Quelle: Helmut Mühlbacher
Ihr Lieben,heute möchte ich Euch eine Geschichte von Eugen Ruckererzählen:
„Das Gesicht der Mutter“
„In der ersten Klasse einer Schwarzwälder Volksschule fing eines Morgens bald nach dem Unterrichtsbeginn ein kleiner Junge an zu weinen. Seine Banknachbarin verständigte den eifrig unterrichtenden Lehrer und der fragte auch gleich den Kleinen, warum er denn weine.
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Der wollte zunächst nicht heraus mit der Sprache, rieb sich mit beiden Händen die Augen und schluchzte nur. Nach einiger Zeit aber, als der Lehrer ihn gütig und geduldig weiter bat, doch zu sagen, was ihm denn weh tue oder bedrücke, da sah der kleine Junge vertrauensvoll zu ihm auf und sprach: „Ich habe vergessen, wie meine Mutter ausschaut.“Da lachten die Kinder, die um ihn herumsaßen, alle laut.
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Der Lehrer aber verstand den kleinen Jungen sofort und sagte voller Verständnis zu ihm: „Aha, das Gesicht Deiner Mutter hast Du vergessen! Das ist freilich schlimm. Geh nur gleich heim und schau, wie Deine Mutter aussieht!“Da ging der kleine Junge nach Hause und schaute seine Mutter an. Zufrieden kam es danach zurück, griff nach seinem Stift und fuhr fort, voller Hingabe und Freude Buchstaben zu malen.“
manchmal nehme ich mir die alten Fotos zur Hand, auf der meine Grundschulklasse zu sehen ist.
Es ist eigentlich schade, dass wir Grundschulkinder uns alle aus den Augen verloren haben, es würde mich schon interessieren, zu erfahren, was aus der einen oder anderen, dem einen oder anderen geworden ist.
Merkwürdig ist es schon, dass man auf alten Fotos immer so jung aussieht!Dies heutige kleine Geschichte berührt ein ganz wichtiges Bedürfnis in uns:Das Bedürfnis und den Wunsch nach Vertrautheit!Es wird oft darüber gerätselt, was eigentlich der Begriff „Heimat“ meint.
Warum fühlen sich die einen Menschen am Meer zuhause, andere dagegen in den Bergen?
Ich glaube, das hat weniger mit dem Meer und den Bergen zu tun, sondern mit der Umgebung, in der ein Mensch aufgewachsen ist. Die Umgebung, in der ein Mensch ausgewachsen ist, ist ihm vertraut und deshalb wird sie ihm zur Heimat. Heimat ist also das mir Vertraute.
Wir Menschen brauchen alle ein Stück Heimat, zu dem wir zurückkehren können.
Wenn wir Leid erfahren, wenn wir schwer krank sind, wenn wir älter werden, dann halten wir uns besonders gern dort auf, wo uns die Umgebung und die Menschen vertraut sind.
In der vertrauten Umgebung und unter den vertrauten Menschen da fühlen wir uns sicher, da fühlen wir uns geborgen, da dürfen wir ganz wir selbst sein, da können wir zur Ruhe kommen, da können wir entspannen, da finden wir zu uns selbst.
Deshalb ist das, was der kleine Junge in unserer Geschichte erlebt, nichts Kindisches, sondern etwas zutiefst Menschliches: Wenn wir morgens aus dem Haus gehen würden und könnten uns im Laufe des Tages nicht mehr an das Gesicht unserer Partnerin, unseres Partners, unserer Kinder und Enkelkinder erinnern, dann würde uns Erwachsene das ebenso wie den kleinen Jungen in unserer Geschichte beunruhigen.
Deshalb hat der Lehrer auch so gut reagiert, als er dem kleinen Jungen gestattete, nach Hause zu gehen, um zu schauen, wie die Mutter aussieht.
Aber es ist wichtig, sich einmal in der Fantasie die Situation vorzustellen, dass wir unterwegs sind und uns plötzlich auffällt, dass wir vergessen haben, wir unsere Lieben und unsere Freunde aussehen.
Denn wenn wir das begreifen, dann begreifen wir auch, wie wertvoll und wichtig die Vertrautheit mit unseren Lieben ist, welch wundervolles Geschenk es ist, den anderen Menschen erkennen zu können und sich irgendwo vertraut und heimatlich fühlen zu können. Wer das begreift, der erfährt, was Heimat ist, und den erfüllt tiefe Dankbarkeit.
Ihr Lieben,
ich wünsche Euch ein Gefühl der Vertrautheit, ein heimatliches Gefühl und einen Ort, an dem ihr Euch zuhause fühlt und ich grüße Euch herzlich aus Bremen
Euer fröhlicher Werner