Ein anderer, der mir begegnete, auch in der großen Stadt, wippte hin und her. Hospitalismus halt. Oder Hunger. Vielleicht auch beides. Oder wer weiß was, er sprach ja nicht. Er wisperte nur leise vor sich her. Gesund sah er auch nicht aus. Sicherlich hatte er mal ein Leben gehabt. Das was wir als Leben kategorisieren: Einen Job. Eine Frau. Zwei Frauen. Drei oder vier. Falls er anständig war hintereinander. Falls nicht - wer fragt heute danach? Mit ihm redet ja keiner. Und er vermutlich mit keinem. Heute ist er bloß noch das arme Würstchen, das am Parkrand wackelt. Vielleicht hatte er ja eine Eigentumswohnung oder aber er hat immer pünktlich seine Miete überwiesen. Gewisser Wohlstand, gesicherte finanzielle Verhältnisse. »Wenn alle Mieter so wären«, schwelgte sein Vermieter noch vor zehn Jahren. Aber was ist schon ein Jahrzehnt! Es passiert so viel so schnell. Vor zehn Jahren lebte ich noch in meiner ersten Ehe mit zwei Kindern. Und heute? Alles ist anders. Sicherlich war der wippende Mann früher mal in Italien oder an der Costa Brava oder noch weiter weg. Phuket? Lernte er da seine vierte Frau kennen? Was ich sagen will: Er hat wahrscheinlich nicht nur immer die Gosse gesehen. Tja, und dann war es irgendwann vorbei mit der Süße des Daseins. Keiner weiß warum. Er unter Umständen auch nicht mehr.
Und ich frage mich indessen, was muss mir noch widerfahren, dass es mir auch so ergeht? Das Leben ist zuweilen so schwer und die Erwartungen und die Hoffnungen und die Beziehungen und die Trennungen und die Neuanfänge und die Resignation und, ach, ich weiß nicht was noch. Alles geht so schnell. Alle wollen so viel. Veränderungen und Neuigkeiten erdrücken uns. Manchmal sind sie gar keine Neuigkeiten. Nur die Fortschreibung des globalen Wahnsinns. Und wir leben in einem wahnsinnigen System. Warum also nicht gleich selbst wahnsinnig werden? Privatleben sind heute auch morbide Angelegenheiten. Schnelllebigkeit auch hier. Vor zehn Jahren Ehe, dann wieder eine - wieder gescheitert, nicht besser gescheitert, wie Beckett sagte. Das ist überhaupt so ein tolles Zitat von ihm. Ich mag es. Aber in Wahrheit ist es so, dass jedes Scheitern schmerzt und man darüber wahnsinnig werden könnte. Gut, aber das vergeht, ich lebe ja noch und weine nichts hinterher. Aber wann man auf sein Leben zurückschaut, wenn man beobachtet, wohin es einen in zwanzig Jahren Erwachsenendasein trieb, wer darin eine Rolle spielte, wer verging, sich verflüchtigte, all die Fehler und Sternstunden, die Kinder werden groß und was einem alles so über den Kopf wächst. Gestern bayerische Provinz, dann die hessische und jetzt bald mal die Großstadt. Frauen, Freunde, Kinder. Und dann Geldsorgen mal hier, mal da. Immer ist irgendwas. Teenager machen einem auch Sorgen. Die allgemeine Lage auch, aber davon habe ich Abstand genommen. Ich kann den Untergang nicht aufhalten. Also niste ich mich in ihm ein. Das nenne ich Pragmatismus.
Wenn ich dann diese Leute sehe, die offenbar etwas durchgeknallt sind, dann wundere ich mich nicht. So ein normales Leben kann einen schon zu so einem Zeitgenossen machen. Ohne Probleme. Da ist echt nichts dabei. Man fällt so oft und rappelt sich wieder auf. Ich kenne das. Und dann frage ich mich: Meinst du, du kannst dich immer wieder aufrappeln? Oder ist irgendwann die Kraft alle? Die Lust? Oder brennt gar was durch? Wieso denn nicht? Keiner von uns sollte glauben, dass er nicht die Anlage dazu hätte. Vielleicht wird alles gut. Derzeit sieht es so aus. Aber es sieht öfter mal so aus. Aber das sind Scheißgedanken, die man nicht haben sollte, wenn es besser werden soll. Haben darf man sie, aber nicht aufschreiben. Es sieht also so aus. Punkt. Ich zweifle schon nicht mehr. Entschuldigung. Trotzdem kann ich mir natürlich vorstellen, dass ich auch mal so ende wie die Leute, die ihre Existenz mitten unter den Normalen fristen; den Normalen, ihr wisst schon, die die dauernd eilen, rennen, boulevardlesen, schnäppchenjagen und telefonieren, ganz viel telefonieren. Knallen die nicht auch durch? Auf ihre Art? Nach Art des Hauses gewissermaßen? System des Wahnsinns halt.
Neulich sah ich einen, der mit einem Haushaltsschurz, so wie ihn Omas früher getragen haben, über die Einkaufsmeile spazierte. Hinter sich zog er eine Einkaufstasche auf Rädern. Er hatte Dreitagebart und rot gefärbte Haare. Meine Güte, dachte ich mir, wenn es mich schon ereilt, dann bitte nicht so. Der Kringelmann hatte ja noch Würde. Der Schurz war hingegen nur lächerlich. Ich lachte nicht, denn wer weiß, was ihm widerfuhr. Und wer weiß, ob in zehn Jahren nicht Leute über mich spotten, wenn ich so dasitze und mit den Fliegen rede, die sich gerade über einen Brocken Hundescheiße hermachten. Zehn Jahre! Was sind schon zehn Jahre? Vor zehn Jahren war ich verheiratet und zwei Kinder spielten drüben im Kinderzimmer. So viel änderte sich und änderte sich erneut und ändert sich stetig. Da kann man echt durchdrehen. Konstanz täte auch mal gut. Stillstand wäre Fortschritt.
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