Warum eigentlich Europa?

Das große Nachdenken hat eingesetzt. Es ist ein Nachdenken darüber, wie es so weit hat kommen könne, warum niemand etwas gemerkt hat und wieso nun plötzlich alle alles immer schon gewusst haben. Während die eine Seite im Walde pfeift und ruft, gegen ein peinliches Ende des Europa-Projektes helfe nur ein schnelles Ende Deutschlands, wie es der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder tut, der Griechenland einst in den Euro ließ, behaupten andere, der Euro selbst sei am Verhängnis schuld. "Man kann keine einheitliche Währung über verschiedene Nationalstaaten stülpen und glauben, dass das gut geht", versichert Börsenmakler Dirk Müller, der berühmt dadurch wurde, dass er der staatlichen Nachrichtenagentur dpa über ein Jahrzehnt lang als Fotomodel diente. So etwas lasse Zerreißkräfte entstehen, sagt Müller, der nur in einem irrt: Es lässt sich nicht entstehen, es lässt sie nur vor aller Augen sichtbar werden.
Schröder will das Grundgesetz ändern, um die Werkzeuge zu schaffen, das Europa, das geografisch, aber nie emotional ein geeinter Kontinent war, gegen die Zerreißkräfte wie mit einer Schraubzwinge zusammenzubinden. Europa muss sein, sagt er, ohne dafür eine Begründung anführen zu können. Damit ist Schröder ganz nah bei seiner Nachfolgerin Merkel, für die der Euro Europa ist und Europa die EU. Einen tieferen Sinn aber hat die Union aus Sicht der Politik offenbar nie gehabt: Die Einigung war Selbstzweck mit der Nebenwirkung, dass sich neue Posten schaffen ließen, auf die man ungeliebte Parteigenossen abschieben konnte. Die wiederum gern die Aufgabe erfüllten, Verordnungen zu erlassen, die als Gesetz zu verabschieden die nationalen Parlamente nicht die Kraft gehabt hätten.
Glühbirnenverbot, Feinstaubzonen - für Europas Bürger blieb Europa erfahrbar nur durch seine irrwitzigen Verbotsideen. Aber die Umtauschgebühren! Jedermann, der Urlaub macht, spart doch Umtauschgebühren! Und die Firmen erst! Zölle, Absicherungskosten gegen Devisenkursänderungen!
Die großen Vorteile Europa, in Kleingeld gemessen. Die Umtauschgebühren von Mark in Drachme würden jeden Deutschen ein Lächeln kosten, könnte er die D-Mark nach ihrem wahren Wert gegen die Drachme tauschen. Die Firmen aber würden beim Rohstoffeinkauf um Beträge entlastet, die sogar die gesparten Bürokratiekosten, die in den letzten zehn Jahren aus Brüssel verordnet worden sind lächerlich scheinen lassen.
In der Krise zeigt sich, dass es nur das Lästige ist, das den Kontinent eint. Keine gemeinsame Idee, keine gemeinsame Identität, wie sie die US-Amerikaner haben. Keine Geschichte, die gemeinsam erlebt wurde, sondern eine, die gegeneinander erfahren worden ist. Im Debakel wird die Wahrheit offenkundig: Europa ist nicht, Europa sollte stets nur sein. Reicht aber die Decke nicht, zieht jeder an seiner Seite, weil dem Dänen im Ernstfall dänische Interessen näher sind als italienische, und dem Deutschen die Arbeitslosigkeit in Worpswede und Westeregeln mehr Sorgen macht als die in Messatida und Thermo.
Aber Europa wäre ja auch, wenn es nicht mehr unter einem politischen Dach Nationalstaat spielte, heißt es in einem bemerkenswerten Aufsatz bei Zettel. "Natürlich hat es Bestand als eine geographische Bezeichnung; eine Halbinsel Asiens, die schon zur Zeit Herodots als einer der (damals drei) Kontinente gesehen wurde. Aber als politische Einheit muss Europa nicht existieren."
Kein Projekt, das am Ende des Kalten Krieges die Gesellschaftsexperimente der Kommunisten ersetzt, kein Weg, der davon ablenkt, dass es kein Ziel gibt. Europa könnte Freihandelszone sein, Zollunion, die europäischen Währungen könnten aneinander gebunden sein, ja, sie könnten sogar auf einer gemeinsamen Berechnungsbasis stehen wie das vor der Einführung des Euro-Bargeldes der Fall war. Niemandem würde etwas fehlen, aus dem starren Gebilde der verordneten Demokratie von oben, in der schon der Ruf nach Volksabstimmungen als unverantwortlicher Populismus diffamiert wird, könnte wieder ein von innerem Wettbewerb geprägter Staatenbund werden.
Doch nein. "Krisen, die sich ihrem Höhepunkt nähern, provozieren gelegentlich Rettungsvorschläge, die ihren katastrophalen Ausgang noch beschleunigen", analysierte die FAZ treffend, noch ehe Gerhard Schröder sich entschlossen hatte, seine Fehler bei der Euro-Aufnahme der Griechen dadurch zu übertünchen, dass er zur Abschaffung der deutschen Verfassungsordnung aufruft. Um einen solchen Vorschlag handele es sich bei der Idee, den drohenden Staatsbankrott etlicher überschuldeter europäischer Länder und das damit angeblich verbundene Ende der Gemeinschaftswährung durch Ausrufung eines Gemeinschaftsstaates namens „Vereinigte Staaten von Europa“ abzuwenden.
Zu spät. Wie ein Skispringer, der, einmal vom Schanzentisch abgehoben, in Vorlage bleiben muss, um nicht unkontrolliert abzustürzen, wird Europa von seinen Politikern in der Luft gehalten. Es geht nicht mehr um Weite, es geht nicht mehr um Höhe, es geht längst nicht um Haltungsnoten. Es geht ums Überleben einer Idee, die sich immer selbst genügt hat und nun zur normativen Kraft geworden ist: Wer erstmal in der Luft ist, kann nicht mehr darüber nachdenken, ob er fliegen will, wohin er fliegen möchte und ob Bus und Bahn nicht die bessere Wahl gewesen wären.
In der Not ist Dirk Müller ist mit einem Male ganz nah bei Gerhard Schröder: natürlich, es gibt immer noch keine Idee, keine Botschaft, keine Sendung, keinen tieferen Sinn. Aber es gibt die Krise, die Entwicklungen zu beschleunigen weiß. Auf der Tagesordnung stehe deshalb "die Schaffung einer politischen Einheit in Europa". Europa müsse nachholen, woran es in der Vergangenheit immer wieder gescheitert sei, es müsse "zu einem föderalen System zusammenwachsen, mit starken nationalen Staaten, aber einem einheitlichen Steuer- und Wirtschaftssystem".
Im Grunde muss das Quadrat Kreisform annehmen und der Kreis sich bei aller Rundheit, die ihm weiter gestattet sein soll, vier zackige Ecken zulegen.
Trilemma der Kommissare
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Eingestellt von ppq am Samstag, November 05, 2011 Warum eigentlich Europa? Warum eigentlich Europa?

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