Walther Bensemann und die Viererkette

Walther Bensemann und die ViererketteWalther Bensemann ( 1873 – 1934) war einer der großen Pioniere des deutschen Fußballs. Ab 1889 propagierte er vor allem in Süddeutschland den “neumodischen” Sport, gründete als Schüler und Student zahlreiche Vereine und organisiere erste internationale Begegnungen. 1920 gründete er das Sprachrohr des Fußballs, den „Kicker“, 1933 wurde er von den Nazis ins schweizerische Exil gezwungen. Das Ideal des Fair Play, die Erziehung zum „Sportsman“ verband der vorurteilsfreie Weltenbürger Bensemann mit dem neuen Sport aus England. Bensemann polemisierte seinerseits gegen die kleinmütige »Boppelespolitik« der Verbände und antwortete zudem mit einer programmatischen Erklärung, in der er sein Verständnis einer fortschrittlichen Sportpolitik definierte: Es gehe darum, den »klaffenden Gegensatz der Stände« zu mildern, es gehe um sozialpolitische Aufgaben, und es gehe um »das Bemühen, die Begriffe der Freiheit, der Toleranz, der Gerechtigkeit im inneren Sportleben, des Nationalgefühls ohne chauvinistischen Beigeschmack dem Auslande gegenüber zu wahren«. Diese Programmatik sollte Bensemann in seiner Zeit als »Kicker«-Herausgeber später entschieden vertiefen. Bereits zu Zeiten Bensemanns wurde die Einführung des Profifußballs diskutiert. In den „Hannoveraner Beschlüssen“ isolierte sich der DFB, indem er zur Verteidigung des deutschen Amateurideals den Spielverkehr mit den Profiteams aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich verbot. Walther Bensemann trat für eine Lockerung der Amateurbestimmungen ein und auch in den anderen großen Streitfragen vertrat er eine pragmatische Position ohne ideologische Scheuklappen.

Die Weiterentwicklung des Fußballs, auch im Sinne Bensemanns, ermöglichte und forcierte  die im Jahre 1925 eingeführte, neue Abseitsregel. Zuvor wurde ausgehendend von einer 2-2-6-Formation das gegnerische Tor attackiert. Wegen der neuen Abseitsregel entstand das sogenannte WM-System, es wurde mit drei manndeckenden Verteidigern gespielt. Einen schweren Rückschlag erlitt der Fußball 1934, als Italien, geprägt durch den Faschismus Mussolinis, als Vertreter des „rechten“ Fußballs mit übertriebener Härte, mit soldatischen Tugenden und Defensivfußball Weltmeister wurde. In den 50er Jahren spielten die Ungarn mit einer 4er-Abwehrkette und die Brasilianer führten bei der WM 1950 den Libero ein, der sich ballorientiert hinter seinen Verteidigern verschob. Ab 1970 wurde der Fußball immer mehr kultiviert. Individualisten wie Johan Cruyff oder Franz Beckenbauer dominierten die Fußballplätze. Spielmacher lenkten das Spiel und mit klugen Pässen in die Spitze wurden die Tore vorbereitet. Wurde der Spielmacher durch Manndeckung ausgeschaltet sanken die Chancen zum Torerfolg. Durch die Trennung von Offensive und Defensive blieb die Idee des Kollektivs auf der Strecke und oft entwickelte sich gegenseitige Schuldzuweisung, anstatt ganzheitlich an der Lösung eines Problems zu arbeiten.

Es folgte die große Zeit des Kollektiv-Fußballs. Der damalige Trainer Kiews und der UdSSR Walerij Lobanowski gilt als der Erfinder der europäischen Viererkette und des Fußballkollektivs. Verfolgt jeder Spieler eigene Interessen, ist es unmöglich, als Mannschaft erfolgreich zu spielen. Lobanowski forderte von seinen Spielern deshalb sich in den vorgegebenen Räumen zu bewegen, ihre entsprechenden Aufgaben zu erfüllen um dort ihre individuellen Stärken auszuspielen. Wie die UdSSR spielten auch die Niederlande unter Rinus Michels die Viererkette, die beiden Teams trafen sich 1988 in München im Endspiel um die Europameisterschaft. Die Niederlande siegten in einem hochklassigen Spiel mit 2:1. Die deutsche Nationalmannschaft verschlief die Entwicklung und ging 1998 mit Libero und einer 0:3 Niederlage gegen Kroatien im Viertelfinale unter. Weltmeister Frankreich agierte 1998 mit einer derart guten Viererkette, dass man dieses Turnier als den Durchbruch der Viererkette bezeichnet.

Im System der Viererkette sollte jeder Spieler über die ganze Bandbreite der fußballerischen Fähigkeiten verfügen, um es jedem zu ermöglichen, sich als gleichberechtigte Einheit in die Mannschaft einzubringen. Die einzelnen Mannschaftsteile interagieren und verschmelzen miteinander. Einzelkämpfer werden in dem System nicht mehr benötigt. Die beiden Innenverteidiger sollten neben Zweikampfstärke und Kopfballstärke vor allem die Abwehr organisieren und bei gelegentlichen Vorstößen den Angriff unterstützen. Der rechte und der linke Außenverteidiger verschieben bei Angriffen des Gegners in Richtung Ballnähe und machen im Kollektiv die Räume eng. Große Übersicht ist von allen vier Verteidigern gefordert. Zu den Hauptaufgaben der Außenspielern zählt die Unterstützung der Angriffsbemühungen über die Außenposition. Mit langen Sprints, bzw. Tempodribblings an der Außenline wird die gegnerische Mannschaft unter Druck gesetzt. In Ballbesitz schieben die Außenverteidiger automatisch in eine offensivere Position. Ohne permanente Kommunikation innerhalb der Viererkette und außerhalb mit den Spielern des Mittelfeldes ist ein erfolgreiches Spiel kaum möglich. Je nach eigenen Möglichkeiten und nach Spielstärke des Gegners wird die Viererkette mit einem oder zwei „Sechsern“ abgesichert. In der Formation mit einem „Sechser“ hat der jeweilige Außenverteidiger einen Mitspieler auf der Halbposition, mit dem er mit dem Innenverteidiger ein Abwehrdreieck bilden kann. Durch die Entwicklung zum “Hochgeschwindigkeitsfußball” wird die kreative Gestaltung für die Individualisten des Fußballs immer schwieriger, die physischen, technischen und mentalen Anforderungen stoßen an natürliche Grenzen.

Wie in der Gesellschaft so können sich im Fußball aus dem Kollektivgedanken desgleichen Nachteile ergeben. In der zwangshaft gelenkten Kollektivität ist, ohne Kommunikation einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv. Ohne die geniale Individualität von Messi, Ronaldo oder Drogba würde der Fußball stagnieren. Der Fußball benötigt selbstbewusste Spieler, die Verantwortung übernehmen und Initiative ergreifen um durch unerwartete Aktionen eine gegnerische Mannschaft zu überraschen. Aktuell kommen diese Spieler und Mannschaften in Europa aus den Niederlanden oder Spanien, diese Mannschaften spielen fortschrittlichen Fußball. Vielleicht kommt während der Europameisterschaft eine neue Mannschaft dazu.

Quellen: Davidstern und Lederball, Dietrich Schulze-Marmeling (Hg) – Spiel im Raum, Floriano Marziali, Vincenzo Mora


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