Wallraff ganz unkonzentriert

Erstellt am 13. Oktober 2011 von Newssquared @Oliver_schreibt

Wallraff ganz unkonzentriert

Viele richtige Fragen, kaum befriedigende Antworten. Dass eine Gesprächsrunde bei Anne Will alle Probleme des Zusammenlebens von Deutschen und Türken in 75 Minuten lösen würde, konnte niemand erwarten. Eine lebhafte Diskussion rund um Schleierzwang, Diskriminierung und schwierige Integration dafür um so mehr. Und wenigstens diese Minimalanforderung ist beim Talk zum Thema 50 Jahre Ali in Almanya – immer noch nix deutsch? maximal erfüllt worden.

Abseits von hoch emotionalen Wortwechseln sind es viele Knackpunkte, die sich die äußerst lebhafte Runde vornimmt. Eigentlich geht es um die Schuld für oftmals gescheiterte Integration, das Wort «Bildungsproblem» dürfte mindestens ein halbes Dutzend mal gefallen sein. Aber wer denn nun konkret in Sachen Bildung stärker in die Verantwortung genommen werden muss, darüber ist man sich in der Runde talkshowtypisch uneins.

Der Investigativjournalist Günter Wallraff sieht Wirtschaft und Politik rückwirkend als Minderleister, während Heinz Buschkowsky, seines Zeichens Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln, ganz konkret wird und junge Migrantenkinder am liebsten ganztags aus den Familien holen möchte und in Kindergärten und Schulen fürs Leben in Deutschland fit machen möchte. Er möchte «das Bildungssystem von den bildungsfernen Schichten abkoppeln». Kindergartenpflicht inklusive.

Streitpunkt Selbstbestimmung in Sachen Kopftuch

Und dann ist da noch eine hoch spannende Konfrontation: Lehrerseminarleiterin gegen ehemaligen Hauptschullehrer. Hier Özlem Nas, die aus eigener Überzeugung Kopftuch tragend Lehrern interkulturelles Verständnis in Seminaren näher bringt und dort der langjährige Pauker Wolfgang Schenk, der mit seinen alltäglichen Erfahrungen mit Diskriminierung und Schülergewalt andere Antworten auf aufmüpfige Schüler verlangt, als das Hinzuziehen von extra geschulten Experten. Der intellektuelle Punkt in dieser Frage geht an Nas, den Praxispunkt bekommt Schenk.

Wirklich kribbelig ist die Frage, wie heranwachsende muslimische Kinder sich kleiden sollten. Der Journalistin Güner Balci, die unlängst ein provokantes Experiment mit Thilo Sarrazin wagte und damit spektakulär scheiterte, sind Druck und Zwang generell und in religiös geprägten Familien besonders zuwider. Sie fragt Nas unumwunden, ob sie ihrer 13-jährigen Tochter erlauben würde, im Minirock über die Straße zu laufen. Nas verneint und führt die Gefahr an, dass sich sonst Pädophile von solch einem Aufzug quasi eingeladen fühlen könnten. Dabei entsteht ein ganz großer Fernsehmoment: Ihre Tochter sitzt offenbar im Publikum und versteht noch nicht so ganz, was da über sie und ihre Klamotten geredet wird.

In der Rückschau auf die genutzten oder verpassten Integrationsleistungen bleibt vor allem eine selbstkritische Erkenntnis des engagierten Pädagogen Schenk. Er gestand sich und seinen Kollegen den Fehler zu, in der Vergangenheit das Konzept des «Busing» nicht weiter verfolgt zu haben. Man hätte fremdsprachige Schüler aus Problembezirken konsequenter an andere Schulen mit weniger Migrantenanteil karren müssen. In der Theorie sicher eine denkbare Alternative zu Klassen mit 80 oder mehr Prozent Migrantenanteil, aber in der Praxis hierzulande nie umgesetzt.

Will konzentriert, Wallraff nicht, Fehler machen beide

Erstaunlich blass: Günter Wallraff. Er wirkt konfus und unkonzentriert, hopst von Höcksken auf Stöcksken, wie man in kleineren Teilen Deutschland sagen würde. Vor allem will er dauernd die positiven Seiten der vergangenen 50 Jahre voller Fehler und Missverständnisse im Zusammenleben zwischen Deutschen und Türken ansprechen. Der Chor bleibt dabei jedoch eher ein einzelner Bass, einer mit weißem Schnäuzer. Auch Anne Will springt ihm nicht bei, leistet sich aber trotz hoher Konzentration und großen Engagements mehrfach den Lapsus, das Thema mit bemüht profanen Anwürfen in Schwung bringen zu wollen.

Und dass es teilweise arg laut zugeht, ist den großen Konflikten geschuldet: Theorie und Praxis, Politiker und Macher, Religion versus Selbstbestimmung. Trotz der bisweilen erhöhten Lautstärke wird außergewöhnlich viel differenziert, was allerdings auch dazu führt, dass die Sendung bei gleichbleibendem Unterhaltungs- und Weiterbildungsfaktor noch gut und gern zwei Stunden hätte dauern können. Und das von einer Sendung aus dem Kreis der ARD-Rittern der Schwafelrunden zu behaupten, ist ja schon ein Fortschritt.

Bestes Zitat: «Wir haben uns eine heile Welt gebastelt: Alle sind fröhlich und tanzen Sirtaki.» (Heinz Buschkowsky hat etwas gegen die Verklärung von Multikulti.)

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«Anne Will» – Wallraff ganz unkonzentriert

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