Warum die SPÖ die Arbeiterschaft verliert

Erstellt am 12. Juni 2014 von Schreibfreiheit

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von Norbert Leser

Mein verehrter akademischer Lehrer August Maria Knoll, dessen Todestag sich am 24. Dezember vergangenen Jahres zum 50. Mal jährte, hat in der unseligen Zwischenkriegszeit, in der der Konflikt zwischen Kirche und Arbeiterbewegung, verkörpert in den Personen Prälat Ignaz Seipel und Otto Bauer, einen Höhepunkt erreichte, einen Aufsatz zum Thema „Warum die Kirche die Arbeiterschaft verlor“, geschrieben, in dem er den Wurzeln der wechselseitigen Entfremdung zwischen den beiden Mächten nachging. Als eine dieser Wurzeln identifizierte Knoll damals, dass die Kirche die soziale Frage allzulange und allzusehr als eine der Caritas und sozialen Mildtätigkeit ansah und der notwendigen Sozialgesetzgebung zu spät und zu halbherzig Geschmack abgewann.

Diesen Beitrag Knolls vor meinem geistigen Auge und die Stimmenverluste der SPÖ in Wiener Arbeiterbezirken und in klassisch sozialdemokratischen Industriegebieten registrierend, habe ich mir die zu Knoll parallele, zeitverschobene Frage vorgelegt, warum die SPÖ nicht mehr die selbstverständliche Heimat der Arbeiter ist, die doch ihre Kerntruppe bildeten.

Unter den Gründen, die für diese Entwicklung, die sich wohl auch fortsetzen wird, maßgeblich sind, scheinen mir vor allem zwei hervorzuragen. Der eine Grund ist sicher die Integrationspolitik der SPÖ, die von den Arbeitern, vor allem im Wiener Gemeindebau, als zu fremdenfreundlich empfunden und abgelehnt wird. Der zweite Grund liegt in dem beschlossen, was ich die zunehmende Verbonzung der Partei nennen möchte.

Um zunächst zum ersten Grund Stellung zu nehmen, ist es notwendig, sich einzugestehen, dass die noch vorhandene Arbeiterschaft nicht den Idealen und Prinzipien entspricht, die ihnen die linken Intellektuellen, die vor allem in der Parteiführung stark vertreten waren, seinerzeit angedichtet haben. Die Arbeiter sind nämlich keineswegs die Edel-Proletarier, zu denen der Marxismus sie stilisiert hat. Sie ließen sich diese Identifizierung mit erhabenen Idealen gefallen, solange diese nicht mit ihren eigenen Interessen kollidierten. Aber diese humanistischen Ideale, die z. B. der Brodaschen Strafrechtsreform zugrunde lagen und durch sie umgesetzt wurden, waren nie ein Herzensanliegen der Arbeiter von Wien. Die Arbeiter sind nämlich in ihrem ureigensten Bereich, wie dem der Familie, nicht so liberal und tolerant, wie ihre linken Bevormunder meinten, sondern vielfach durchaus repressiv und intolerant. Im Falle der Integrationspolitik kommen nun die linken Ideale mit der kleinen Welt, in der sie gelebt werden sollten, in Konflikt. In diesem Bereich hat die FPÖ das Ohr näher an der Basis als die SPÖ, die sich noch immer ihren linken Traditionen verpflichtet fühlt. Sie kann von diesen Idealen nicht so weit abrücken, wie es die Rücksicht auf die Stimmung im Gemeindebau erfordern würde.

Der zweite Grund, warum sich die Arbeiter in der SPÖ nicht mehr zu Hause fühlen, ist der zunehmende soziale und gefühlsmäßige Abstand zwischen den Führern und Profiteuren und der breiten Masse der Anhänger und Wähler. In der Ersten Republik sprachen die Sozialdemokraten davon, dass bei den Christlichsozialen „Gott Nimm“ herrsche und in der Tat erschütterten zahlreiche Skandale der Bank- und Finanzwelt unter christlichsozial-bürgerlicher Dominanz die Republik. Heute hat, was Korruption und Bereicherung anbelangt, die Sozialdemokratie ihren Widersachern, die zugleich ihre Koalitionspartner und Gesinnungsverwandten sind, den Rang abgelaufen. Der sozialdemokratisch hausgemachte BAWAG-Skandal kann es durchaus mit dem Phönix-Skandal der Ersten Republik und mit dem Krauland-Desaster der Zweiten, die der ÖVP anzulasten war, aufnehmen. Es herrscht in dieser wirklich nicht rühmlichen Beziehung Waffengleichheit und Parität zwischen den zwei politischen Lagern. Für die Sozialdemokratie ist diese Entwicklung viel verheerender und demoralisierender als für die ÖVP, in deren Programmatik der Gleichheitsgedanke, den noch Christian Broda immer wieder als den „harten Kern des Sozialismus“ bezeichnete, nie eine so tragende Rolle spielte wie in der Sozialdemokratie. Die SPÖ und die von ihnen dominierte Gewerkschaft werden unglaubwürdig, wenn sie Millionärs-, Erbschafts- und Vermögenssteuern verlangen, selbst aber Millionäre in den eigenen Reihen züchten und fördern, ja sogar noch feiern und zelebrieren. Dies trifft vor allem auf eine Persönlichkeit zu, die nicht nur eine unter anderen, sondern diejenige ist, die diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit und eine ganze Ära der Parteigeschichte geprägt und nachhaltig verdorben hat, nämlich Franz Vranitzky.

Er lässt sich als „elder statesman“ feiern und hat auch als Bundeskanzler und schon vorher als Finanzminister Meriten aufzuweisen, die diese Ehrung rechtfertigen. Doch diese Verdienste finanz- und europarechtlicher Natur können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Einfluss und Beispiel in der Partei selbst, deren Vorsitzender er seit 1988 auch wurde, ein verhängnisvoller war. Vranitzky hätte, wie es in der Bundesrepublik Deutschland und in der SPD zeitweise der Fall war, dafür sorgen müssen, dass sich jemand anderer als er selbst um die Partei kümmere. Die Pannen und Fehlleistungen, die in das schwache Jahrzehnt von Vranitzkys Parteivorsitz fallen, sind in der Tat beträchtlich: die Einstellung der „Arbeiter-Zeitung“ fällt ebenso in diese Periode wie die Pleite des „Konsum“, den Karl Renner noch als „dritten Arm und Ast der Arbeiterbewegung“ hochgehalten hat. Manche der in der Ära Vranitzky eingetretenen Defizite und Desaster hätten vielleicht nicht vermieden werden können, was aber das eigentlich Verheerende war, ist mit welcher Kaltschnäuzigkeit und ohne jede Trauerarbeit über diese Verluste zur Tagesordnung übergegangen wurde. Auch die „Zukunft“, jenes theoretische Organ, in dem in Nachfolge von „Der Kampf“ der Ersten Republik in der Zweiten interessante Debatten geführt wurden, verschwand aus der öffentlichen Wahrnehmung, um damit wohl auch symbolisch die Zukunft der Partei. Zwar hat Vranitzky bei der Nationalratswahl nach der Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten die SPÖ vor einer drohenden Niederlage bewahrt, aber um welchen Preis, für den die Partei erst später einzustehen hatte!

Es war ein großer Fehler, der sich wie so oft erst später historisch gerächt hat, einen Banker, der auch die entsprechende Mentalität technokratischer Kaltherzigkeit nicht nur in die Regierung, sondern auch in die Partei hineingetragen hat, mit dem Amt des Parteivorsitzenden zu betrauen. Denn so gut und richtig es auch war und ist, mit der Bank- und Finanzwelt in ein gutnachbarliches Verhältnis anstelle der ursprünglichen marxistischen Totalablehnung und Zerstörungslust zu treten, so falsch war es, einen prononcierten Vertreter der Gegenwelt zum Parteivorsitzenden zu machen. Damals stimmte der mittlerweile auch zum gelehrigen Schüler Vranitzkys in Sachen Arbeiten für die eigene Tasche gewordene Alfred Gusenbauer als Vorsitzender der Jungsozialisten gegen Vranitzky als Parteivorsitzenden. Gusenbauer empfand damals einen Banker zum Parteivorsitzenden zu machen, als so etwas wie feindliche Machtübernahme.

Bei der Lancierung Vranitzkys als Parteivorsitzenden hat Fred Sinowatz einen historisch nicht minder schweren Fehler begangen, als beim Lostreten der Waldheim-Kampagne. Beide Aktionen demonstrieren, dass Sinowatz vielleicht ein guter burgenländischer Landeshauptmann geworden wäre, wenn er Theodor Kery rechtzeitig abgelöst hätte, dass ihm aber zum Bundeskanzler das historische Format fehlte. Der Irrtum Kreiskys bei der Nominierung seines Nachfolgers setzte sich im Irrtum von Sinowatz bei der Nominierung seines Nachfolgers fort. Allesamt erwiesen sich bei diesen Aktionen als „schlechte Menschenkenner“, als welchen sich Kreisky selbst in einem Interview einmal charakterisierte. Sinowatz beherzigte bei der Auswahl Vranitzkys nicht den Rat Kreiskys, der Vranitzky keineswegs billigte, und schon in Hannes Androsch das Eindringen eines fremden Geistes in die Bewegung erblickte.

Allerdings lassen sich zugunsten von Androsch viele Vorzüge ins Treffen führen, die bei Vranitzky nicht zutreffen. Androsch ist ein eminent politischer Kopf und, obwohl selbst ein technokratischer Machertyp, mit einer stark sozialen Komponente und einer guten Bodenhaftung und Tuchfühlung mit den Floridsdorfer Genossen ausgestattet. Er ist auch ein harter Arbeitsmensch, dem das Geld nie in erster Linie ein Mittel zu einem bequemeren bis luxuriösen Lebensstil, sondern als Mittel zur Umsetzung von Ideen betrachtete, ja er ist ein typischer „dynamischer Unternehmer“ im Sinne des österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter, dem es als Parteivorsitzenden zuzutrauen gewesen wäre, auch über den Schatten des Unternehmers zu springen und zu einer klassischen Synthese von Kapital und Arbeit vorzudringen.

Die Ära Vranitzky ist während ihrer Dauer und über ihre Dauer hinaus nachhaltig prägend und die guten Sitten verderbend gewesen und geblieben. Die Devise, die Vranitzky stillschweigend ausgegeben hat und weiterhin vorlebt, ist die des französischen Staatsphilosophen und Politikers Guizot während des Bürgerkönigtums „enrichissez vous“, zu Deutsch: „Bereichert euch!“.

Vranitzky lebt bis zum heutigen Tag vor, wie man, durchaus legal, aber unter Ausnützung aller Möglichkeiten, die einem in der Wirtschafts- und Bankwelt zur Verfügung stehen, ein Luxusleben zwischen Wien und Kreta führen kann. Ich traute meinen Augen nicht, als ich am 1. Mai von meiner Döblinger Wohnung aus mit der Straßenbahn aus in die Innere Stadt fahrend, Vranitzky erblickte, der mit einer roten Nelke im Knopfloch, mit den Genossen des Bezirkes, zu Fuß stadteinwärts marschierte. Diese Stunden am 1. Mai sind aber wohl die einzige Zeit im Jahr, die er auf Augenhöhe mit seinen Genossen verbringt und ihr Los teilt. Im übrigen Jahr lebt er ein von ihnen weit abgehobenes Dasein. Zum Glück kennen die Genossen die Einzelheiten von Verträgen mit Banken nicht, die ihm ein solches Leben ermöglichen, sonst würden noch viel mehr Arbeiter der SPÖ den Rücken kehren.

Es hat keinen Sinn, Vranitzky persönlich einen Vorwurf zu machen, dass er so lebt, wie er lebt, dass er so ist, wie er ist. Schuld sind alle die, die in Kenntnis seiner Mentalität ihn in die Lage versetzt haben, an die Spitze einer Partei zu treten und mit seiner Art des Auftretens Schule zu machen. Und Schule hat er zunächst bei seinem Nachfolger Viktor Klima, der nach seinem Ausscheiden aus der Politik Autogroßhändler in Südamerika geworden ist, gemacht. Und auch der ursprünglich linke Alfred Gusenbauer verdient sein gutes Geld inzwischen im Solde von Diktatoren, die er in angebliche Demokratie einübt.

Dass ein solches Absinken von Politikern auf das Niveau von Geldmenschen und Großverdienern keineswegs unvermeidlich ist, zeigt das Beispiel des Grazer Stadtrates Ernest Kaltenegger, aber auch der Grazer KPÖ, die viel eher Kommunitaristen im guten Sinn des Wortes als Kommunisten im Sinn des Stalinismus sind. Sie haben gezeigt, das auch ein gutes Beispiel Schule machen kann und dass es auch Politiker gibt, die in der Politik und nach dem Ausscheiden aus der Politik vorleben, dass man in der Politik auch eine primär sozial motivierte Aktion und nicht eine Geschäftemacherei erblicken und sich dementsprechend betätigen kann.

Für die SPÖ bleibt jedenfalls das noch zu erledigende Problem, Standards des freiwilligen Verzichts auf Sonderleistungen und Sondermöglichkeiten einzuführen und mit entsprechenden Sanktionen zur Geltung zu bringen. Das bedeutet nicht, dass man als Politiker ein Armutsgelübde leisten muss, wohl aber, dass man die Schere zwischen Arm und Reich in den eigenen Reihen nicht weiter öffnet als man sie programmatisch auch in der Gesellschaft geöffnet sehen will.

Auch das Beispiel der benachbarten SPD und ihr Absinken in der Wählergunst nicht zuletzt infolge des Vranitzky ähnlichen Gerhard Schröder und der „Toskana-Fraktion“ lehrt, dass eine sozialistische Partei die Sauberkeit in den eigenen Reihen nicht ungestraft verletzen kann.

Man konnte die zunächst nur atmosphärischen Trübungen, die mit dem Dammbruch der Ära Vranitzky eintraten, lange Zeit als bloße Betriebsstörungen ignorieren, bis sie sich, mit einiger Verspätung, im Verlust von Wählerstimmen und Mitgliederzahlen niederschlugen, die aber noch immer, wenn auch mit geringerem Erfolg, bagatellisiert werden.

Es erschein vielen, und auch mir selbst, merkwürdig, dass ich auf meine alten Tage als linker Kritiker der SPÖ auftrete und auftreten muss, um meine Bestimmung als Historiker und Ideologiekritiker des österreichischen Sozialismus zu erfüllen. Dabei habe ich doch die längste Zeit als Kritiker der Partei von rechts gegolten. Habe ich also die Seiten gewechselt oder haben mich die veränderten Verhältnisse zu diesem scheinbaren Seitenwechsel genötigt? Doch wohl eher letzteres. Denn solange es, vor und während der Ära Kreisky galt, gegen Reste des austromarxistischen Gedankengutes, das einer Modernisierung der Partei im guten Sinn anzukämpfen, stand ich auf Seiten dieser Kämpfer. Dies trifft vor allem auf die Überwindung des anachronistischen Gegensatzes zwischen Kirche und Sozialdemokratie, zu, aber auch auf so profane Bereiche, wie die Verteidigung der Verstaatlichung um ihrer selbst willen. Heute dagegen und schon die längste Zeit, wo es gilt, die Reste von Seele, die noch in dieser Bewegung lebendig geblieben sind, zu hüten und zu bewahren, muss die Kritik notgedrungen eine von links kommende sein, gilt es doch, nicht bloße Traditionen zu verteidigen, sondern, die Partei vor der überhandnehmenden Veroberflächlichung und Veralltäglichung, also „Verbonzung“, zu bewahren. Was dieser Partei fehlt, ist das Ringen um die richtige Linie und die zeitgemäße Antwort auf drängende Fragen.

Heute wäre auch der „rechte“ Renner, der in der Ersten Republik als Exponent einer kritischen Position gegenüber dem vorherrschenden Pseudo-Linkskurs Bauers galt, mit dem, was er noch in der Zweiten Republik von sich gab, ein solcher „linker“ Kritiker. Denn wofür Renner Zeit seines Lebens eintrat, waren Bescheidenheit der Funktionäre, eine Haltung, die die Herausbildung einer politischen Klasse mit Privilegien verhindert hätte.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf einen 1946 beim Institut für Wissenschaft und Kunst gehaltenen Vortrag Renners, der auch als Broschüre erschien, zurückzugreifen, in dem Renner Postulate für die öffentlichen Ämter aufstellte, von denen man sich sträflich weit entfernt hat. Hat Karl Renner noch 1946 am Mond gelebt, oder hat man sich nicht umgekehrt von jenem Geist entfernt, den Renners Worte atmen?

Was ist von den folgenden Maximen Renners heute noch übrig geblieben, von dem, was er 1946 sagte und schrieb: „Der Mandatar gehört zwar einer Partei an, diese Zugehörigkeit ist jedoch völlig frei, Austritt jederzeit möglich. Zwischen den Mandataren besteht keinerlei berufs- oder standesgemäße Bindung, keine andere Ein- und Unterordnung als die freiwillige, kein Rangunterschied als die errungene Achtung und Liebe der Wähler und es besteht keine Beförderung. Der Beamte bildet mit seinesgleichen eine Berufsgemeinschaft, innerhalb derselben steht die Scheidung von Höheren und Niederen. Das allgemeine Prinzip ist somit dort bedingungslose Freiheit und Gleichheit, hier stufenweise Gliederung, Ungleichheit und Unfreiheit.“

Renner ging in seiner rigorosen Trennung von bürokratischen und parlamentarischen Prinzipien so weit, dem Abgeordneten in der Frage der materiellen Versorgung wie folgt zu bescheiden: „Der Volksbeauftragte bezieht kein Entgelt, nicht Lohn und Gehalt. Um der mit seinen Aufgaben verbundenen und für sie unerlässlichen Ungebundenheit bezieht er während des Mandates einen für alle gleichen Unterhalt in Gestalt von Taggeldern, er hat keinerlei Anspruch auf Versorgung durch den Staat. Diese bleibt Aufgabe seines Privaterwerbes oder der Partei.“ Gerade in diesem Punkt ist den strengen Aufforderungen, die sich auf Erfahrung und Ethos gründen, systematisch zuwidergehandelt worden. Dies kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass die Bezüge der Abgeordneten an die der Beamten gebunden werden, sondern auch durch die darüber hinausgehende Versorgung der Abgeordneten mit zusätzlichen Einkommen, die meist wieder mit ihrer Herkunft als Beamte und Interessensvertreter zusammenhängen. In der Frage der Pensionsregelungen hat man sich auch über die strengen Prinzipien Renners hinweggesetzt, nicht nur dadurch, dass man Mandataren überhaupt Pensionen zubilligt, sondern darüber hinaus auch dadurch, dass man ihnen Mehrfachpensionen ermöglicht und zuschanzt.

Die Tochter Karl Renners, die einst in Gloggnitz lebende und dort auch 1977 verstorbene Leopoldine Deutsch-Renner hat mir erzählt, dass ihr Vater „fuchsteufelswild“ geworden sei, als gegen Ende seines Lebens die Idee einer Ministerpension auftauchte. Renner hat auch die Entartungen, die in der BAWAG später Platz griffen, nicht für möglich gehalten, bezog er doch als erster Präsident der Arbeiterbank eine Entschädigung, die für Elsner & Co wohl nur ein Taschengeld gewesen wäre. Freilich hat Renner schon in der Ersten Republik, so in einem Aufsatz im „Kampf“ im Februar 1930 Tendenzen in Gewerkschaft und Partei namhaft gemacht, die erst in der Zweiten zur vollem Sumpfblüte gediehen sind: „Diese ständischen Kooperationen schaffen natürlich eine Armee von halbverstaatlichten Privatfunktionären und dieser Heuschreckenschwarm wird auf unsere Wirtschaft losgelassen.“

Das jüngste Beispiel, das die politische Klasse geliefert hat, ist deshalb besonders widerwärtig und jenseits der Schamgrenze, weil es einen ehemaligen Hoffnungsträger, nämlich Josef Cap, der sich am vorläufigen Ende seiner politischen Tage als gewöhnlicher Spesenritter demaskiert. Da soll noch einer sagen, dass die SPÖ auf ihre Funktionäre nicht schaut, im Gegensatz zu gewöhnlichen Wählern und Mitgliedern, die einem permanenten Sparkurs zum Opfer fallen, wird den höheren Funktionären jeder Einkommensentgang großzügig refundiert. Es geht eben nichts über die viel beschworene Solidarität!

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Norbert Leser.

Norbert Leser war Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für neuere österreichische Geistesgeschichte in Wien