Wer sich ein wenig für Ernährung interessiert, bekommt dieser Tage an allen Ecken das böse Gluten an den Kopf geworfen. Gluten sei schlecht für den Darm, das Gehirn, das Herz, für alles. Glutenfreie Diäten werden immer bekannter [1], in den Supermärkten gibt es neuerdings Ecken nur für glutenfreie Lebensmittel und selbst im überschaubaren Ulm gibt es jetzt auch ein Fachgeschäft für glutenfreie Lebensmittel. Angesichts all der Angst, die geschürt wird, stellt sich der Mensch die Frage: Ist diese Sorge berechtigt?
Nach zwei einführenden Artikeln über die reale Bedenklichkeit über Gluten [Hier][Und hier] geht es heute weiter:
Historische Betrachtung
Unsere Vorfahren in der Steinzeit ernährten sich weitgehend frei von Getreide, der Quelle von Gluten. In kleinen Mengen knabberten sie hier und da an wilden Süßgräsern, aber die verzehrten Mengen waren sehr klein. Vor etwa 10.000 Jahren begann der Mensch dann, Getreide zu kultivieren und es zu seiner Hauptnahrungsquelle zu machen. Der Beginn des Glutenverzehrs. Die Menschen wurden nachweislich kleiner, kränker und anfälliger, Hauptgrund dafür natürlich der neu gestaltete Essensplan mit weniger Obst, Gemüse und Fleisch und viel mehr Getreide und Milchprodukten [2]. Seit 10.000 Jahren ist Gluten Teil unseres Speiseplans, aber warum soll es gerade in der Moderne zum Problem werden? Wir essen es doch schon eine so lange?!
1.) Züchtung
Als man vor 10.000 Jahren begann, Getreide anzubauen, begann man auch, das Getreide zu züchten. Man selektierte natürlich die Getreidelinien, die am meisten Ertrag abwarfen, am besten schmeckten und sich am besten zur Weiterverarbeitung (z.B. Brot) eigneten. Die Masse der Erträge wuchsen genauso wie der Proteinanteil im Korn. Denn ein erhöhter Proteinanteil bedeutete eine bessere Weiterverarbeitung. Das Protein im Getreide – allen voran das Gluten, – sorgen schließlich dafür, dass das Brot fluffig und knusprig zugleich wird. Gleichzeitig wuchs mit und im (tolles Deutsch) Proteinanteil auch der Anteil des Glutens [3] und damit die Belastung der Konsumenten dadurch.
Im Laufe der Jahrtausende entstanden aus Kreuzungen ganz neue Getreidesorten. Moderner Weizen z.B. ist ein Produkt aus Emmer und Einkorn [4], ursprünglichen Weizensorten. Nach diesen tausenden Jahren der Züchtung hat unser moderner Weizen allerdings genetisch so viel Gemeinsamkeit mit Emmer und Einkorn wie rosa Schweinchen mit Meerjungfrauen.
Der Gluten-Anteil im konsumierten Getreide ist also auf einem historischen Höchststand.
2.) Nahrungsergänzung
Als wäre der hohe Gluten-Anteil im Getreide nicht schon schlimm genug, ist Gluten ein beliebtes Ergänzungsmittel in verarbeiteten Produkten. Wir leben schließlich immer noch im Industriezeitalter, und Gluten ist billig zu haben und vielseitig einsetzbar. Zum Beispiel wird es Backmischungen beigemischt, um die Backeigenschaften zu verbessern oder den Kaloriengehalt zu senken (z.B. das Eiweiß-Brot oder das “Abendbrot” von Aldi Nord).
[Interessanterweise war Gluten schon immer ein Abfallprodukt der Stärkeindustrie, anfangs wurde es als Schweinefutter verwendet, bis man auf die tolle Idee kam, dass man es auch Menschen zum Essen vorsetzen konnte]
Außerdem kann man das Gluten chemisch so verändern, dass es andere Stoffe in Aroma oder Konsistenz ähnelt und so als Ersatzstoff wirken kann: So enthalten in vielen Fertiglebensmitteln wie z.B. Tütensuppen (zum Andicken), Proteinriegeln (Eiweißquelle), Fastfood (Füllstoff) oder direkt als veganer Fleischersatz (Seitan). Wer solche Lebensmittel (und industriell hergestellte Backwaren, was heutzutage fast allen Backwaren entspricht, die es zu kaufen gibt) konsumiert, nimmt dadurch auch überproportional viel Gluten in seinen Körper mit auf.
Zusätzlich wurde ich letzte Woche darauf aufmerksam gemacht, dass Gluten auch als Füllstoff von der Kosmetikindustrie eingesetzt wird. Ich checkte Shampoos im Drogeriemarkt und wurde fündig: Als Weizeneiweiß verkleidet steckt es tatsächlich in vielen Kosmetik-Artikeln. Wer also Probleme mit Gluten hat oder es diesbezüglich auch meiden will, sollte seine Kosmetika und Drogerie-Artikel dahingehend untersuchen und ggf. aussortieren.
Aus den Punkten 1.) und 2.) geht hervor, dass es vor allem ein modernes Phänomen ist, dass unser Gluten-Konsum überproportional gestiegen ist im Vergleich zu den letzten paar Tausende Jahren, wo durch Züchtung der Glutengehalt nur langsam anstieg. Der Industrialisierung sei dank.
Aber ein ganz wichtiger Faktor, warum Gluten ein modernes Problem ist:
3.) Verlust der Fermentationsprozesse
In 10.000 Jahren hat der Mensch das Bäckerhandwerk immer weiter verfeinert und perfektioniert. Er steckte schon immer viel Liebe und Zeit in den Teig. Der Ablauf war immer ähnlich, er beinhaltete immer Fermentationsprozesse: Ein Vorteig/Sauerteig wurde angesetzt und mindestens über Nacht stehen gelassen, mit diesem wurde am Tag darauf gebacken. Die Milchsäurebakterien und Hefen im Sauerteig bauten das Eiweiß ab und machten das Produkt später bekömmlicher.
[In einer Studie gab man Zöliakie-Patienten ein Brot zu essen, welches 24h fermentieren konnte. Erstaunlicherweise vertrugen sie es sehr gut. [4] ]
Viele kleine Gluten-Schnipsel kann unser Darm viel besser verwerten als das ganze, klumpige Protein. Aber genau das tun wir heute unserem Darm an. Kaum ein Bäcker benutzt noch Vorteig, um sein Brot zu backen. Die meisten greifen zu fertigen Backmischungen oder tiefgekühlten Teiglingen aus China, und wer seinen Teig noch selber anrührt, nimmt sich nicht die Zeit für einen Vorteig. [5] Seit Beginn der Industrialisierung will der Mensch sein Essen immer schneller und billiger herstellen. Die sinkende Bekömmlichkeit der Brot- und Backwaren ist ein Preis, den er dafür bezahlen muss. Gleiches gilt natürlich auch für alle anderen Getreideprodukte wie z.B. Nudeln und Pizza.
Ich hoffe, ich konnte euch mit ein paar Fakten und einer großen Portion gesunden Menschenverstandes zeigen, dass es vor allem ein neuzeitliches Problem ist, dass immer mehr Menschen an Glutenintoleranz oder Glutensensitivität leiden. Klar, wir konsumieren Brot schon seit tausenden von Jahren – wir hätten uns anpassen können. Stattdessen sank die Bekömmlichkeit durch steigende Glutenkonzentrationen und fehlende Fermentationsprozesse immer mehr. Heute leiden mindestens 2% der Bevölkerung an Zöliakie, mindestens 60% haben eine Glutensensitivität, die sich durch andere Symptome (Allergien, Pickel, Bauchkrämpfe, Ataxien, Schizophrenie, Demenz, …) bemerkbar macht. [6] [7] [8] [9]
Vergesst aber nie: Die Dosis macht das Gift – eine allgemeine Hysterie über Gluten ist unnötig, was jetzt wichtig ist, ist, dass man seinen Alltag dahingehend umstrukturiert, weniger glutenhaltige Lebensmittel zu konsumieren. Wenn ihr die Wahl habt zwischen Reis und Nudeln, Brötchen und Spiegelei, Seitan und Tofu, Tütensuppe oder selbstgemachter Suppe, sollte eure Entscheidung nicht schwer sein. Wer immer noch Probleme bei der Entscheidungsfindung hat, dem empfehle ich einen älteren Artikel von mir: WWFFD?
Ich wünsche ein schönes und glutenfreies Wochenende :)
Liegt euch noch etwas auf dem Herzen? ;) Schreibt mir Kommentare!
Gefällt euch KitchenOnFire? Abonniert den Blog, um immer von neuen Artikeln zu erfahren :)
Einsortiert unter:Ernährung Tagged: Backen, Fermentation, Gluten, Glutenfrei, Glutenintoleranz, Seitan, Weizen, Züchtung