Im Schauspielhaus in Wien wird derzeit die Produktion „Wenn Kinder Steine ins Wasser werfen“ nach einem Text von Xaver Bayer in der Regie von Christine Gaigg gezeigt.
Thiemo Strutzenberger, Veronika Zott, Eva Maria Schaller, Anna Prokopova, Petr Ochvat (Foto: © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus )
Die Umsetzung der Choreographin mit Tänzerinnen von 2nd nature (Veronika Zott, Eva-Maria Schaller, Anna Propoková, Petr Ochvat) in Zusammenarbeit mit dem Tanzquartier und dem Schauspielhaus kann als Experiment angesehen werden, das der Frage nachgeht, inwieweit ein Kunstwerk – hier im konkreten Fall der Text von Bayer – legitim durch eine andere Kunstform ergänzt oder uminterpretiert werden darf.
Das Besondere an der Arbeit ist Gaiggs Idee, der Sprache Bayers eine zweite künstlerische Ebene hinzuzufügen. Dies wird durch eine Choreographie mit einem Tänzer und vier Tänzerinnen erreicht, die das gesprochene Wort aber weder unterstützt noch konterkariert. Vielmehr agieren die Tänzerinnen bis auf kurze Ausnahmen wie in einer Parallelwelt, die ungeachtet vom sprachlichen Geschehen wie zufällig auf der Bühne stattfindet.
Bayers Text – die Gedanken eines Mannes, die allerlei Assoziationen und Erinnerungen einschließen – ist formal aus einem Endlossatz gebaut. Gaigg lässt diesen jedoch abwechselnd von Nicola Kirsch und Thiemo Strutzenberger deklamieren und bleibt dadurch nicht in der geschlechtlichen Determination. Die Gedanken reihen sich nahtlos aneinander, während der Protagonist bzw. die Protagonistin in einem Transitraum auf einen Weiterflug wartet. Einem Ort also, der überall auf der Welt sein könnte, Andachtskapellen der großen Weltreligionen sein Eigen nennt und Fast-food-Ketten beherbergt, so dass die tatsächliche Verortung keine Rolle spielt. Die ruhige, stetig sich weiterentwickelnde Sprachmelodie hat zwar den Vorteil, dass man theoretisch dem Gedankengang ohne weitere Ablenkung von Szenenwechseln folgen könnte. Dies gelingt aber bei dieser Aufführung keineswegs. Viel zu stark sind die Eindrücke, die durch die Tanzenden hervorgerufen werden. Ihre Kopulationsbewegungen, die zu Beginn der Aufführung jeder für sich vollziehen, werden nur unterbrochen durch Bewegungsmuster, wie man sie von Affenherden in Gefangenschaft kennt. Da wird nach einander gegrapscht, da verfolgen sie sich in aberwitzigem Tempo gegenseitig, aber nach rastlosen Aktionen wird auch traulich zusammengekuschelt. Eva-Maria Lauterbach sorgte für tarnfarbige Kostüme, die zwar tierische Assoziationen , aber dennoch keine genaue Festlegung zulassen. Die tänzerische Leistung – die auf weite Strecken in der Ausführung von Mikrobewegungen besteht – ist explizit hier anzuführen. Die Choreographie beherbergt aber mehr noch als tänzerische Elemente, verlangt sie doch von den Agierenden sich fast eineinhalb Stunden lang in tierische Wesen zu verwandeln, deren Bewegungsmuster zu imitieren und niemals dabei aus der Rolle zu fallen. Diese Rollenverwandlung, die man eigentlich den Schauspielenden auf einer Bühne zuschreibt, wird hier ausschließlich von den Tanzenden übernommen, denn Strutzenberger und Kirsch schlüpfen in keine „Rollen“, sondern agieren lediglich deklamierend.
Die Bühne – die an ihrer Rückseite auch Zuschauerreihen beherbergt – wird durch eine offene Plexiglasarchitektur strukturiert, unter welcher sich das Tiervolk geschickt von einer Bühnenseite auf die andere bewegen kann. Das Publikum mutiert dabei unbemerkt von Theatergängern zu gaffenden Zoobesuchern, die ohne Unterlass das Geschehen beobachten. Für diese Ausstattung sowie das Licht, das einmal das Geschehen von Strutzenberger und Kirsch und dann wieder jenes der tierischen Menschenherde hervorhebt, zeichnet Philipp Harnoncourt verantwortlich. Gemeinsam mit dem diffusen Klanggeschehen von Florian Bogner verschmilzt mit Fortdauer des Abends die Szenerie beinahe zu einer Einheit. Vor allem in jenem Moment, in welchem sich Nicola Kirsch daran macht, sich einst wie Gregor Samsa von einem Menschen in ein Tier zu verwandeln, und zur balgenden Schar zu gesellen. Ihr Verschwinden von der Bühne sowie jenes ihres Partners, dessen Stimme noch eine Weile über Lautsprecher zu hören ist, geschieht unmerklich und fokussiert die Aufmerksamkeit schließlich rein auf die äffische Schar.
Die Inszenierung des Stückes wirft – im Gegensatz zum kunstvollen Text, der gelesen wahrscheinlich noch um ein Stück interessanter wird – einige Fragen auf. Inwieweit macht die Verfremdung eines Textes durch ein zweites Parallelgeschehen Sinn? Inwieweit verfremdet dieses die ursprüngliche Aussage? Wer der Beteiligten – Autor und Choreographin – gibt hier dem oder der anderen freiwillig den Vorrang oder vielleicht auch unfreiwillig? Hat Gaigg hier einfach die Gelegenheit beim Schopf gepackt, eine Choreografie auf die Bühne zu stellen ohne Respekt vor den Aussagen des Textes oder ist es gerade ihr Gegenentwurf, der diesen erst spannend macht?
Diese Fragen führen einen unweigerlich dazu, die Aufführung ganz im Sinne ein Eco´schen offenen Kunstwerks anzusehen. Einem Kunstwerk also, bei welchem die Rezipientinnen sich ihre eigene, subjektive Meinung zum Geschehn bilden. Gaigg geht hier aber noch einen Schritt weiter. Wie aus einem Interview mit der Dramaturgin Constanze Cargl deutlich wird, attestiert sie Bayers Text eine Triebferne, der sie ihren Gegenentwurf entgegensetzen wollte. Sie schuf somit zur These eine Antithese und macht damit aber auch deutlich, wie sie selbst den Text interpretiert. Aus dieser These und Antithese ist es schließlich jeder und jedem Einzelnen überlassen, eine subjektive Synthese zu ziehen. Auf den Punkt gebracht bleibt die Suche nach der subjektiven Interpretation des alten Konfliktes zwischen der Ratio und dem animalischen Ursprung des menschlichen Seins, der häufig in die „Errungenschaften“ der Zivilisation mündet.
Man könnte Bayers Text auch ganz anders als Gaigg, nämlich überhaupt nicht triebfern lesen bzw. interpretieren. Schließlich erfährt man darin, dass er sich erst unlängst von einer Frau getrennt hat, und wird auch Zeuge einer kurzen, mehr als hilflosen telefonischen Kontaktaufnahme. Der Schmerz dieser Trennung könnte somit als unbewusste Triebfeder seiner Unrast und seiner hyperaktiven Gedankenströme gelesen werden, die er ganz im Sinne der Freud´schen Sublimierung erzeugt.
Gaiggs Experiment ist als legitim anzusehen, da sie nichts anderes tut, als ihre subjektive Leseart bzw. die daraus resultierende kreative Umsetzung dem Publikum vorzuführen. Ein Akt, der nicht als Gewaltakt am Text selbst angesehen werden muss, sondern vielmehr als eine mögliche Form der Auseinandersetzung mit Bayers Text.