Das Leben in der Grossfamilie bringt ans Licht, wer du wirklich bist. Bei mir zum Beispiel stellte sich heraus, dass das mit dem Perfektionismus wohl reines Wunschdenken war. Damals, als mein Leben noch überschaubar war – Mann, ein Kind, vier Zimmer und ein Halbtagsjob – war es ja noch einfach, so zu tun als ob. Die Küchenkombination stets perfekt poliert, so dass sogar meine Mutter neidisch wurde, die ganze Putzerei an einem halben Tag pro Woche erledigt, der Schreibtisch im Büro perfekt aufgeräumt, die Stifte in Reih und Glied schön rechtwinklig zum Notizblock. Natürlich auch immer sauber angezogen, das Kind nie mit voller Windel unterwegs, der Wocheneinkauf wurde en famille erledigt. „Was meinst du, wollen wir diese Woche mal wieder Kürbis essen, oder hast du eher Lust auf Blaukraut?“ Perfekter habe ich meinen Alltag nie hingekriegt als damals.
Heute, wo alles so anders ist als damals, kommt mir das alles nicht vor, wie ein längst vergangener Abschnitt meines Lebens, sondern wie eine Szene aus einem Film, den ich mal gesehen habe und dessen Titel mir entfallen ist. Hatten wir tatsächlich mal ein Zimmer, das nur zum Teetrinken und Gäste bewirten gebraucht wurde? Ist es wahr, dass wir die Teedosen damals einfach so herumstehen lassen konnten, weil keiner den gesamten Inhalt auf den Teppich verteilte? Gab es wirklich mal eine Zeit in unserem Familienleben, als ich zu jeder Zeit unangemeldeten Besuch empfangen konnte, ohne verschämt darauf hinzuweisen, dass ich zwar eben erst aufgeräumt hätte, dass man davon aber bereits nichts mehr sehe? Und habe ich damals allen Ernstes geglaubt, ich sei eine Perfektionistin?
Nein, eine Perfektionistin bin ich nicht, soviel ist inzwischen klar geworden. Gut, solange keiner da ist, der mir ständig alles durcheinander bringt, gelingt es mir ganz gut, dafür zu sorgen, dass jedes Ding seinen Platz hat und ich bringe es gar fertig, meine Zeit sinnvoll einzuteilen. Ziehen aber die anderen nicht mit, oder schlimmer noch, zerstören die anderen laufend das, was ich verzweifelt aufzubauen versuche, dann kommt ans Licht, was ich wirklich bin: Ein Grossfamilienkind, das nie gelernt hat, Ordnung zu halten und das deshalb umso verzweifelter einen Halt in einem aufgesetzten Perfektionismus sucht, der aber nicht tief genug verankert ist, um auch die heftigsten Alltagsstürme zu überstehen. Was nun? Das Ganze mit einem „ich brauche eben mein kreatives Chaos, um glücklich zu sein“ abtun, oder weiterhin versuchen, wenigstens einen Ansatz von dem, was einmal war, in unseren Alltag hinüberzuretten? Der Entscheid ist noch offen und vielleicht fällt er auch erst dann, wenn bei uns zu Hause das Chromstahl wieder poliert ist, die Stifte wieder in Reih und Glied auf dem Schreibtisch liegen und die Teedosen wieder herumstehen dürfen, wo sie wollen, weil keiner mehr etwas auskippt. Obschon ich mir nicht so sicher bin, ob ich mir diesen Zustand zurückwünschen soll.