist nun einmal erwiesen, dass rund 11 % der Menschheit homosexuell sind. Dies als widernatürlich zu bezeichnen, wie es die immer noch lebenden Altbischöfe getan haben, ist eine Unverfrorenheit und Unverschämtheit. Solange eine kirchliche Institution solche Menschen zu Bischöfen machen kann, sollte ihr keine Gelegenheit gegeben werden, moderne Menschen religiös zu unterweisen, es ist geradezu eine Beleidigung ihrer Intelligenz. Die Kirchen hinken den gesellschaftlichen Realitäten um einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinterher, sollen aber in der Schule Antworten auf drängende Alltagsfragen von Schülerinnen und Schülern im Einklang mit ihren Grundsätzen geben? Das halte ich für unmöglich. Dass der konfessionelle Religionsunterricht aufklärerischer, bildender und integrierender sei als ein konfessionell nicht gebundener Lebenskundeunterricht, kann ich in diesem Zusammenhang auch nicht nachvollziehen. Kirchen sind Institutionen, die von sich behaupten, aufgrund der Bibel moralische Handlungsanweisungen an die Menschen geben zu können, die richtig und gut sind, und die zu einer friedlichen Gesellschaft führen, wenn man sie nur allenthalben befolgen würde. In ihnen erfüllten sich die Verheißungen des Evangeliums. Angesichts der weit verbreiteten Unfähigkeit der Kirchen, ihre Grundsätze modernen Zeiten anzupassen, halte ich diese Aussage für problematisch. Wenn im Religionsunterricht trotzdem über Wissenschaft, über Religionskritik gesprochen wird, über Philosophie und moderne Ethik, dann ist das einem aufgeklärten Religionslehrer zu verdanken, nicht aber den Grundsätzen der entsprechenden Religionsgemeinschaften. Die stützen sich nämlich immer noch auf die Bibel und sind nicht fähig, obwohl sie es schon eine Weile behaupten, diese Bibel als Buch ihrer Zeit zu sehen, aus der sich nur sehr schwer moralische Handlungsanweisungen für das 21. Jahrhundert ableiten lassen. Denn so fortschrittlich die Bibelschreiber im 1. und 2. Jahrhundert auch gewesen waren, inzwischen sind fast 2000 Jahre vergangen, und sie konnten sich, selbst mit Hilfe des heiligen Geistes, so er existiert, nicht ausmalen, wie die Gesellschaft heute aussehen würde. Sie stellten moralische Handlungsanweisungen für ihre Zeit auf. Und dass man sich nach ihrer Verbreitung, als sie schon überholt waren, viele Jahrhunderte strikt an sie hielt, hat Europa das finstere Mittelalter beschert, obwohl man geistig hätte in der Lage sein können, über Aberglauben und Gottesfurcht hinauszuwachsen.

Aus all diesen Gründen bin ich gegen einen Religionsunterricht der Kirchen, sondern für Ethik oder Lebenskunde oder Religionskunde. Wichtig ist, dass moderne Lebensfragen auch auf moderne Weise beantwortet werden, und dass Verantwortung auf heute verständliche Weise vermittelt wird, bevor sie uns ganz verloren geht.


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