„Warum habe ich Krebs?“, fragte der Mann im Coaching.

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Bild: lisa_l, iStock.com

Bei der Entstehung von Krebs werden verschiedene Einflüsse vermutet. Vererbung kann eine Rolle spielen. Aber auch Faktoren der individuellen Lebensgestaltung wie Alkohol. Rauchen oder einseitige Ernährung können dazu beitragen.  Infektionskrankheiten sind die wichtigsten Risikofaktoren für Krebs. Doch bei den meisten Krebserkrankungen lässt sich keine eindeutige einzelne Ursache zuordnen.

Diese Ungewissheit lässt natürlich Raum für viele Spekulationen. Die Frage „Warum habe ich Krebs?“treibt viele Erkrankte um. Obwohl viele Studien zeigen, dass seelische Belastungen, Stress oder bestimmte Charaktermerkmale keine Auslöser für Krebskrankungen sind.

Aber damit konnte sich mein Klient nicht abfinden.

„Sie wurden mir von meinem Onkologen empfohlen, der Sie privat kennt. Ich habe vor vier Jahren die Krebsdiagnose bekommen. Lungenkrebs. Die Heilungschance sind mäßig.“
Mir gegenüber saß Carsten T., 38 Jahre, Inhaber einer gutgehenden Schreinerei, verheiratet, zwei Söhne.
„Das tut mir sehr leid“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

„Mir auch, vor allem, weil ich nichts falsch gemacht habe. Bronchialkrebs kriegen ja vor allem Raucher, ich habe aber nie geraucht. Wurde nur recht spät erkannt, weil ich die Symptome nicht ernst nahm. Hatte immer wieder Husten und Erkältungen, dachte aber, das kommt von der Zugluft in meiner Werkstatt.“

„Wie meinen Sie das, dass Sie nichts falsch gemacht haben?“, wollte ich wissen.
„Seit meiner Jugend bin ich Vegetarier, ich meditiere täglich seit über fünfzehn Jahren und glaube an Gott, ich liebe meine Frau und meine Söhne, Schreiner zu werden war mein Berufswunsch“,
zählte der Klient auf. „Nach den Statistiken, wie man gesund leben sollte, habe ich alles richtig gemacht.“

Was verursacht Krebs? Hier hört und liest man immer über einen möglichen Zusammenhang mit psychischen Belastungen. Diese Vorstellung ist sehr alt. Schon Hippokrates glaubte zu wissen, dass melancholische Menschen eher erkranken. Der Mythos ist zählebig. Eine große Mehrheit der Deutschen glaubt auch heute noch, dass psychische Belastungen der Auslöser für eine Krebserkrankung. Doch fehlen dafür wissenschaftliche Beweise.

„Meine Frau ist Astrologin und Heilpraktikerin. Sie ist überzeugt, dass Krisen immer einen Sinn haben. Von nichts kommt nichts, ist ihr Wahlspruch. Und Sie meint, dass der Krebs ein Zeichen ist, dass ich mein Leben ändern muss. Aber ich finde nichts. Deswegen komme ich zu Ihnen mit der Frage „Warum habe ich Krebs?“ 

Ich arbeite öfter mit Krebspatienten, weil mir das DKFZ manchmal Patienten schickt. Und ich mag auch die Arbeit mit ihnen. Sie sind fast immer mit existenziellen Fragen beschäftigt und wollen klare Aussagen und eine Richtung.

„Ich habe keine Ahnung, warum Sie Krebs haben und wahrscheinlich weiß das auch sonst niemand. Niemand weiß so richtig, warum bestimmte Krankheiten entstehen. Zwar gibt es Korrelationen von Verhaltensweisen und Krankheiten, aber das sind keine Kausalitäten. Ich denke, …“

Carsten T. unterbrach mich ungeduldig. „Das weiß ich alles, ich habe mich gründlich über Krebs belesen. Zu Ihnen komme ich, weil ich eine Antwort will, die nicht überall steht.“

Die verzweifelte Suche nach einer Antwort auf die Frage „Warum habe ich Krebs?“

Hinter der Frage „Warum habe ich Krebs?“ steht ja der Gedanke, dass es dafür eine gute Antwort gibt, also einen Grund. Und damit verbunden ist die Hoffnung, wenn man diesen Grund kennt, dass man dann auch etwas „tun“ kann. Mit anderen Worten, dass Krebs oder sein fürchterliches Wirken beeinflussbar sei oder gar zu kontrollieren.

Als ich Psychologie studierte, hörte ich von der Simonton-Methode bei Krebspatienten. Da sollte man in geführten Visualisierungen sich ganz plastisch vorstellen, dass die „guten“ Chemotherapie-Moleküle die „bösen“ Krebszellen auffressen. Leider konnte die Wirksamkeit seines Ansatzes auch von Simonton selbst nicht schlüssig durch Studien geprüft werden.

Manche Klienten fordern einen heraus. Weil sie schon viel ausprobiert haben oder mit Standardantworten oder bewährten Interventionen nicht zufrieden sind. Carsten T. war so ein Klient. Also nahm ich die Herausforderung an.

„Wenn ich Ihnen sagen soll, warum Sie Krebs haben, obwohl ich schon dargelegt habe, dass niemand das so richtig weiß, weiß ich nur noch eine Antwort“, sagte ich.
Gespannt sah mich der Klient an: „Ja, und wie lautet die?“
„Weil Sie zum ersten Mal richtig Pech hatten.“

Die Gesichtszüge meines Klienten, die bisher etwas aggressiv und kritisch waren, wichen jetzt einem kompletten Unverständnis.

„Dass ich Krebs habe, ist mein Pech? Ist das Ihr Ernst?“, fragte er konsterniert.
„Ja, mein voller Ernst. Und ich meine, es ist das erste Mal, dass Sie richtig Pech hatten.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Na, ganz viele Male in Ihrem Leben hatten Sie bisher unerhörtes Glück!“
entgegnete ich.

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Um das Unbewusste von Menschen zu erreichen, braucht man deren fokussierte Aufmerksamkeit.

Das geht nicht über langwierige Erklärungen oder theoretische Abhandlungen. Der beste Weg ist ein starkes Gefühl. Zum Beispiel ein Ritual, eine Überraschung oder ein milder Schock – wie in diesem Fall.

„Nun, Sie hatten das Glück, dass Sie gesund auf die Welt kamen. Ihre Kindheit und Jugend ohne große Verletzungen überstanden. Sie nie eine schwere Krankheit, Hunger oder Krieg erleben mussten. Ihren Beruf und Ihre Partnerin frei wählen durften. Vater von zwei gesunden Söhnen wurden. Da haben Sie überall Mordsglück gehabt. Mehr Glück als Milliarden Menschen auf der Welt je hatten.“

Carsten T. hörte aufmerksam und etwas neugierig zu. Er wusste noch nicht, worauf ich hinaus wollte.

„Und jetzt hatten Sie zum ersten Mal Pech. Nämlich bei der großen Lotterie des Lebens, wo es um die Frage geht: Läuft alles so gut weiter oder passiert mir noch was?“
Dem Klienten gefiel meine Antwort nicht. Deshalb erwiderte er:
„Aber das ist doch die entscheidende Situation jetzt, die mit dem Pech.“
„Ach, und all die anderen Momente, wo Sie großes Glück hatten, zählen nicht?“

„Aber wieso habe ich jetzt auf einmal Pech? Dafür muss es doch einen Grund geben!“, bohrte Carsten T. weiter.
„Muss es nicht. Gibt es nicht. Warum fällt die Roulettekugel nach fünfzehn Mal Rot wieder auf Rot – statt auf Schwarz, wie der verzweifelte Spieler es sich wünscht? Weil es keinen Grund gibt. Nur die Logik des Zufalls.“

In Krisen müssen wir uns oft mit existenziellen Fragen beschäftigen, die wir meist ein Leben lang verdrängt haben. Und weil die Antworten darauf äußerst beunruhigend sein können, haben sich früh Religionen gebildet, die Menschen helfen, Antworten auf die großen Lebensfragen zu finden. Zudem spenden sie Trost in schwierigen Zeiten und können Halt geben.

Schon vor Tausenden von Jahren haben sich Menschen gefragt:

  • Woher kommen wir?
  • Warum sind wir hier?
  • Haben wir eine Aufgabe in diesem Leben?
  • Wie sollen wir leben?
  • Was ist richtig oder falsch, gut oder böse?
  • Wohin gehen wir?
  • Und was soll das Ganze überhaupt?

Religionen geben Antworten auf diese Fragen. Sie erzählen von der Schönheit der Schöpfung und vom Sinn des Lebens. In traurigen Momenten bieten sie Trost, in schwierigen Situationen helfen ihre Schriften und Geschichten, sich zu orientieren und zu entscheiden. Viele Menschen mit demselben Glauben fühlen sich dadurch auch mit anderen Menschen verbunden. Man unterstützt sich gegenseitig und genießt die Gemeinschaft.

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„Aber  es muss eine Antwort auf meine Frage geben, sonst ist der Krebs sinnlos“, beharrte der Klient.
„Das Leben ist auch ohne Krebs sinnlos“, erwiderte ich. „Jedenfalls empfinden es viele Menschen so.“
Und nach einer Pause fragte ich: „Haben Sie mal was von Viktor Frankl gelesen?“
„Ist das der Arzt, der das Konzentrationslager überlebt hat?“
„Genau. Der war auch in einer ausweglosen, sinnlosen Situation. Von Hunger, Schikanen der Wärter und dem baldigen Tod bedroht. Viele seiner Mitgefangenen hielten das nicht aus, brachten sich um oder wurden verrückt. Frankl gab in dieser sinnlosen Situation seinem Leben einen Sinn, indem er sich schwor, zu überleben, um der Welt von den Verbrechen der Nazis zu berichten.“

„Was wollen Sie mir eigentlich mit all dem sagen?“, fragte mich an dieser Stelle etwas ratlos mein Klient.
„Das weiß ich auch noch nicht so genau“, gestand ich etwas kleinlaut ein.


Wenn der Coach sich im Prozess verstrickt.

„Scheiße!“, dachte ich in diesem Moment. Mir wurde bewusst, dass mir meine eigene Geschichte in die Quere gekommen war und deshalb der Prozess auf der Stelle trat.

Vor einigen Jahren war ich selbst schwer erkrankt und rang damals mit den gleichen Fragen wie jetzt Carsten T. Haderte mit Gott und der Welt und dem Leben. Warum ich? Warum diese Krankheit? Was ist der Sinn?

Geholfen hatte mir damals ein Video von Brené Brown. In Ihren Studien fand Brené Brown heraus, was viele Menschen zu vermeiden suchen und was auch der Zeitgeist vorgibt: Sei stark und zeige dich nie verletzlich.

Hier ein Video von ihr. Etwa ab der 10. Minute spricht sie darüber.

Wenn sie unten rechts im Video auf das Symbol mit den drei Punkten klicken, können Sie die deutschen Untertitel einblenden.

Und plötzlich war ich wieder in der Spur. Der Klient erinnerte mich daran, dass ich vor meiner Erkrankung auch so über mich und das Leben gedacht hatte. Dass ich nur alles richtig machen müsste – und so das Leben kontrollieren könne.

Was für eine Anmaßung von mir!

Ich wollte versuchen, herauszufinden, ob Carsten T. auf derselben falschen Fährte war. Natürlich nicht durch eine simple Frage, sondern durch ein kleines Experiment, wie ich das immer in meinen Coachings mache. Ich bat ihn, es sich bequem zu machen und die Augen zu schließen und forderte ihn auf:

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen: »Ich bin verletzlich.«“

Wenn ich in meinen Coachings mit einem positiven Satz das Lebensthema treffen kann, erlebt der Klient keine Zustimmung zu dem positiven Satz, sondern immer eine heftige Gegenreaktion:

  • Entweder in Form einer unangenehmen Körperreaktion wie Spannung, Druck, Schmerz.
  • Oder eines negativen Gefühls (Schmerz, Trauer, Wut).
  • Oder eines ablehnenden oder skeptischen Gedankens.

So war es auch diesmal.

Carsten T. begann, heftig den Kopf zu schütteln, Tränen traten in seine Augen und er wiederholte immer wieder: „Nein, ich bin nicht verletzlich. Nichts wirft mich um. Das habe ich von klein auf gelernt. Wenn man etwas will, dann schafft man das auch.
Meine Eltern haben immer gejammert. Über das Leben, die Arbeit, über andere Menschen. Sie fühlten sich ewig als Opfer. Ich fand das so schwach und habe das als Jugendlicher schon verachtet. Und beschloss sehr früh, dass ich mich niemals von etwas unterkriegen lassen würde.“

„Ein heroischer Entschluss“, bemerkte ich dazu und fuhr fort: „Sie haben aber dadurch nicht gelernt, mit Unsicherheit und emotionalen Risiken umzugehen. Als Gegenreaktion auf Ihre Eltern wollten Sie ein perfektes Leben führen. Ein Leben, in dem sie alles richtig machen und das Sie unverwundbar macht.“

„Was ist daran schlecht?“, fragte Carsten T. erstaunt.
„Perfekt und unverletzlich zu werden, ist ein verführerisches Ziel. Aber das schafft niemand. Einfach weil wir alle normale Menschen sind und andere brauchen. Die meisten Menschen glauben, Verletzlichkeit macht uns schwach. Das Gegenteil ist richtig – so seltsam es klingen mag – unsere Verletzlichkeit macht uns stark.“

Der Klient war eine Weile still und dachte nach. Dann sagte er:

„Vielleicht haben Sie Recht. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich in meinem Leben Verletzlichkeit vermeide. Dabei fiel mir ein, dass mein Wunsch, mich selbständig zu machen, damit zu tun hat. Ich wollte niemanden mehr, der mir sagen kann, was ich zu tun habe.
Wenn ein Kunde mal seine Rechnung nicht bezahlt, schicke ich keine Mahnung, sondern schreibe das Geld ab. Weil ich befürchte, dass ich das Geld doch nicht bekomme und ich dann düpiert und kleinlich dastehe. Ich frage nie jemanden nach dem Weg. Lieber verlaufe ich mich fünfmal und gebe dann das Ziel auf. Ich habe meiner Frau noch nie als Erster gesagt, dass ich sie liebe, obwohl stimmt und ich weiß, dass sie sich das sehr wünscht. Aber ich komme mir dabei so klein vor.“

„Und jetzt erleben Sie durch den Krebs, dass sogar Sie verletzlich sind – und Hilfe brauchen“, knüpfte ich den Bogen zu seiner Anfangsfrage.
„Sie meinen also auch, dass der Krebs einen Sinn hat, dass er mir etwas zeigen will?“
„Nein, das meine ich nicht. Niemand weiß, warum Sie krank geworden sind und der Krebs hat keine geheime Botschaft, die Sie nur entschlüsseln müssten und dann ist alles gut. Das wäre ja wieder der Versuch, es richtig zu machen“,
erwiderte ich.
„Ich merke, ich will schon wieder ein Patentrezept, damit ich etwas besser machen kann“, erkannte Carsten T.
„Aber was raten Sie mir? Was soll ich jetzt machen?“

Der Wunsch, ein Fachkundiger möge uns etwas empfehlen, was uns hilft, unser Problem zu lösen, ist weit verbreitet. Und in vielen Bereichen des Lebens ja auch angemessen und zielführend. Man fragte jemanden, der sich damit auskennt.

Für das eigene Leben und vor allem für das Innenleben gilt das nicht. Da kann uns selten jemand sagen, was wir tun sollen. Wir müssen es selbst herausfinden. Aber als Coach will ich den Klienten nach so einer aufwühlenden Sitzung auch nicht einfach nach Hause schicken.

Deshalb sagte ich zu Carsten T.: „Arbeiten Sie ein paar Wochen mit dem Satz „Ich bin verletzlich“ und untersuchen Sie, wo und wann im Alltag sie versuchen, sich unverletzlich zu machen.“
„Das ist alles?“
„Ja.“


Nach einem Dreivierteljahr schickte mir Carsten T. eine Mail.

Er habe viel über meinen Satz nachgedacht, dass er jetzt zum ersten Mal Pech hätte mit dem Krebs. So unmöglich er den Satz damals fand, sehe er mit der Zeit, dass da was dran wäre. Er helfe ihm, genauer hinzuschauen, wo er überall heute noch Glück habe – selbst jetzt in der Situation mit dem Krebs. Zum Beispiel, dass er immer noch am Leben sei, das nehme er jetzt jeden Tag bewusster wahr.

Auch mit den unangenehmen Nebenwirkungen der Behandlung helfe ihm unser Coaching. Er traue sich jetzt, zu fluchen und zu weinen, wenn es mal einen Tag ganz schlimm komme und er seelisch am Boden sei. Dann würde ihn seine Frau trösten und sogar die Pfleger hätten Verständnis, wenn er sich so schwach zeige.

Er habe sich sogar überwunden, zu einer Selbsthilfegruppe für Lungenkrebspatienten zu gehen. Dort erlebe er, dass man mit seinen verzweifelten Gefühlen nicht allein sei. Keiner in der Gruppe wisse, wie sein Leben weitergehe und trotzdem werde immer viel gelacht.


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PS: Alle Fallgeschichten sind real, aber so verfremdet, dass ein Rückschluss auf meine Klienten nicht möglich ist und die Vertraulichkeit gewahrt bleibt.

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