Heute ist Wahltag in den Niederlanden. Obwohl ich im Urlaub dort bin, habe ich vorübergehend Internet, um über den heutigen Wahlausgang und die kommende Regierungsbildung zu schreiben. Dieser Beitrag wird im Laufe des Tages und der frühen Nacht mehrfach aktualisiert.
12. September 2012, 07:15 Uhr: Auch an einem Wahltag ist der Kaffee die erste Tagespriorität. Ohne das schwarze Gold geht gar nichts. Zum fünften mal innerhalb von 10 Jahren gehen die Niederländer wählen, und zwar in der Hoffnung, endlich eine stabile Regierung zu bilden. Die Ausgangssituation ist problematisch. Zwischen der rechtsliberalen VVD von Ministerpräsident Mark Rutte und den Sozialdemokraten von Newcomer Diderik Samsom scheint es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu geben. Vor drei Wochen war noch der sozialistische Spitzenkandidat Emile Roemer als Favorit gehandelt worden, aber das habe ich schon damals nicht geglaubt. Wie ich es befürchtet habe, verloren die Sozialisten in den letzten Wochen massiv an Zustimmung, einfach weil niemand linke Experimente mag. Der Sozialdemokrat Samsom legte zwar eine tolle Wahlkampfshow hin, aber inhaltlich legte er sich wenig fest, einfach um sich alle Optionen offenzuhalten. Er möchte nämlich gern regieren, aber beim jetzigen Stand der Prognosen kann er das nur entweder mit Mark Rutte und einer weiteren Partei, oder mit Emile Roemer, wobei dann aber mindestens zwei weitere Partner benötigt werden, was sehr unwahrscheinlich ist. Die Vermutungen nach der letzten Debatte gestern Abend gehen dann auch dahin, dass die rechtsliberalen wie vor zwei Jahren mit einem leichten Vorsprung die Wahlen für sich entscheiden werden. Aber auch sie wären dann auf die fast verhassten Sozialdemokraten angewiesen. Eine andere stabile Mehrheit ist kaum denkbar.
08:00 Uhr: Das morgentliche Radioprogramm behandelt fröhlich und unterhaltsam die letzten Aussagen aller Spitzenkandidaten und telefoniert nacheinander mit ihnen. Ausgerechnet mit dem Populisten Geert Wilders wird das längste Interview geführt, und er darf auch seine Schmutzcampagne gegen die Sozialdemokraten im Radio fortsetzen. Gestern bei der Abschlussdebatte hatte Wilders die sozialdemokratische “Partij van de Arbeit” als “Partij van de Arabieren”, also als Partei der Araber bezeichnet. Die Spitzenkandidaten wirken heute morgen sehr müde. Neben relativ ernsthaften Debatten mussten sie in den letzten Wochen unendlich viele sinnlose Spielchen und andere unpolitische Unterhaltung über sich ergehen lassen. Nicht der Inhalt entscheidet über den Wahlausgang, sondern immer mehr das Auftreten, wie es die ehemalige grüne Spitzenkandidatin, die von mir sehr geschätzte Femke Halsema einmal ausgeführt hat.
08:30 Uhr: In den Niederlanden und dem Rest von Europa wartet man mit Spannung auf das urteil des Bundesverfassungsgerichts zum europäischen Stabilitätsmechanismus. Wenn das Urteil tatsächlich um 10 Uhr verkündet wird, wird der Tenor live im niederländischen Radio übertragen. Deutschland gilt als starker Bundesgenosse der jetzigen Regierung Rutte, die hofft, das Bundesverfassungsgericht wird dem ESM nichts in den Weg legen. Rutte und der christdemokratische Regierungspartner Sybrand Buma haben gestern den linken Parteien die Frage gestellt, ob sie in Europa mit den nordischen Staaten und Deutschland gegen die faulen und schlecht wirtschaftenden Eurostaaten unter Führung Frankreichs für die Sparpakete eintreten wollen, oder ob sie mit den südlichen Euroländern mehr Geld ausgeben und Jobs in den Niederlanden gefährden wollen. Es war eine Debatte hart an der Grenze des tolerierbaren, gespickt mit Vorurteilen gegen Südeuropa. Mit diesem Kurs wollen die Rechtsliberalen der Freiheitspartei von Geert Wilders Stimmen abwerben. Experten gehen aber davon aus, dass Wilders einige Sitze mehr erhält, als jetzt in den Prognosen erscheinen, weil viele vorher nicht zugeben, dem Rechtspopulisten ihre Stimme gegeben zu haben.
09:30 Uhr: Es ist ein regnerischer Tag, viel kühler als die ganzen letzten 2 Wochen. Die Wahllokale sind seit mehr als einer Stunde geöffnet. Aber derzeit schaut alles nach Karlsruhe. Ich glaube nicht, dass das Bundesverfassungsgericht die europäischen Verträge verbieten und damit der Entdemokratisierung Einhalt gebieten wird. Mehr als eine Tasse Kaffee trinke ich nicht, ich bin zu nervös. Auch jetzt laufen in der Werbung im Radio noch Wahlwerbespots, auch heute geht die Campagne noch weiter. Der sozialistische Spitzenkandidat Roemer hat vorgeschlagen, Wahlprognosen kurz vor der Wahl zu verbieten. Er vermutet, meiner Ansicht nach ganz richtig, dass viele noch unentschlossene Wähler, die man hier schwebende Wähler nennt, sich von den Prognosen beeinflussen lassen. Da man ohnehin nichts über den Wahrheitsgehalt solcher Prognosen aussagen kann, könnte man also mit einer gefälschten Prognose eines großen Wahlforschungsbüros einen bestimmten Wahlausgang begünstigen. Die anderen Parteien wollen von diesem Vorschlag nichts wissen, sie tun ihn als Reaktion eines letztlich doch geschlagenen ab. Wie immer werden die Sozialisten bei der Regierungsbildung abseits stehen, obwohl sie die einzige Alternative zur jetzigen Regierungspolitik der Kürzungen und des freien Marktes bieten. Eine Alternative übrigens, die vom unabhängigen zentralen Planungsbüro, das alle Wahlprogramme auf ihre Durchführbarkeit hin überprüft, als machbar bezeichnet wurde.
10:15 Uhr: Erleichterung in Regierungskreisen, nachdem der Tenor des BVerfG-Urteils zum Stabilitätsmechanismus live im Radio lief. Allen ist klar: Die Verträge können ratifiziert werden. Über mögliche Bedingungen weiß noch niemand etwas, weil die Verkündung des Urteils extrem lange dauert und extrem kompliziert ist. Ich jedenfalls finde es sehr interessant, dass der Rundfunk hier live aus dem Gericht berichtet.
10:45 Uhr: Eine Freundin hat für uns ein paar Flaschen Cola gekauft und bringt sie uns. Sie habe gerade ihre Stimme abgegeben, erzählt sie. Ich weiß, dass sie für Geert Wilders stimmte. Ich frage sie, warum sie für den Rechtspopulisten gestimmt hat. Ihre Antwort: “Wenn es so weiter geht in Europa, bekommen vor allem Polen die Arbeitsplätze in unserem Land. Wenn diese Jobs erst einmal an alle Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen verteilt sind, und wenn dann noch welche übrig sind, habe ich nichts gegen die Polen in unserem Land.” Sie ist gegen die Aktion von Wilders, sich öffentlich über gesellschaftliches Fehlverhalten von Polen zu beschweren, es geht ihr nur darum, die Arbeitsplätze zuerst an Niederländer zu geben. So verengt blicken vermutlich nicht wenige auf die Politik des Rechtspopulisten. Vor 20 Jahren hätte ich jetzt den Kontakt zu unserer Freundin abgebrochen, aber heute differenziere ich mehr. Sie ist nett und freundlich, auch wenn sie Wilders ihre Stimme gibt. Ein Dilemma, vor das mich einige Niederländer stellen. Aber ich sage deutlich, dass Wilders meiner Ansicht nach faschistische Züge trägt, obwohl ich solche Vergleiche normalerweise etwas verkürzt finde. Unsere Freundin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie hält nicht viel von Politik, will aber ein Zeichen gegen den Ausverkauf an Europa setzen.
11:30 Uhr: Das Frühstück ist beendet, im Radio debattiert man über den Sinn und den Unsinn von Wahlprognosen. In den Niederlanden sind die Prognosen der verschiedenen Institute sehr unterschiedlich. Das Wahlergebnis selbst hat meistens auch nicht mehr besonders viel mit den letzten Prognosen zu tun, nur Tendenzen sind erkennbar. Alle Prognosen weisen auf die Wahrscheinlichkeit eines Kabinetts hin, in dem beide großen Parteien, Sozialdemokraten und Rechtsliberale, vertreten sein müssen, zusammen mit der linksliberalen D66, ein sogenanntes lila Kabinett, wie es in den neunziger Jahren schon einmal bestand. Allerdings sind die Parteien programmatisch recht weit auseinander. Von einem besonders stabilen Kabinett würde ich dann nicht sprechen. Morgen werden wir mehr wissen, dann beginnt die Regierungsbildung, diesmal ganz anders als sonst, ganz ohne die Beteiligung der Königin, was bislang undenkbar schien. Da ihre Teilnahme aber auf Gewohnheitsrecht basierte, konnte man die Prozedur der “Formation” leicht abändern.
14:00 Uhr: In einigen Wahllokalen wird ein neuartiger Stimmzettel getestet, der auch für Blinde und Sehbehinderte zu bedienen sein soll. Auch ein Zettel für Analphabeten, der nur die Photos der Kandidaten enthält, wird getestet. Von der in Deutschland üblichen Wahlschablone habe ich hier noch nichts gehört, auch blinde Freunde aus den Niederlanden nicht.
14:30 Uhr: Die Sonne scheint endlich. Ich kenne diesen Ort seit 30 Jahren und weiß, dass sich das Wetter um 11, um 14 und um 17 Uhr ändert, falls es sich ändert. Meine Wahlstimmung wird allerdings nicht besser. Die Wahlbeteiligung scheint heute etwas niedriger zu sein als 2010, wo insgesamt noch 75 % der Wähler ihre Stimme abgaben. Auch das BVerfG-Urteil macht mir Bauchschmerzen. Ist es wirklich das Ende unserer Demokratie? Bedeutet es, dass der Bundestag kein Mitspracherecht oder keine Souveränität über den Haushalt mehr hat? Ist dann eine Wahl überhaupt noch notwendig?
15:30 Uhr: Heute Abend werden wir bei Freunden die Wahlergebnisse abwarten und vermutlich über die Zukunft debattieren. Es ist der erste Wahltag, den ich hier erlebe, und ich bin sehr gespannt.
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