In der Diskussion um den Mindestlohn (vergangene Beiträge siehe chronologisch hier, hier, hier, hier, hier) besteht ein fundamentaler Dissens darüber, ob Marktmechanismen für den Arbeitsmarkt unbeschränkt greifen, wie sie dies etwa für Lebensmittel tun, und der Staat daher von preispolitischen Interventionen absehen sollte, oder aber ob der Arbeitsmarkt speziellen Regeln unterliegt und damit auch staatlicher Preisregulierung bedarf. Um eine Definitionsfrage von vornherein zu klären: Selbstverständlich ist der Mindestlohn ein staatlicher Eingriff in den Arbeitsmarkt und legt einen Mindestpreis für ein Produkt (in diesem Fall Arbeit pro Stunde) fest. Selbstverständlich ist das etwas, vor dem Staaten mit Blick auf die Erfahrungen bisheriger planwirtschaftlicher Versuche zu Recht zurückschrecken. Und selbstverständlich hat ein solches Eingreifen nicht nur positive Konsequenzen.
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Ich halte aber ein Argument gegen den Mindestlohn für vollkommen untauglich: dass der Arbeitsmarkt eine Art natürliches Gleichgewicht fände, bei dem Arbeit entsprechend ihres ökonomischen Wertes bezahlt würde, und dass moralische Überlegungen hierfür nicht die geringste Rolle spielen. Die Bezahlung der Ware Arbeit ist ohne jeden Zweifel direkt mit dem Überleben des einzelnen Menschen verknüpft: unter einer bestimmten Schwelle könnte der Mensch nicht überleben und müsste verhungern. Diese Schwelle ist in Deutschland schon durch das Grundgesetz von jedem Marktmechanismus ausgenommen und wird von Arbeitgebern aus wohlverstandenem Eigeninteresse nicht einmal in Zeiten des düstersten Raubtierkapitalismus unterschritten. Hierfür braucht es tatsächlich keine weitere Regulierung mehr.
Die Frage dreht sich daher auch nicht um das absolute, sondern das sozio-kulturelle Existenzminimum, das sich in der berühmt-berüchtigten Phrase niederschlägt, man müsse "von seiner Arbeit leben können". Dies trifft in Deutschland auf eine Zahl von rund vier Millionen Arbeitnehmern (die vom Mindestlohn betroffen sein werden) nicht zu. Die Frage ist daher eigentlich nur, woher dieses (erneut: grundgesetzlich verankerte) Existenzminimum kommt. Der Staat hat hierfür im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Entweder er schießt den fehlenden Betrag direkt zu (entweder komplett oder als Aufstockung des zu niedrigen Lohns) oder er setzt den Preis für Lohn auf das entsprechende Mindestniveau, das von der Politik in Deutschland mehr oder minder arbiträr auf 8,50€ festgelegt wurde.
In dieser Lage kann es auf dem Arbeitsmarkt keinen freien Wettbewerb geben. Dies ist schon allein ein Preismechanismus. Ein freies Anbieten von Arbeit existiert so nicht. Die Marktmacht ist dafür viel zu ungleich verteilt. Die Idee freiwilliger Arbeitslosigkeit bei zu geringen Löhnen, wie die etwa Milton Friedman postuliert hat, ist seine Schimäre. Entweder würde der so freiwillig in die Arbeitslosigkeit gehende verhungern, oder jemand würde für seinen Unterhalt zuschießen - entweder private Wohlfahrt oder der Staat. Niemand würde aber Kartoffeln, die niemand kaufen will, irgendwann als soziale Tat erwerben. Diese Lohnverhältnisse herrschen in allen Ländern, in denen der Staat nicht regulierend eingreift, und sei es nur durch den Schutz des Organisationsrechts der Arbeiter.
Ein Mindestlohn muss daher nicht marktverzerrend wirken. Er kann marktähnliche Verhältnisse auch erst schaffen helfen, weil durch die Sicherung des Minimums überhaupt erst die Möglichkeit zur echten Verhandlung für Arbeitnehmer entsteht.